28.

[199] Gewiß ist es schon manchem begegnet, der sich während eines längeren Lebens als Schriftsteller betätigt hat, daß er, wenn er nicht über die Zeit der Entstehung seiner Werke selbst, sondern über die Entstehung der Pläne zu ihnen Rechenschaft geben soll, von sich sagen muß: die letzten sind eigentlich die ersten gewesen. Soweit ich mich noch in ganz schattenhaften Erinnerungen meiner frühesten Schriftstellerprojekte entsinnen kann, finde ich mich in der großen lustigen Diele meines Elternhauses in Heidelsheim sitzen und in ein Heft, das ich mir als ein stattliches Buch vorstellte, Schriftzüge in Gestalt gedruckter Buchstaben eintragen. Einen Zusammenhang hatten freilich, soweit ich mich ihrer entsinnen kann, diese Schriftzüge nicht; aber ich stellte mir jedesmal einen solchen unter ihnen vor. Das früheste Thema, das mir vorschwebte, war eine allgemeine Geschichte der Religionen. Herauszubringen, was an den verschiedenen Religionen gemeinsames sei, das schien mir eine Frage, deren Erforschung wohl der Mühe wert wäre. Später trat mir dann auch die andere vor Augen, wie die Weltgeschichte im allgemeinen verlaufen sei, und noch manche weitere, die in den Schatten unbestimmterer Vorstellungen zurücktreten. Wenn ich näher sagen sollte, was diese phantastischen Pläne allenfalls zusammenhielt, ohne daß ich mir dessen irgendwie deutlich bewußt wurde, so ist es der Gedanke eines vergleichenden Studiums gewesen, bei dem die geistigen Erzeugnisse des Menschen und unter ihnen die höchsten und geheimnisvollsten eine vorwiegende Rolle spielten. Daß der unreife Knabe, der diese unleserlichen Manuskripte zutage förderte, in einer pfarramtlichen Umgebung aufwuchs, mochte freilich an dieser Auswahl nicht unbeteiligt gewesen sein. Aber wenn ich solche Erzeugnisse[199] von meinem späteren Standpunkte aus beurteilen sollte, so müßte ich sie eigentlich völkerpsychologische Versuche nennen, die freilich nichts zustande brachten, die aber doch das Bestreben verrieten, nach dieser Richtung einmal irgend etwas zu unternehmen. Wenn ich jedoch mit diesen frühesten Anwandlungen die ersten Pläne vergleiche, die in mir zur Ausarbeitung einer experimentellen Psychologie aufgetaucht sind, so liegen diese letzteren jedenfalls sehr viel später, und sie liegen dem Zeitpunkt weit näher, wo sie einige Aussicht hatten, Wirklichkeit zu werden.

Mag ich nun aber auch bald gelernt haben, solche einem unerreichbaren Wolkenkuckucksheim angehörige Gedanken zurückzustellen, so ist mir, als die Möglichkeit, sich mit völkerpsychologischen Problemen zu beschäftigen, an mich herantrat, das Schicksal beschieden gewesen, daß dies zu einer Zeit schon geschah, als ich dazu noch lange nicht befähigt war. Diese Zeit war dazu freilich verführerisch genug. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann eine ziemlich reichliche Literatur sich anzuhäufen, die sich teils in populärem Interesse mit den allgemeinen Fragen der Kultur- und Sittengeschichte beschäftigte, teils auch im Verein mit der damals sich ausbildenden Anthropologie direkt einer allgemeinen psychologischen Entwicklungsgeschichte der Völker zugewandt war. Um das Jahr 1860 und in den folgenden Jahren erschienen dann die beiden verdienstvollen Werke, von denen man sagen darf, daß sie in Deutschland die Völkerpsychologie vorbereitet haben: 1859 der erste Band von Theodor Waitz' Anthropologie der Naturvölker, 1860 der erste Band der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft von Lazarus und Steinthal. Von diesen Werken suchte die Anthropologie von Waitz zusammen mit ihren fünf weiteren, durch Gerland ergänzten Bänden eine Kulturgeschichte der primitiveren Völker unter Bearbeitung[200] eines reichen Quellenmaterials zu geben, während die Zeitschrift von Lazarus und Steinthal zum erstenmal der Veröffentlichung einzelner Studien aus dem Gebiete der Völkerpsychologie Unterkunft bot. Die beiden letzteren Autoren sind es auch gewesen, die zuerst der Völkerpsychologie ihren Namen gaben. Er hat seit dem eine ziemlich weite Verbreitung gefunden, wobei er dann freilich zum Teil in verschiedenen Bedeutungen gebraucht worden ist. Namentlich pflegt man mit ihm nicht selten innerhalb der politischen Literatur einen Begriff zu bezeichnen, der sich auf den geistigen Charakter der verschiedenen Kulturvölker in ihrem Verhältnis zu einander bezieht. Lazarus und Steinthal selbst haben von Anfang an dem Wort einen viel allgemeineren Inhalt gegeben, diesen aber im Eingang ihrer Zeitschrift zunächst nur als ein Problem der Zukunft hingestellt, das sie in nahe Beziehung zu der bisherigen Philosophie der Geschichte brachten, und das namentlich durch Steinthal in einzelnen sprachwissenschaftlichen und mythologischen Arbeiten behandelt wurde.

Als ich ebenfalls um das Jahr 1860 den Gedanken faßte, der experimentellen Psychologie, die sich ihrer ursprünglichen Absicht wie den ihr zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln gemäß auf die Tatsachen des individuellen Seelenlebens zu beschränken hatte, eine Art von Oberbau beizufügen, der sich, von diesen Tatsachen als unentbehrlichen Grundlagen ausgehend, die Erscheinungen des menschlichen Zusammenlebens, namentlich in ihren Anfängen, zur Aufgabe setzen müsse, da erschien mir nun bald diese Aufgabe als die höhere und in Wahrheit als die eigentlich abschließende der Psychologie. Dennoch hatte ich zu nächst nicht die Absicht, auf dieses Gebiet jetzt schon überzugehen. Vielmehr gedachte ich, für jetzt die Psychologie höchstens in ihrem gewöhnlichen Umfange und auch in[201] diesem nur in den dem Physiologen naheliegenden Gebieten der Empfindung und Sinneswahrnehmung zu behandeln. Ich hatte mir für ein solches Buch von mäßigem Umfang zuerst etwa den Titel »Sinne und Seele« gedacht. Gustav Theodor Fechners »Elemente der Psychophysik«, die ebenfalls in dem für die Geschichte der neueren Psychologie bedeutungsvollen Jahr 1860 erschienen, erweckten in mir dann die von Fechners eigener Auffassung abweichende, aber, wie ich glaube, mit Ernst Heinrich Webers, des ersten Begründers der Psychophysik, im Grunde übereinstimmende Meinung, daß es sich bei dem berühmten, von Fechner mathematisch formulierten psychophysischen Gesetz um nichts anderes als um ein allgemeines Prinzip der Relativität der Sinnesempfindungen handle. Durch seine klassische Ausarbeitung der Methoden für die Untersuchung dieses Gesetzes hatte daher nach meiner Überzeugung Fechner selbst nicht das, was er beabsichtigte, wohl aber ein für die nächsten Aufgaben der Wissenschaft wichtigeres Ziel erreicht. Nicht ein Grundgesetz für das Verhältnis der körperlichen zur geistigen Welt hatte er gefunden, dagegen in jenem Prinzip der Relativität eine Gesetzmäßigkeit von hohem Wert, die sich über das gesamte geistige Leben und durch den Einfluß desselben auf die Erkenntnis der Außenwelt wahrscheinlich weit über dessen Grenzen hinaus erstreckte. Und lag es nicht nahe, vorauszusetzen, daß nach anderen Richtungen des Seelenlebens noch weitere Gesetze sich finden ließen, wie ja solche in manchen in das Gebiet der Sinnesphysiologie hereinreichenden Erscheinungen vorkommen? Ja, ich darf wohl sagen, für jeden, der in jenen Tagen der Psychologie nicht in ihrem bisherigen Lehrbetrieb von seiten der Philosophen, sondern als einem neuen großen Forschungsbereich gegenübertrat, mußte schon die Tatsache gesteigerte Hoffnungen für die Zukunft erwecken, daß hier[202] zum erstenmal das mächtige Werkzeug der Mathematik sich nicht in einer imaginären Phantasmagorie erschöpfte, wie in Herbarts Mechanik der Vorstellungen und in ähnlichen leeren Spekulationen vergangener Tage, sondern daß sie in dieser neuen Psychologie zu einem wirklich fruchtbaren Werkzeug der Forschung geworden sei, so daß sie sich vielleicht in nicht ferner Zukunft den exakten Wissenschaften ebenbürtig an die Seite stellen könne.

Das waren wohl übertriebene Hoffnungen; aber fördern konnten sie immerhin den Anfänger auf dem begonnenen Wege, wenn er auf diesem ohne weitere Schwankung fortgeschritten wäre. Doch mit diesen Gedanken kreuzten sich andere, die unabhängig von ihnen von länger her sich an die Pläne einer künftigen Psychologie geknüpft hatten und die nun in so manchem, was in der gleichen Zeit den Blick auf sich lenkte, neue Nahrung fanden. Daß die Beziehungen des menschlichen und des tierischen Seelenlebens dazu gehörten, das braucht für die Zeit, in der die Arbeiten Darwins eben ans Licht getreten waren, nicht erst erwähnt zu werden. Die Debatten über die Darwinsche Theorie und der Kampf mit ihren Gegnern bewegten in jenen Tagen die wissenschaftliche Welt. Wallace, Moritz Wagner, später Weismann, schlugen zum Teil neue eigene Wege ein; allen voran aber suchte Ernst Häckel die vollen Konsequenzen aus Darwins Sätzen zu ziehen, während andererseits der Entwicklungsgedanke noch bei manchen sonst vorurteilslosen Naturforschern einem gewissen Widerstand begegnete, wie sogar das Beispiel Rudolph Virchows zeigt, den, so sehr er dem Gedanken der Entwicklung zugeneigt war, doch die Form, in der ihn Darwin mit Hilfe seines Prinzips der natürlichen Zuchtwahl verwendet hatte, zeitlebens widerstrebte. Unter diesen Umständen war es denn auch einigermaßen begreiflich, daß, einen so großen Anstoß die Darwinsche Theorie in diesen[203] Anfängen auf die allgemeinen Naturanschauungen und die morphologischen Studien über die Organismen ausübte, doch gerade die Tierpsychologie kaum einen erheblichen Fortschritt über den bisherigen Zustand bot. Sie hat erst in erheblich späterer Zeit ihre Impulse von dem in Darwins Theorie zum Ausdruck gekommenen Entwicklungsgedanken empfangen. Ehrenbergs großes Infusorienwerk, die Arbeiten Johannes Müllers u.a. über die Metamorphosen und den Generationswechsel waren lange vorangegangen. Erst um die Wende des Jahrhunderts, als die unbedingte Nachfolgeschaft Darwins bereits im Rückgang begriffen war und andere Gestirne, wie neben De Vries mit seiner Mutationslehre Mendels Vererbungsversuche, Einfluß gewannen, begann jener neue Aufschwung der Tierpsychologie, der gegenwärtig, namentlich auch in seiner Ausdehnung auf die niedere Organismenwelt und in der psychologischen Würdigung der Erscheinungen, seinen Höhepunkt wahrscheinlich noch nicht erreicht hat. Immerhin ließ sich da und dort schon in den Anfängen der Darwin'schen Theorie der leise Nebenton einer unter der Führung des Entwicklungsgedankens notwendig gewordenen gründlichen Revision der Tierpsychologie vernehmen. Begreiflich daher, daß auch ich in jenen Tagen den Gedanken nicht abweisen konnte, womöglich den Plan einer Entwicklung des seelischen Lebens an der Hand der einfachen Vorgänge der Empfindung und Wahrnehmung zu einer allgemeineren, die Entwicklung in der Tierreihe umfassenden Untersuchung zu erweitern.

Aus diesem Gedanken heraus ist schließlich der Titel der 1863 erschienenen »Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele« entstanden. Hier zeigte sich freilich, daß der Zustand der psychologischen Forschung gerade im Gebiet der Psychologie der Tiere noch viel zu sehr vernachlässigt war, als daß ein solcher Plan mit einiger Aussicht auf Erfolg[204] durchführbar gewesen wäre. Zwar stand die menschliche Seele auch auf dem Titel voran, gleichwohl war in dem Werk selbst die seelische Entwicklung im Tierreich so nebensächlich behandelt, daß das Ganze auf den Wert einer vergleichenden Psychologie keinen Anspruch erheben konnte. Darum besaß jener Titel kaum eine andere Bedeutung als die eines Bekenntnisses zur Entwicklungstheorie im Sinne der innerhalb der jüngeren Generation allgemein zur Herrschaft gelangten Anschauungen Darwins und seiner Schule.

Ganz anders lag die Sache bei einem weiteren Bestandteil, der sich im Laufe der Arbeit mehr und mehr in den Vordergrund drängte. Es war der alte Gedanke einer vergleichenden Psychologie der Rassen und Völker, der in mir wieder auftauchte und mich unversehens dazu antrieb, der ursprünglich auf der Physiologie der Sinne aufgebauten Darstellung einen zweiten Band beizufügen, der in seinem Hauptinhalt den völkerpsychologischen Fragen gewidmet war. Je mehr ich mich in diesen Gegenstand vertiefte, um so mehr bemächtigte sich jedoch meiner die Überzeugung, daß er eigentlich der Hauptzweck des Werkes sein müßte, und diese objektive Wertschätzung begann sich unwillkürlich in eine subjektive umzusetzen. Als ich die Arbeit abschloß, war ich geneigt, diese völkerpsychologischen Erörterungen für das Beste zu halten, was ich geleistet hatte. Das war nun freilich ein großer Irrtum, wie ich im Laufe der nächsten Jahre bald genug einsah. Zu einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit war die Zeit wahrlich nicht reif, und meine eigenen Kräfte waren zu einer solchen noch weniger zureichend. Ich begann gerade diesen Teil des Werkes schwer zu bereuen und nahm mir vor, wenn jemals eine zweite Auflage nötig werden sollte, ihn gründlich umzuarbeiten. Aber eine zweite Auflage blieb aus. Mochte in dem sonstigen Publikum das Buch einige freundlich gesinnte[205] Leser gefunden haben, die Philosophie von Fach lehnte es einmütig ab, sie betrachtete es, wie ein strenger, aber nicht ungerechter Kritiker, nämlich mein späterer Kollege Moritz Wilhelm Drobisch, sich ausdrückte, als einen »übereilten und verfehlten Versuch«. Als dann endlich, zum Teil wohl infolge des Wechsels der Verleger, das Buch nach 30 Jahren dennoch eine zweite Auflage erlebte (1892), war ich nicht zweifelhaft, was zu tun sei: ich unterdrückte diese völkerpsychologische »Jugendsünde«, wie ich den zweiten Teil nannte, um in den nun folgenden ziemlich häufigen weiteren Auflagen das Werk möglichst zu einer einigermaßen populären Einführung in die neuere experimentelle Psychologie umzugestalten, in der zugleich einige sie berührende philosophische Fragen behandelt wurden, für die in der mittlerweile erschienenen physiologischen Psychologie wegen ihres strengeren Charakters kein geeigneter Platz war.

Doch die Völkerpsychologie selbst hatte ich trotz der Unterdrückung dieses ersten Versuchs nicht aus dem Auge verloren. Ich griff zu einem Mittel, das ich auch bei anderen Arbeiten als ein nützliches erkannt hatte, um eine in Vorbereitung befindliche Arbeit allmählich auszureisen. Dieses Mittel war die Wahl zum Thema akademischer Vorlesungen. Ich betrachte es als einen großen Vorzug des akademischen Lehrberufs, daß er in der Form, in der er in Deutschland zur Ausbildung gelangt ist, nicht oder wenigstens nur teilweise an bestimmt abgegrenzte Lehrstoffe bindet, sondern eine freie Wahl möglich macht, bei welcher der Dozent ebenso auf sein eigenes Bedürfnis, zu lernen, wie auf das seiner Zuhörer Rücksicht nehmen kann. Ich habe von dieser Feuerprobe des mündlichen Vortrags bei fast allen meinen späteren philosophischen Schriften, am ausgiebigsten aber bei der Völkerpsychologie, Gebrauch gemacht. Zum erstenmal las ich über sie im Sommer 1875 in Zürich. Dann folgten[206] in einer Reihe von Jahren im Wechsel mit anderen Themen in Leipzig kürzere Vorlesungen über einzelne Teile des Gebiets. Diese Serie fand ihren Abschluß im selben Jahr 1900, in welchem der erste Band des endgültigen Werkes erschien. Das Ganze sollte, von dem Untertitel einer »Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte« ausgehend, drei Bände umfassen. Als im Jahr 1920 der letzte Band erschien, war es auf zehn Bände angewachsen. Wenn ich es eine »Untersuchung« genannt habe, so mag darin eine zureichende Entschuldigung dafür liegen, daß die Ausführung so weit über die ursprüngliche Absicht hinausgegangen ist. Einer bevorstehenden Untersuchung bestimmte Grenzen zu setzen, ist schwer, vor allem da, wo die Probleme derart im Fluß befindlich sind, wie in den Gebieten der Völkerkunde und der Geschichte. Gleichwohl entsprechen die sechs Bücher, Sprache, Kunst, Mythus und Religion, Gesellschaft, Recht und Kultur, in die nunmehr das Werk gegliedert ist, insofern wohl immer noch der Dreiteilung in Sprache, Mythus und Sitte, als das erste Buch seine Stelle bewahrt hat, das zweite und dritte am nächsten an den Mythus, endlich das vierte bis sechste an die Sitte sich anschließen. Sie sind diejenigen Gebiete, die für die psychologische Betrachtung die Zentralprobleme enthalten.

Quelle:
Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 199-207.
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