[9] Mehr als andere Menschen hat wohl derjenige, der sich anschickt, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben, den[9] Eindruck, jeder Mensch führe nicht ein einziges Leben, sondern mehrere nebeneinander, die unter Umständen weit auseinander gehen. Inwieweit dies geschieht, das ist aber, wie ich bemerkt zu haben glaube, in hohem Grad von Zeitumständen abhängig. Im Jahre 1848 und wohl auch wieder bei Beginn des letzten Krieges politisierte bei uns jedermann; in der langen Friedenspause, die vorangegangen war, hatte sich eine große Zahl der Deutschen der Teilnahme an den politischen Angelegenheiten so sehr entfremdet, daß für sie diese Seiten des öffentlichen Lebens eigentlich nicht existierten. So erinnere ich mich, daß mir einmal ein in seiner Wissenschaft hoch angesehener und durch die Vielseitigkeit seiner Studien berühmter physiologischer Fachgenosse sagte, er habe seit vielen Jahren keine Zeitung mehr angesehen, weil man aus dieser Art der Literatur doch nichts lernen könne. Wer sich die Zusammensetzung der deutschen Parlamente von 1848 und von 1914 vergegenwärtigt, der kann darin wohl eine indirekte Bestätigung dieser individuellen Erfahrung erblicken. Das Parlament der Paulskirche ist ohne Zweifel übertrieben, aber für den allgemeinen Charakter dieser bedeutsamen Versammlung wohl zutreffend von manchen das Professorenparlament genannt worden; für den deutschen Reichstag von 1914 würde sicherlich niemand auf diesen Namen verfallen, eher würde man ihn vielleicht das Parlament der konfessionellen und sozialen Parteien, hinsichtlich der allgemeinen vaterländischen Angelegenheiten aber ein relativ unpolitisches Parlament nennen können. Wenn heute der Ruf nach einer staatsbürgerlichen Erziehung für die Zukunft in Deutschland allgemein geworden ist, so darf man darum hierin wohl ein Zeichen für die allmählich unter den Gebildeten ziemlich allgemein gewordene Überzeugung erblicken, daß wir in den letzten Krieg mit einer parlamentarischen Volksvertretung eingetreten[10] sind, die nach einer andern Seite wie das Frankfurter Professorenparlament, aber an sich nicht minder eine ungünstige für die politische Lage gewesen ist. Für andere Länder gilt das wohl nicht in gleichem Maße, und besonders die französische Deputiertenkammer repräsentiert in dieser Beziehung einen unverkennbaren Kontrast gegenüber dem verflossenen deutschen Reichstag. Aber es ist, wie ich glaube, nicht bloß eine nationale Eigentümlichkeit, die neben dem überhandnehmenden Spezialistentum die deutsche Gelehrtenwelt und einen nicht unbeträchtlichen Teil der Gebildeten überhaupt der Teilnahme an dem politischen Leben entfremdet hatte, sondern wie in anderen Dingen so hängt auch diese Schattenseite des deutschen Charakters mit einer Lichtseite zusammen. Sie besteht in jener anerkannten Vortrefflichkeit des deutschen Beamtenstandes, die ihren glänzendsten Ausdruck in der Stellung fand, die ihm Hegel in seiner Rechtsphilosophie als dem das gesamte öffentliche Leben führenden und organisierenden anweist. In anderen Ländern empfängt die Volksvertretung einen nicht geringen Teil der von ihr ausgehenden politischen Impulse durch ihr Verhältnis zu der Regierung und ihren Organen. In den deutschen Kleinstaaten der Vergangenheit bildeten die Beamten einen wesentlichen Teil der Landtagsdeputierten, unter denen z.B. in Baden früher die Verwaltungsbeamten neben einigen Gutsbesitzern die konservative, die richterlichen neben einigen Rechtsanwälten, Landwirten und Weinhändlern die liberale Partei konstituierten. Dabei muß ich übrigens bemerken, daß die meisten Weinhändler, zu denen ich später während einiger Jahre selber gehörte, nicht solche von Beruf waren, sondern daß dieser Name eine Kategorie bürgerlicher Berufe deckte, die nach dem alten badischen Wahlgesetz zur Wählbarkeit in den Landtag berechtigt waren. Für diesen Beruf genügte nämlich die Erwerbung eines[11] Weinpatents, von dem aber niemand Gebrauch zu machen gezwungen war. Fast alle offiziellen Weinhändler der Ständekammer waren daher überhaupt keine Weinhändler.
Diese Verhältnisse des Verfassungslebens der deutschen Kleinstaaten sind mit unbedeutenden Abänderungen in älterer Zeit wohl überall die nämlichen gewesen, und, was für die allgemeinen Kulturzustände vielleicht das wichtigere ist, sie bereiteten sich bereits auf Schule und Universität vor. Auf den Universitäten herrschte als eine Tradition aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts das Verbindungswesen mit seiner Spaltung in Landsmannschaften oder Korps und Burschenschaften, von denen die Korps zu einem nicht geringen Teil das künftige Beamtentum, die Burschenschaften mit den in ihnen nachwirkenden Überlieferungen der Freiheitskriege das liberale Bürgertum repräsentierten, und es geschah nicht selten, daß die Zugehörigkeit zu einer dieser Klassen vom Vater auf den Sohn sich vererbte, was denn auch eine gewisse Erblichkeit der Berufe mit sich führte. Repräsentierte dabei das Korps die konservative, die Burschenschaft die fortschrittliche Richtung, so war es übrigens selbstverständlich, daß diese Unterschiede nicht sonderlich tief gingen und daß sie mit der allgemeinen Gleichgültigkeit der Gebildeten gegenüber dem politischen Leben ziemlich gleichen Schritt hielten. Immerhin herrschte in Baden als dem ältesten der deutschen konstitutionellen Staaten im ganzen eine etwas größere politische Regsamkeit als anderwärts, und sie belebte sich namentlich in den revolutionären Bewegungen der Jahre 1848 und 1849, die überhaupt einen Wendepunkt bezeichnen, mit dem die Herrschaft der Korps im akademischen Leben allmählich an die Burschenschaften überzugehen anfing. Charakteristisch für diesen Übergang war es, daß in Heidelberg einige Mitglieder des Korps der Schwaben im Jahre 1848 aus dieser Stammschule des badischen Beamtentums[12] unter der Führung des späteren berühmten Klinikers Adolf Kußmaul austraten, um eine von da an einflußreiche und politisch zum erstenmal wieder rührige Burschenschaft zu gründen.
Anderwärts hat sich diese Zusammengehörigkeit von Korpsverband und politischer Laufbahn noch länger erhalten, und besonders in Preußen ist bis in die letzten Jahre die Tradition lebendig geblieben, für die staatsmännische Laufbahn sei die ehemalige Zugehörigkeit zu gewissen Korpsverbindungen ein notwendiges Erfordernis, weshalb denn auch von den deutschen Diplomaten an auswärtigen Höfen die Rede ging, viele von ihnen seien ebenso durch ihre hervorragenden Saloneigenschaften wie durch ihre politische Minderwertigkeit ausgezeichnet. Das Grenzland Baden machte hier immerhin eine gewisse Ausnahme. Es hatte in Männern wie Nebenius, dem Erfinder des Zollvereins, Idstein, Mathy, Bassermann, Welcker u.a. eine nicht geringe Zahl bedeutender Politiker hervorgebracht, und noch in anderen Beziehungen bewies die Bevölkerung des Landes eine politische Reise, die vielleicht anderwärts nicht zu finden ist. Dahin gehört noch aus den letzten Jahren ein durch das ganze Land sich erstreckendes Wahlkartell zwischen der konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Partei, das den während der vorangegangenen Zeit zur Vorherrschaft gelangten Ultramontanen ihre Majorität entzog. Man darf wohl kühnlich sagen, daß eine solche Handlung politischer Wahltaktik weder im deutschen Reichstag noch wahrscheinlich in irgendeinem der anderen deutschen Sonderparlamente möglich gewesen wäre.
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