Brahmabindu-Upanishad

[218] Die Abkehr von der Sinneswelt ist die Vorstufe zur Erlösung, das Mittel zur Abkehr der Yoga und damit verbunden das Nachdenken über die Silbe Om. Losgelöst von ihrem Vokal oder ihren Vokalen und zum bloßen m, den man als Punkt (bindu) schreibt, verflüchtigt, vermag sie die Erkenntnis des höchsten Brahman vorzubereiten. Dieses höchste Brahman steht über Entstehen und Vergehen. Alle Seelen sind ein Reflex von ihm, wie der Mond sich in unzähligen Gewässern spiegelt. Es wohnt in dem einzelnen Körper wie die Luft im einzelnen Gefäß. So wenig diese zugrunde geht, wenn das Gefäß zerbricht, weil sie eben nur ein Teil der alles durchfließenden Luft ist, so wenig geht die Einzelseele mit dem Aufhören des einzelnen Leibes zugrunde. Die wahre Erkenntnis bleibt die eine unveränderliche, so verschieden die sein mögen, die sie erwerben. Sie ruht in jedem Wesen verborgen wie die Butter in der Milch. Mittels des Verstandes, der als Quirl dient, und der Erkenntnis, die als Strick dient, ist die wahre Erkenntnis hervorzubringen.


Der Geist, sagt man, ist zwiefach, geläutert oder nicht. Nicht geläutert ist er in Verbindung mit Wünschen1, geläutert, wenn er von Wünschen befreit ist. Der Geist ist für die Menschen die Ursache von Knechtschaft und Erlösung; von Knechtschaft, sobald er an der Sinneswelt hängt, von Erlösung, wenn er frei von ihr ist.

Darum, weil man die Befreiung des von der Sinneswelt freien Geistes wünscht, muß der Erlösungsuchende beständig seinen Geist von der Sinneswelt frei zu machen trachten.

Wenn man den Geist unter Aufgabe aller Hinneigung zur Sinneswelt im Innern zügelt und zur Freiheit von ihm gelangt, so ist das die höchste Stätte.

Er ist so lange zu zügeln, bis er im Inneren zunichte ist. Das ist Erkenntnis und Erlösung. Alles andere Bücherweisheit.

Es ist nicht denkbar und doch nicht undenkbar. Es ist undenkbar[219] und doch denkbar: Frei von Zu- und Abneigung vollendet sich dann das Brahman.

Mit dem Vokallaut (Om) soll er den Yoga verbinden; ohne seine Vokale das Höchste (das Brahman) zustande bringen; durch den vokallosen Bestand2 wird Sein, nicht Nichtsein erstrebt.

Dieses selbige Brahman ist ungeteilt, allem Zweifel entrückt, frei von allem Fehl. Wenn er erkannt hat, ›das Brahman bin ich‹, vollendet sich das Brahman mit Sicherheit.

Als allem Zweifel entrückt, unendlich, frei von Argument und Beispiel, unbeweisbar, anfangslos hat er das Höchste in seiner Güte erkannt.

Bei ihm gibt es weder Vergehen, noch Entstehen, weder Knechtschaft, noch Herrentum, weder Streben nach Erlösung, noch Erlösung: also lautet die höchste Wahrheit.

Als eine Einheit ist der Âtman in Wachen, Traum und Tiefschlaf zu denken. Wenn er diese drei Zustände überwunden hat, wird er von der Wiedergeburt frei.

Die Seele der Geschöpfe ist eine Einheit, nur von Geschöpf zu Geschöpf verteilt; eine Einheit und Vielheit zugleich, wie der Mond sich in vielerlei Gewässern spiegelt.

Die mannigfachen Formen sind wie ein Gefäß. Das Gefäß kann immer wieder zerbrochen werden; es weiß nichts davon, wenn es zerbrochen ist. Aber Er weiß davon beständiglich3.

Solange die Seele von der Mâyâ (Täuschung) der Worte umhüllt ist, weilt sie im Lotus des Herzens. Wenn aber die Dunkelheit weicht, nimmt sie die eine Einheit wahr4.

Zwei Wissenschaften, das im Wort sich offenbarende und das höchste Brahman, muß man kennen5. Wer in das im Wort sich offenbarende Brahman tief eindringt, erlangt das höchste Brahman.

Ein kluger Mann, der um der Kenntnis, Erkenntnis und Wahrheit willen ein Buch studiert hat, mag es insgesamt aufgeben, wie einer, der Korn wünscht, das Stroh.[220]

Die Milch von Kühen ganz verschiedener Farbe hat ein und dieselbe Farbe. Wie mit der Milch steht es mit der Kenntnis, und den Kühen vergleichen sich die Asketen.

Wie die Butter in der Milch verborgen ist, wohnt in jedem Wesen die Erkenntnis. Immer muß man mit dem Verstand als Quirlstock quirlen.

Mit der Kenntnis als dem Seil reibe man von da ab das Feuer, das ungeteilte, fleckenlose, stille (Brahman), von dem es heißt: ›Dies Brahman bin ich.‹

Es dient allen Wesen zur Wohnung und wohnt in allen Wesen. Vermöge seiner Gnade gegen alle bin ich Vâsudeva dieses, bin ich Vâsudeva dieses.

1

Lesart falsch. Maitr.-Up. VI, 34 zeigt, daß statt samkalpam etwa samparkam zu lesen ist.

2

Om: ohne die Vokale nur m; vgl. Amritanâda-Up. 4: asvarena makârena padam sûkshmam hi gacchati und 24. Der Omlaut mit seinen Vokalen wird als ein Wagen bezeichnet. Man benutzt ihn, solange man auf der Fahrstraße sich befindet. Dann entläßt man den Wagen und läuft.

3

Mir scheint das so zu verstehen: der einzelne Topf ist nur ein Beispiel; der Gegensatz ist die Idee des Topfes, die unzerstörbar ist. Oder man könnte an die von dem einzelnen Topf umschlossene Luft denken, die bei dem Zerbrechen des Topfes unverändert bleibt als Teil des Ganzen. Das letztere besagt ein in der Ausgabe der 108. Up. folgender Vers.

4

Der folgende, hier ausgelassene Vers ist unklar.

5

Siehe Maitr.-Up. VI, 22.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 218-221.
Lizenz: