Achter Gesang.

[55] Arjuna sprach


Was ist das Brahman? und was ist das höchste Selbst? was ist das Werk?

Was ist's, das ob den Wesen all und über allen Göttern steht?

Wie und wer kann in diesem Leib schon über allen Opfern stehn?

Und in der Todesstunde, wie erkennen die Bezähmten dich?


Der Erhabene sprach


Brahman ist ew'ges, höchstes Sein, sein Wesen ist das höchste Selbst,

Die Schöpfung, die den Ursprung all der Wesen wirkt, ist »Werk« genannt.

Werden1 über den Wesen steht, über den Göttern der Urgeist,

»Über den Opfern« – das bin ich, schon hier im Leib, du bester Mensch!

Wer in der Todesstunde mein gedenkend scheidet aus dem Leib,

Der gehet in mein Wesen ein, darüber kann kein Zweifel sein.

An wessen Wesen immer er gedenkt, wenn er den Leib verläßt,

In dessen Wesen geht er ein und paßt sich dessen Wesen an.

Zu allen Zeiten denke drum an mich allein und kämpfe frisch!

In mich versenk' Sinn und Verstand, dann gehst du sicher ein in mich.

Wenn fleißig Andacht er geübt, nichts andres in Gedanken sucht,

Dann geht zum höchsten Urgeist ein, dem himmlischen, wer an ihn denkt.

Wer an den alten Weisen, den Regierer,

Der feiner ist als fein, sich stets erinnert,

Den Schöpfer dieses Alls, der unausdenkbar,[56]

Der sonnenfarbig, jenseit alles Dunkels, –

Wer festen Sinns im Tode sein gedenket,

Hingebungsvoll und mit der Kraft der Andacht,

Den Lebensgeist zwischen den Brauen sammelnd,

Der geht zum höchsten Urgeist ein im Himmel.

Was Vedenkenner »unvergänglich« nennen,

Wohin die neigungsfreien Büßer kommen,

Wonach begehrend man in Keuschheit lebet,

Die Stätte will ich dir in Kürze schildern.

Des Körpers Tore schließend all, den Sinn im Herzen fest haltend,

Den Lebensgeist im Kopf sammelnd, der strengen Andacht zugewandt;

Brahmans einsilb'gen Namen »Om«! aussprechend und gedenkend mein –

Wer so den Leib verlassend stirbt, der wandelt auf der höchsten Bahn.

Wer an nichts andres jemals denkt und immerdar an mich gedenkt,

Wer in beständ'ger Andacht lebt, der ist es, der mich leicht erlangt.

Die Edlen, die zu mir gelangt und die Vollendung so erreicht,

Erleiden keine Neugeburt, wo Schmerz wohnt und Vergänglichkeit.

Die Welten, bis zu Brahmans Welt, bewahren nicht vor Neugeburt,

Doch wer zu mir gekommen ist, für den gibt's keine Neugeburt.

Die, denen Brahmans Tag bekannt, der tausend Weltenalter währt, –

Und Brahmans Nacht, die grad so lang, – die kennen wahrhaft Tag und Nacht.

Aus dem Unsichtbaren entspringt das Sichtbare, wann kommt der Tag, –

Wann kommt die Nacht, dann löst sich's auf im Innern, das unsichtbar heißt.

Der Wesen Schar, die immer neu geworden ist, sie löst sich auf,

Wann kommt die Nacht, – doch unbedingt ersteht sie neu, wann kommt der Tag.

Doch jenseits dieses Lebens gibt's ein andres, ewig, unsichtbar,

Das, ob auch alle Wesen hier vergehen, selber nicht vergeht.[57]

Unsichtbar, unvergänglich heißt's, man nennt es auch die höchste Bahn;

Erreicht man's, kehrt man nicht zurück! sieh, das ist meine höchste Statt!

Der höchste Urgeist wird erlangt durch Liebe, die nichts andres sucht, –

Er, in dem alle Wesen sind, durch den die ganze Welt gemacht.

Wann aber zur Nichtwiederkehr der Fromme kommt, sobald er stirbt,

Wann Wiederkehr sein Schicksal bleibt, das will ich nun verkünden dir:

Feuer, Licht, Tag, wachsender Mond, das Halbjahr, wo die Sonne hoch,

Wenn dann ein Brahmankenner stirbt, dann geht er auch zu Brahman ein.

Rauch und Nacht und schwindender Mond, das Halbjahr, wo die Sonne tief,

Da geht der Fromme zu dem Licht des Mondes und kehrt einst zurück.

Der helle und der dunkle Pfad, sie sind als ewige bekannt,

Einer führt zur Nichtwiederkehr, auf dem andern kehrt man zurück2.

Wer diese beiden Pfade kennt, der Fromme wird niemals betört,

Zu allen Zeiten weihe dich der Andacht drum, o Arjuna!

Was für das Vedalesen, Opfern, Büßen

Und Spenden auch als Tugendlohn verheißen,

Weit über das hinaus gelangt der Fromme,

Der dies erkennt, – er kommt zur höchsten Stätte!

1

Werden – im Text ksharo bhâvah, d.h. eig. das fließende Sein, wie auch Deussen es richtig übersetzt; das fließende Sein, d.h. das Werden, beherrscht alle Wesen, solange sie Einzelwesen sind.

2

Vgl. zu Vers 23-26 P. Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie, Bd. I, Abt. 3, S. 106-108. Danach wäre hier nicht von Zeitabschnitten, sondern von örtlichen Stationen die Rede, gleichsam räumlich übereinander liegenden Schichten. Eine ziemlich phantastische Vorstellung, die auf alte Upanishad-Gedanken zurückgeht, welche wir hier nicht erörtern können.

Quelle:
Bhagavadgita: Des Erhabenen Sang. Jena 1959, S. 55-58.
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