[55] Arjuna sprach:
1. (1142.) Was ist jenes Brahman, was ist das eigene Selbst und was ist das Werk (oben, Vers 1140), o höchster Geist, und was ist das von dir (oben, Vers 1141) erwähnte Gegenwärtigsein in den Wesen und Gegenwärtigsein in den Göttern?
2. (1143.) Und wie kann einer, der in diesem Leibe verkörpert ist, gegenwärtig in den Opfern sein, o Madhusûdana, und wie können die, welche ihr Selbst bezwungen haben, dich erkennen, wenn es mit ihnen zu Ende geht?
Der Heilige sprach:
3. (1144.) Das Brahman ist das höchste Unvergängliche; unter dem eigenen Selbste ist die eigene Natur zu verstehen; und Werk heisst die Opferspende, welche die Beschaffenheit und das Entstehen der Wesen bedingt.
4. (1145.) Meine Gegenwart in den Wesen ist mein fliessendes Sein, meine Gegenwart in den Göttern ist der Purusha [mein Sein als[56] Purusha], meine Gegenwart in den Opfern ist mein in diesem Leibe verkörpertes Ich, o Edelster der Verkörperten.
5. (1146.) Und wer, wenn er den Leib verlässt, dahinscheidet, indem er in seiner letzten Stunde meiner gedenkt, der geht in meine Wesenheit ein, daran ist kein Zweifel.
6. (1147.) Denn, an welches Sein denkend, einer zur Endzeit den Leib verlässt, zu diesem Sein geht er ein, o Kuntîsohn, indem er jedesmal zu dessen Natur umgestaltet wird.
7. (1148.) Darum mögest du zu allen Zeiten an mich denken und [deine Pflicht erfüllend] kämpfen; auf mich Sinn und Verstand richtend, wirst du zu mir eingehen, daran ist kein Zweifel.
8. (1149.) Wer mit einem durch Studium und Yoga hingegebenen, nicht zerstreuten Geiste den höchsten, himmlischen Purusha überdenkt, der geht, o Sohn der Pṛithâ, zu ihm ein.
9. (1150.) Wer da überdenkt den alten Weisen, den Gebieter, den Kleinern als das Kleinste, den Schöpfer des Weltalls, den unausdenkbaren, sonnenfarbigen, finsternis-jenseitigen,
10. (1151.) wer diesen zur Endzeit mit unentwegtem Geiste durch Verehrung und Yogakraft, ihm hingegeben, überdenkt, indem er den Prâṇa vollständig sammelt zwischen den Augenbrauen, der geht zum göttlichen höchsten Geiste ein.[57]
11. (1152.) Das Unvergängliche (aksharam, auch die Silbe om), welches die Vedakenner sprechen, in welches die leidenschaftfreien Selbstbezwinger eindringen, nach welchem verlangend man den Lebenswandel als Brahmacârin auf sich nimmt, dieses als Wort will ich dir in einem Inbegriffe sagen (vgl. Kâṭh. Up. 2,15).
12. (1153.) Wenn einer alle Pforten [des Körpers] schliesst, das Manas im Herzen zurückhält, seinen Lebenshauch im Haupte ansammelt, und so die Festigkeit im Yoga erlangt,
13. (1154.) wenn ein solcher, die Silbe Om, welche das Brahman bedeutet, aussprechend und meiner dabei gedenkend, dahinscheidet, indem er den Leib verlässt, der geht den höchsten Gang.
14. (1155.) Wer immerfort, ohne seine Gedanken auf etwas anderes zu richten, unentwegt meiner gedenkt, für einen solchen beständig sich hingebenden Yogin bin ich, o Sohn der Pṛithâ, leicht zu erlangen.
15. (1156.) Und wenn sie zu mir gelangt sind, so brauchen sie nicht einzugehen in eine abermalige Geburt, in eine solche vergängliche Behausung der Schmerzen, sie, die hohen Geistes die höchste Vollendung erreicht haben.
16. (1157.) Alle Welten bis hinauf zur Brahmanwelt sind [zur Erde] zurückführend, o Arjuna; wer aber zu mir eingeht, o Sohn der[58] Kuntî, für den gibt es keine abermalige Geburt mehr.
17. (1158.) Wenn man erkannt hat, dass ein Tag des Brahman die Dauer von tausend Yuga's (Weltaltern) befasst und dass seine Nacht ebenfalls tausend Yuga's durchdauert, – die Menschen, die das erkannt haben, die wissen in Wahrheit, was Tag und Nacht sind.
18. (1159.) Bricht der Tag an, so gehen aus dem Unentfalteten alle Entfaltungen hervor, bricht die Nacht an, so zergehen sie wieder in jenem, was das Unentfaltete heisst.
19. (1160.) Diese ganze Schar der Wesen, welche wird und immer wieder wird, zergeht, wenn die Nacht anbricht, o Sohn der Pṛithâ, und sie entsteht wieder beim Anbruche des Tages, [beides] gegen ihren Willen.
20. (1161.) Aber jene andere Wesenheit, welche höher als jenes Unentfaltete, auch unentfaltet und ewig ist, die geht nicht zugrunde, wenn auch alle Wesen zugrunde gehen.
21. (1162.) Diese unentfaltete Wesenheit ist es, welche man Akshara (unvergänglich) nennt und als das höchste Ziel bezeichnet, zu welchem gelangt man nicht zurückkehrt, und das ist meine höchste Wohnstätte.
22. (1163.) Das ist, o Pṛithâsohn, jener höchste Purusha, der durch eine nur ihm zugewandte Verehrung ergriffen wird, der alle Wesen in sich befasst und durch den dieses ganze Weltall ausgebreitet ist.[59]
23. (1164.) Zu welcher Zeit aber hinscheidend die Yogin's zur Nichtwiederkehr oder aber zur Wiederkehr gelangen, die Zeit, o Stier der Bharata's, will ich dir sagen.
24. (1165.) Das Feuer als Licht, der Tag, die helle Monatshälfte, die sechs Monate, da die Sonne nach Norden geht, – auf diesem Wege [dem Götterwege] fortziehend, gehen die brahmanwissenden Menschen zu Brahman ein.
25. (1166.) Der Bauch, die Nacht, die dunkle Monatshälfte, die sechs Monate, da die Sonne nach Süden geht, – auf diesem Wege [dem Väterwege] gelangt der Yogin zu dem Lichtreiche des Mondes und muss wieder zurückkehren.
26. (1167.) Diese beiden Wege, der helle und der dunkle [welche aus Chând. Up. 5,3-10 = Bṛih. Up. 6,2 übernommen, aber vom Verfasser missverstanden werden], bestehen ewig für die Welt der Lebenden, auf dem einen gelangt man zur Nichtwiederkehr, auf dem andern kehrt man wieder zurück.
27. (1168.) Keiner, o Pṛithâsohn, der als Yogin diese beiden Wege kennt, geht in der Irre, darum, o Arjuna, sei zu allen Zeiten des Yoga beflissen.
28. (1169.) Alles, was als Frucht guter Werke für Vedastudium, Opfer, Askese[60] und Almosengeben verheissen wird, das alles überschreitet, dieses wissend, der Yogin und gelangt zu der höchsten, uranfänglichen Stätte.
So lautet in der Bhagavadgîtâ die Hingebung an den grossen Geist (mahâpurusha-yoga).
Buchempfehlung
Die letzte zu Lebzeiten des Autors, der 1835 starb, erschienene Lyriksammlung.
242 Seiten, 12.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro