[50] Der Heilige sprach:
1. (1112.) Wenn du, o Pṛithâsohn, mit deinem Geiste mir hingegeben und auf mich bauend den Yoga betreibst, so wirst du sicherlich mich voll und ganz erkennen; vernimm, in welcher Weise.
2. (1113.) Ich will dir jetzt diejenige Erkenntnis, dasjenige Wissen vollständig mitteilen, nach dessen Erkenntnis hienieden nichts weiteres mehr zu erkennen übrig ist.
3. (1114.) Unter tausend Menschen gibt es kaum einen, der nach Vollendung strebt, und unter diesen Strebenden und zur Vollendung Gelangenden gibt es kaum einen, der mich in Wahrheit erkennt.
4. (1115.) Die Erde, das Wasser, das Feuer, der Wind und der Äther, das Manas, die Buddhi und der Aha kâra, diese machen meine Natur (prakṛiti) aus, sofern sie achtfach gespalten ist.
5. (1116.) Sie ist meine niedere; aber wisse, o Grossarmiger, dass ich noch eine andere, von[51] ihr verschiedene, höchste Natur (prakṛiti) habe, welche eine lebendige Seele ist, und von der diese ganze Welt getragen wird.
6. (1117.) Diese meine Naturen sind der Mutterschoss aller Wesen, das merke wohl, ich bin für diese ganze Lebewelt der Ursprung und auch der Untergang.
7. (1118.) Es gibt, o Beutemacher, nicht irgend etwas anderes, welches höher wäre als ich; wie eine Perlenreihe an der Schnur, so ist an mir die ganze Welt aufgereiht.
8. (1119.) Ich bin der Geschmack in den Wassern, o Sohn der Kuntî, ich bin der Lichtglanz in Mond und Sonne, ich bin der heilige Laut (om) in den Veden, bin der Ton im Äther, bin in den Männern die Manneskraft.
9. (1120.) Ich bin der reine Geruch in der Erde, ich bin das Licht in des Feuers Glanz, bin das Leben in allen Wesen, bin das Tapas der Tapas-Übenden.
10. (1121.) Ich bin, das sollst du wissen, o Pṛithâsohn, der ewige Same aller Wesen, ich bin der Verstand der Verständigen, bin die Kraft der Kraftvollen.
11. (1122.) Ich bin die Stärke der Starken, soweit sie sich von Begier und Leidenschaft frei hält, ich bin, o Stier der Bharata's, die Liebe in den Wesen, sofern sie dem Gesetze nicht zuwiderläuft.
12. (1123.) Alle sattva-artigen Zustände, alle rajas-artigen und alle tamas-artigen stammen[52] aus mir, das sollst du wissen; ich bin nicht in ihnen, aber sie sind in mir.
13. (1124.) Von diesen drei auf den Guṇa's beruhenden Zuständen (bhâvâh) wird diese ganze Welt in Verblendung gehalten und erkennt nicht mich, der ich über sie erhaben und unvergänglich bin.
14. (1125.) Das ist jene meine gottentstandene, aus den Guṇa's bestehende Mâyâ (Blendwerk), welche schwer zu überwinden ist; wer aber zu mir seine Zuflucht nimmt, der schreitet über jene Mâyâ hinaus.
15. (1126.) Nicht aber gelangen zu mir die Übeltäter, die Verblendeten, der Menschen Niedrigste, sondern durch die Mâyâ der Erkenntnis beraubt, haben sie auf eine dämonische Natur ihr Vertrauen gesetzt.
16. (1127.) Vier Arten sind, o Arjuna, der guten Menschen, welche mich verehren: der Bedrängte, der Erkenntnisdurstige, der Güterverlangende und der Erkennende, o Stier der Bharata's.
17. (1128.) Unter ihnen zeichnet sich aus als immer hingegeben und nur eines verehrend der Erkennende, denn dem Erkennenden bin ich lieb über alles, und er ist mir lieb.
18. (1129.) Hochstrebend sind alle Genannten, aber der Erkennende ist mein eigenes Selbst, so sage ich; denn er, mit hingegebenem Geiste, vertraut auf mich als höchste Zuflucht.
19. (1130.) Wer die Erkenntnis besitzt, der[53] geht am Ende vieler Geburten zu mir ein; dieses Weltall ist Vâsudeva« (Kṛishṇa), so denkt ein solcher Hochherziger, schwer zu Findender.
20. (1131.) Andere hingegen, deren Erkenntnis bald durch diese, bald durch jene Begierde fortgerafft wird, nehmen ihre Zuflucht zu anderen Grottheiten, bald dieser, bald jener Nötigung gehorchend, genötigt durch ihre eigene Natur (prakṛiti).
21. (1132.) Wer immer, irgendeiner Gestalt ergeben, sie im Glauben zu verehren wünscht, ich bin es, der einem solchen seinen unerschütterlichen Glauben verleiht.
22. (1133.) Und mit diesem Glauben begabt, sucht er jene Gottheit günstig zu stimmen und erhält von ihr die Wünsche, deren Erfüllung in Wahrheit nur von mir verfügt wird.
23. (1134.) Aber die Frucht, welche solche Menschen von beschränktem Geiste erreichen, ist eine endliche; zu den Göttern gehen sie, welche die Götter verehren; wer mir anhängt, der kommt auch zu mir.
24. (1135.) Jene Toren wähnen, dass ich nur das Unentfaltete (avyaktam, prakṛiti) bin, welches zur Entfaltung gelangt sei; mein höchstes, unvergängliches, unübersteigliches Wesen aber, das kennen sie nicht.
25. (1136.) Nicht jedem bin ich erkennbar, der ich von dem Zauber des Yoga umhüllt[54] bin; diese betörte Welt erkennt mich nicht, den Unentstandenen, Unvergänglichen.
26. (1137.) Ich kenne die vergangenen Wesen und die gegenwärtigen und die zukünftigen, mich aber kennt niemand, o Arjuna.
27. (1138.) Durch die aus Begierde und Hass entspringende Verblendung in den Gegensätzen, o Bhârata, geraten alle Wesen der geschaffenen Welt, o Feindbezwinger, in die Irre.
28. (1139.) Diejenigen Menschen aber, deren Böses durch heilige Werke ein Ende genommen hat, die werden befreit von dem Wahn der Gegensätze und verehren mich mit unerschütterlichem Gelübde.
29. (1140.) Diejenigen, welche zu mir ihre Zuflucht nehmen und nach Erlösung von Alter und Tod streben, die gelangen zur Erkenntnis des Brahman, des ganzen eigenen Selbstes und alles Werks.
30. (1141.) Wer aber mich erkennt als gegenwärtig in den Wesen, gegenwärtig in den Göttern und gegenwärtig im Opfer, der wird mich hingegebenen Geistes auch dann erkennen, wenn es mit ihm zu Ende geht.
So lautet in der Bhagavadgîtâ die Hingebung an die Erkenntnis (jñâna-yoga).
Buchempfehlung
In die Zeit zwischen dem ersten März 1815, als Napoleon aus Elba zurückkehrt, und der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni desselben Jahres konzentriert Grabbe das komplexe Wechselspiel zwischen Umbruch und Wiederherstellung, zwischen historischen Bedingungen und Konsequenzen. »Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch.« C.D.G.
138 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro