Einleitung

[238] Der erste Teil brachte den Text des Kernstücks aus dem Buch der Wandlungen. Dabei wurde das Gewicht darauf gelegt, sozusagen nur die geistige Seite, die Weisheit, die unter den oft wunderlichen Formen verborgen ist, ans Licht zu bringen. Das, was unser Kommentar bietet, ist eine Zusammenfassung dessen, was im Lauf der Jahrhunderte im Anschluß an die Zeichen und Linien von den bedeutendsten Denkern Chinas gedacht und gesagt wurde. Oft aber wird dem Leser der Gedanke aufsteigen: Warum ist das alles so? Warum sind diese oft ganz unerwarteten Bilder mit den Zeichen und Linien verknüpft? Aus welchen Tiefen des Bewußtseins tauchen sie auf? Sind es rein willkürliche Bildungen, oder folgen sie bestimmten Gesetzen? Wie kommt es ferner, daß diese Bilder nun gerade mit diesen Gedanken verknüpft sind? Ist es nicht Willkürlichkeit, tiefe philosophische Gedanken zu suchen, wo dem Anschein nach nur groteske Phantasiebilder ihr Spiel treiben? Auf alle diese Fragen soll der zweite Teil Antwort geben, soweit es möglich ist. Er soll das Material entfalten, aus dem jene Gedankenwelt hervorgeht, den Körper bieten zu jenem Geist. Und da zeigt es sich, wie ein geheimer Zusammenhang tatsächlich besteht, wie auch scheinbar willkürliche Bilder doch irgendwie eine Unterlage haben in der Struktur der Zeichen, wenn man diese nur tief genug versteht. Die ältesten Kommentare, in denen technische Ableitung und gedankenmäßige Ausführungen in der Regel verknüpft sind, stammen von Kungtse selbst oder mindestens aus seiner Umgebung. Wir haben das, was sie an Gedankengehalt bieten, schon im ersten Teil mitverwendet. Hier werden sie mit dem Text zusammen, ohne den sie nicht verständlich sind, noch einmal gegeben und nach ihrer technischen Seite hin ausgeführt. Diese technische Seite ist zum vollen Verständnis des Buchs unbedingt erforderlich, und kein chinesischer Kommentar läßt sie beiseite. Es schien aber dennoch angezeigt, sie von der geistigen zu trennen, um den europäischen Leser nicht allzusehr durch Ungewohntes zu verwirren. Daß dabei Wiederholungen nicht zu vermeiden waren, habe ich nicht bedauert. Das Buch der Wandlungen ist ein Werk, das organisch langsam in Jahrtausenden herangereift ist und das man sinnend und meditierend in sich aufnehmen muß. Und dabei eröffnet gerade die scheinbare Wiederholung immer neue Ausblicke. Was im zweiten Teil geboten wird, ist im wesentlichen das, was unter dem Namen der »zehn Flügel« bekannt ist. Diese zehn Flügel[239] oder Erläuterungen enthalten tatsächlich die älteste Kommentarliteratur über das Buch der Wandlungen.

Der erste dieser Kommentare heißt Tuan Dschuan. Tuan ist eigentlich der Schweinskopf, so wie er bei Opfern dargebracht wurde. Durch Klanggleichheit bekam das Wort ferner den Sinn von »Entscheidung«. Tuan, »Entscheidung«, oder Tsï, »Urteil«, bzw. Hi Tsï, »beigefügte Urteile«, war der Name, der den Urteilen über die einzelnen Zeichen gegeben wurde. Diese »Urteile« oder »Entscheidungen« werden dem König Wen von Dschou (ca. 1150 v. Chr.) zugeschrieben, und es ist im allgemeinen nicht an dieser Tatsache gezweifelt worden. Zu diesen Entscheidungen gibt nun der Tuan Dschuan oder »Kommentar zu den Entscheidungen« die genauen Erklärungen auf Grund der Struktur und des sonstigen Materials der Zeichen. Dieser Kommentar wird chinesischerseits dem Kungtse zugeschrieben. Er ist durchaus gründliche, wertvolle Arbeit und wirft viel Licht auf die innere Organisation der Zeichen des I Ging. Da notorisch bekannt ist, daß Kungtse sich viel mit dem Buch der Wandlungen beschäftigt hat, und da die Anschauungen dieses Kommentars nirgends den Anschauungen des Kungtse widersprechen, sehe ich keinen Grund, in die Behauptung der Autorschaft Kungtses Zweifel zu setzen. Dieser Kommentar zerfällt entsprechend den beiden Abteilungen des Buchs der Wandlungen in zwei Teile und bildet die beiden ersten Flügel oder Erläuterungen. Wir haben ihn aufgeteilt und den einzelnen Zeichen, zu denen er gehört, jeweils beigegeben1.

Der dritte und vierte Flügel wird von dem sogenannten Siang Dschuan, Kommentar zu den Bildern, gebildet. Auch dieser Kommentar ist entsprechend dem Text in zwei Hälften geteilt. In seiner heutigen Form besteht er aus den sogenannten »großen Bildern«, die sich auf die Bilder der beiden Halbzeichen beziehen und daraus den Sinn des Gesamtzeichens ableiten, um aus dieser Betrachtung wieder Schlüsse für das menschliche Leben zu ziehen.

Dieser Kommentar gehört seinem ganzen Gedankenkreis nach[240] in die Umgebung der »Höheren Bildung« (Da Hüo), also ebenfalls in die nächste Umgebung von Kungtse.

Außer den »Großen Bildern« enthält dieser Kommentar aber auch noch die »Kleinen Bilder«; das sind ganz kurze Winke zu den Worten des Herzogs von Dschou zu den einzelnen Linien. Von »Bildern« ist dabei in keiner Weise die Rede. Es muß durch irgendein Mißverständnis bzw. Zufall gekommen sein, daß dieser Kommentar zu dem Text der einzelnen Linien in diesen Kommentar zu den »Bildern« mit hineingekommen ist. Dieser Linienkommentar enthält nur ganz kurze Andeutungen, die meist gereimt sind. Möglich, daß sie zur Gedächtnishilfe niedergeschriebene Schlagworte einer sonst ausführlicheren Erklärung waren. Daß sie alt sind und aus der konfuzianischen Schule stammen, ist ebenfalls sicher. Wie nahe sie an Kungtse selbst heranreichen, darüber möchte ich kein bestimmtes Urteil abgeben.

Auch diese Kommentare wurden aufgeteilt und den ihnen entsprechenden Stellen zugewiesen.

Der fünfte und sechste Flügel wird gebildet von einem Aufsatz, über den manche Unklarheit herrscht: er heißt Hi Tsï oder Da Dschuan und ist ebenfalls in zwei Hälften geteilt. Die Bezeichnung Da Dschuan findet sich bei Sï Ma Tsiën und bedeutet »Großer Kommentar«, »Große Abhandlung«. Über die Bezeichnung Hi Tsï, »Beigefügte Urteile«, sagt Dschu Hi folgendes: »Die beigefügten Urteile sind ursprünglich die Urteile, die König Wen und der Herzog von Dschou gemacht und den Zeichen und ihren Linien beigefügt haben, eben der heutige Text des Buches. Der vorliegende Abschnitt ist der Kommentar, in dem Kungtse die beigefügten Urteile erklärt, wobei er eine allgemeine Einführung in den ganzen Text des Gesamtwerks gibt.« Man sieht sofort die Unklarheit der Definition. Wenn die »Beigefügten Urteile« die Bemerkungen des Königs Wen und Herzogs Dschou zu den Zeichen und einzelnen Linien sind, so erwartet man von einem »Kommentar zu den beigefügten Urteilen« eben einen Kommentar zu den betreffenden Bemerkungen und keine Abhandlung über das Werk im allgemeinen. Nun findet sich schon ein Kommentar zu den Entscheidungen der Zeichen, d.h. zum Text des Königs Wen. Dagegen fehlt ein ausführlicher Kommentar zu den Bemerkungen zu den einzelnen Linien des Herzogs von Dschou. Was wir haben, sind nur die kurzen Stichworte, die unter dem offenbar falschen Titel »Kleine Bilder« gehen. Wohl aber finden sich Reste eines solchen Kommentars oder vielmehr einer ganzen Anzahl solcher Kommentare. Einige davon – zu den beiden ersten Zeichen – sind in den Wen Yen[241] (Kommentar zu den Textworten) enthalten, worüber weiter unten noch näher gesprochen werden soll. Einige Erklärungen zu einzelnen Linien sind in dem Kommentar zu den beigefügten Urteilen da und dort zerstreut. Es ist höchst wahrscheinlich, daß wir in dem, was heute unter dem Namen Hi Tsï Dschuan geht, zwei ganz verschiedene Dinge beisammen haben: eine Sammlung von Aufsätzen über das Buch der Wandlungen im allgemeinen, vermutlich das, was Sï Ma Tsiën den großen Kommentar, Da Dschuan, nannte, und darin zerstreut und dürftig nach Gesichtspunkten geordnet die Reste eines Kommentars zu den beigefügten Urteilen der einzelnen Striche. Manches weist darauf hin, daß wir in diesem Kommentar auf dieselbe Quelle kommen, wie sie auch in dem einen Kommentar der unter dem Namen Wen Yen (Kommentar zu den Textworten) gehenden Sammlung vorliegt.

Daß die unter dem Namen Hi Tsï oder Da Dschuan gehenden Abhandlungen nicht von Kungtse niedergeschrieben sind, ist ganz klar. Es werden ja darin häufig Sätze als Aussprüche des Meisters zitiert2. Es ist natürlich Traditionsgut der konfuzianischen Schule, und zwar aus verschiedenen Zeiten, darin enthalten.

Ein sehr wichtiger Abschnitt ist der sogenannte siebente Flügel, genannt Wen Yen (Kommentar zu den Textworten). Es ist der Rest eines Kommentars zum Buch der Wandlungen oder vielmehr einer ganzen Serie solcher Kommentare. Er enthält sehr wertvolles Material aus der konfuzianischen Schule. Leider geht er nicht über das zweite Zeichen, Kun, hinaus.

Zum Zeichen Kiën, das Schöpferische, enthält er im ganzen vier verschiedene Kommentare, die in der Übersetzung (die ebenfalls auf die beiden Zeichen Kiën und Kun verteilt ist) als a, b, c, d bezeichnet sind. Der Kommentar a gehört derselben Schicht an wie die in den Hi Tsï zerstreuten Kommentarreste; sie geben den Text mit angehängter Frage: »Was heißt das?«, ähnlich wie das im Kung-Yang-Kommentar zum Tschun Tsiu der Fall ist. Kommentar b und c enthalten kurze Bemerkungen zu den einzelnen Linien im Stil des Kommentars der »Kleinen Bilder«. Kommentar d beschäftigt sich wieder mit dem Urteil zum ganzen Zeichen und den einzelnen Strichen, ebenso wie a, nur in freierer Weise. Zum Zeichen Kun ist nur noch ein Kommentar vorhanden, der der Art nach mit Kommentar a verwandt ist, obwohl er eine andere Schicht repräsentiert (der Text wird den Ausführungen[242] des Meisters nachgestellt), die in den Hi Tsï übrigens ebenfalls vorkommt.

Der achte Flügel, Besprechung der Zeichen, Schuo Gua, enthält altes Material zu der Erklärung der acht Urzeichen. Darunter dürfte manches Stück sein, das über Kungtse zeitlich hinaufgeht und seinerseits von ihm bzw. seiner Schule kommentiert ist.

Der neunte Flügel: die Reihenfolge, Anordnung der Zeichen, Sü Gua, enthält eine zum Teil recht schwach motivierte Erklärung, weshalb die Zeichen in ihrer heutigen Reihenfolge stehen, die nur dadurch interessant ist, daß sie zuweilen eigenartige Deutungen der Namen der Zeichen gibt, die sicher auf alter Überlieferung beruhen. Auch dieser Kommentar, der mit Kungtse natürlich nichts zu tun hat, wurde aufgeteilt und den einzelnen Zeichen zugeordnet unter der Überschrift: Reihenfolge.

Der letzte Flügel: Dsa Gua oder Vermischte Zeichen sind in Versus memoriales gefaßte Definitionen der einzelnen Zeichen, größtenteils in paarweiser Gegenüberstellung, die übrigens von der Ordnung im jetzigen Buch der Wandlungen sehr wesentlich abweichen. Auch diese Definitionen wurden unter der Überschrift »Vermischte Zeichen« aufgeteilt und den einzelnen Zeichen beigegeben.

Im folgenden werden zunächst die beiden Abschnitte Schuo Gua, Besprechung der Zeichen, und Hi Tsï Dschuan oder Da Dschuan, Kommentar zu den beigefügten Urteilen oder – richtiger – großer Kommentar, in Übersetzung gegeben und dann noch einiges über die Struktur der Zeichen aus verschiedenen Quellen beigebracht, das zum Verständnis des zweiten Teils von Wichtigkeit ist.

Fußnoten

1 James Legge in »The Sacred Books of China, the Texts of Confucianism Part II, the Yi King, Oxford 1882« macht viel Aufhebens davon, daß erst durch Abtrennung der Kommentare vom Text das eigentliche Verständnis des I Ging ermöglicht werde. Er sondert daher die alten Kommentare sorgfältig ab, gibt dann aber dem Text die Kommentare der Sung-Zeit bei. Warum die Sung-Zeit, die ein Jahrtausend später ist, dem ursprünglichen Text näher gestanden haben soll als Konfuzius, darüber hat sich Legge nicht geäußert. In Wirklichkeit folgt er mit peinlicher Genauigkeit der auch von uns benützten Rezension Dschou I Dschê Dschung aus der Kanghi-Zeit. Legges Übersetzung steht hinter seinen übrigen sehr zurück. Er erspart sich z.B. einfach die Übersetzung der Namen der Zeichen, die freilich nicht ganz leicht, aber um so notwendiger ist. Auch sonst kommen entschiedene Mißverständnisse vor.


2 Auch hier wird die Entstehung des Buchs der Wandlungen in das »Mittlere Altertum« verlegt, eine Zeiteinteilung, nach der die Epoche der Frühlings- und Herbst-Annalen, die mit Kungtse schließt, als »Jüngeres Altertum« geht. Daß diese Zeiteinteilung nicht von Kungtse selbst gebraucht sein kann, ist ohne weiteres klar.

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 238-243.
Lizenz:

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