6. Symbole der Musik - Yüo Siang

[81] Wenn zuchtlose Laute die Menschen beeinflussen, so entspricht ihnen die Neigung zur Unbotmäßigkeit. Wenn die Neigung zur Unbotmäßigkeit Gestalt gewinnt, so kommt[81] eine unzüchtige Musik auf. Wenn rechte Laute die Menschen beeinflussen, so entspricht ihnen die Neigung zur Fügsamkeit. Wenn die Neigung zur Fügsamkeit Gestalt gewinnt, so kommt eine harmonische Musik auf. Das Anregende und das Mitklingende beruht auf fester Entsprechung; Rundes und Eckiges, Krummes und Gerades, jedes fällt seiner Art zu, und die Richtungen aller Dinge bewegen einander entsprechend ihrer Verwandtschaft.

Darum wendet der Edle sich zurück zu den ursprünglichen Gefühlen, um seinen Willen zu harmonisieren; er hält sich zu seinesgleichen, um seinen Wandel zu vervollkommnen. Ungeordnete Laute und zuchtlose Bilder duldet er nicht in seinem Gehör und Gesicht. Unordentliche Musik und verdorbene Sitten nimmt er nicht auf in die Gedanken seines Herzens. Nachlässigen und verkehrten Gewohnheiten erlaubt er nicht, von seinem Leib Besitz zu ergreifen. Er macht, daß Ohr und Auge, Nase und Mund, Sinn und Erkennen und alle Glieder sich dem Rechten fügen, um seine Pflicht zu tun.

Dann erst verleiht er dem in Lauten und Tönen Ausdruck und Form auf Zithern und Harfen, in Bewegung mit Schilden und Äxten, im Schmuck mit Federn und Quasten und in Begleitung von Flöten und Oboen. Er bewegt das Licht der höchsten Lebenskraft (der Götter) und erregt die Harmonie der vier Kräfte (der Jahreszeiten), um die Gesetze aller Dinge deutlich zu machen.

Die reinen und hohen Töne gleichen dem Himmel, die breiten und tiefen gleichen der Erde, das Ende und der Anfang gleichen den vier Jahreszeiten, das Im-Kreise-Wandeln der Tänzer gleicht Wind und Regen. (Die fünf Töne sind wie) die fünf Farben, die ein Ornament bilden, ohne sich zu verwirren. Die acht Winde7 folgen den Röhren, ohne abzuirren. Alle Bewegungen haben ihr Maß nach festem Gesetz. Die hohen und die tiefen Töne vollenden einander, das Ende und der Anfang erzeugen einander, Anschlagen des Tons und Begleitung in der reinen oder trüben Form beherrschen nacheinander den Faden der Melodie8.

Darum: Wenn die Musik herrscht, so werden die sozialen Pflichten klar. Ohr und Auge werden tief und hell, Blut und Kraft werden mild und gleich; es ändern sich die Bräuche[82] und wechseln die Gewohnheiten, und alle Welt kommt zur Ruhe.

Darum heißt es: Musik bedeutet Freude. Der Edle freut sich, seinen Weg zu erlangen; der Gemeine freut sich, seine Wünsche zu erlangen. Wenn man durch den Weg die Wünsche regelt, so herrscht Freude ohne Verwirrung. Wenn man über die Wünsche den Weg vergißt, so herrscht Unklarheit und keine Freude.

Darum kehrt der Edle zu den ursprünglichen Gefühlen zurück, um dadurch seine Absicht in Harmonie zu bringen. Er macht weiten Gebrauch von der Musik, um dadurch die Erziehung zu vollenden. Wenn die Musik herrscht und das Volk dadurch veredelt wird, so kann man daran die Lebenskraft des Herrschers schauen. Die Lebenskraft ist die Äußerung der Seele. Die Musik ist die Blüte der Lebenskraft. Die Instrumente aus Metall und Stein, aus Saiten und Bambusrohr sind die Geräte der Musik. Die Lieder drücken die Absichten aus, in den Gesängen ertönen die Laute, und die Tänzer bewegen sich nach der Art, wie der Herrscher sich benimmt. Alle diese drei Dinge haben ihre Wurzeln im Herzen, und dann erst werden sie durch die Musikinstrumente zum Ausdruck gebracht.

Darum: Wenn der Herrscher in seinen Gefühlen rein und tief ist, so ist (seine Musik) schön und klar. Wenn seine Kraft stark ist, so wandelt er die Menschen auf wunderbare Weise. Wenn Harmonie und Anpassung sich im Innern konzentrieren, so entfalten sich ihre Blüten nach außen. Die Musik duldet keine Heuchelei.

Die Musik ist die Bewegung des Herzens. Die Laute sind die Bilder der Musik. Die Schönheit und Farbigkeit, der Rhythmus und Takt sind der Schmuck der Laute. Der Edle bewegt erst die Wurzel, dann faßt er die Lautbilder musikalisch zusammen, dann erst ordnet er den äußeren Schmuck. Darum beginnt die Musik (des Königs Wu)9 zuerst mit einem Paukenwirbel, um die Aufmerksamkeit zu erregen; dann kommen drei Schritte, um die Richtung zu zeigen; dann fängt der Paukenwirbel wieder an, um den Ausmarsch anzudeuten; dann kommt ein abermaliges Zusammenspiel (mit Glocken), um die Rückkehr zu versinnbildlichen. Die Bewegungen[83] sind leidenschaftlich und rasch, aber nicht hastig. Der Sinn des Ganzen ist sehr tief, aber nicht verhüllt. Die Musik bringt zum Ausdruck, wie der König mit Freuden seine Absicht verfolgt und, ohne müde zu werden, auf seinem Wege weiterschreitet, wie er den Weg bis zum Ende durchläuft, seiner Wünsche Befriedigung nicht für sich allein erstrebt. So werden seine Gefühle sichtbar, und der Sinn steht fest. Die Musik endet, und die Tugend wird geehrt. Die Edlen werden dadurch bestärkt in der Liebe zum Guten, und die Gemeinen vernehmen dadurch, was falsch ist. Darum heißt es: Um das Volk auf den rechten Weg zu bringen, ist die Musik das Wichtigste.

Die Musik ist Wirkung, die Sitten sind Rückwirkung. In der Musik freut man sich seines Ursprungs, und in der Sitte kehrt man zurück zu seinem Anfang. Die Musik preist die Tugend, und die Sitte dankt der Gnade; das ist die Rückkehr zum Anfang.

7

der vier Himmelsrichtungen und der vier Nebenrichtungen

8

d.h,. bald liegt die Melodie in der oberen Stimme, bald in der unteren.

9

Die Musik des Königs Wu war die symbolische Darstellung der Kämpfe um die Herrschaft, die er mit dem Tyrannen Dschou Sin geführt hatte, und der darauffolgenden Siegesfeier.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 81-84.
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