Klagelied des Fürsten Sjúi.1

[438] Der zarte Maulbeer, dicht und groß,

Wie deckt' er drunten weite Schicht!

Nun steht er leergepflückt und bloß.

Voll Jammer ist des Volks Gesicht,

Und mein Betrübniß gränzenlos,

Da mir das Herz vor Mitleid bricht.

Du hoher Himmel, hehr und licht,

Erbarmest du dich unser nicht?


Die Hengstgespanne stürmisch jagen,

Schlangen und Vogelbanner weh'n.

Aufruhr entsteht, nicht auszutragen;

Kein Land, das nicht zu Grund will geh'n.

Das Volk muß schwarzem Haar entsagen,

Vor Elend ist's aschfarb zu seh'n.

O wehe, wie ist das zu klagen!

Wie eilt des Reiches Niedergeh'n!


Sein Niedergeh'n ist nicht zu wenden,

Der Himmel will sich uns entzieh'n.

Kein Ort ist, wo wir Ruhe fänden;

Wer fort will, wohin soll er zieh'n?

Wenn edle Männer sich verbänden,

Würd' aller Streit der Herzen flieh'n.

Wer mußt' auf Unheilsweg' uns senden,

Bis daß es kam zu dem Ruin?
[439]

In Kummer ist mein Herz verloren,

Das meines Heimathlands gedenkt.

Zur Unglückszeit bin ich geboren,

Des Himmels Zornwuth zugelenkt.

Vom West bis zu des Aufgangs Thoren,

Da ist kein Ort, der Ruhe schenkt.

Viel' sind der Trübsal' uns erkoren,

Und uns're Gränzen hart bedrängt.


Nun hältst du Rath, willst sorgen lassen,

Indeß der Aufruhr wächst und ficht.

Ich zeigte dir des Elends Massen,

Ich wies dir jedes Dienstes Pflicht.

Weß Hand kann Glühendes erfassen,

Taucht er's zuvor in Wasser nicht?

Und wie kann Einer Heilung bringen,

Wenn Alles schon zusammenbricht?


So geht man wider scharfen Wind

Und kann nicht hinter'n Athem kommen.

Wer vorzugeh'n auch ist gesinnt,

Muß sagen: es kann nicht mehr frommen; –

Er zeigt sich Sä'n und Ernten hold,

Nimmt Handarbeit statt Ehrensold

Und Saat und Ernt' ist ihm so werth,

Daß er nicht Ehrensold begehrt.


Der Himmel sendet Tod und Wirren,

Vernichtet unser Königshaus,

Schickt Würmerfraß der Saat im Lande,

Und schlimm sieht Sä'n und Ernten aus.

Ach weh' dem armen Mittellande!

Denn Alles sinkt in Schutt und Graus.

Und auch zu gar nichts mehr im Stande,

Gedenk' ich des gewölbten Blau's.
[440]

Ist hier ein wolgesinnter Herrscher

Der will auf Volk und Leute seh'n,

Der faßt ein Herz, hat reife Pläne,

Forscht Männern nach, ihm beizusteh'n.

Ist aber da ein Unfügsamer,

Der Alles selbst glaubt zu versteh'n;

Der will nur auf sein Innres seh'n,

Und macht das Volk schier untergeh'n.


* * *


Wir sehen, wie vom Wald umschlossen

Die Hirsche leben unzertrennt;

Sind aber treulos die Genossen,

Daß Keiner Andern Gutes gönnt,

So ist ein Sprüchwort bei den Leuten:

Fortschritt und Rückschritt sind zu End'.


Der Eine ist ein weiser Mann,

Der blickt und spricht viel' Meilen weit;

Der Andre ist ein stumpfer Mensch,

Der nur an Thorheit sich erfreut.

Doch wer unfähig nicht des Sprechens,

Warum hat der den Haß gescheut?


Der Eine ist ein biedrer Mann;

Den sucht man nicht, der rückt nicht vor.

Der Andre ist ein hartes Herz,

Deß wird gedacht, der steigt empor.

Da bringt ein aufruhrlüstern Volk

Mit Freuden Gall' und Gift hervor.


Der Sturm hat Wege, die er rauscht,

Wo er aus offnen Thälern dringt.

Der Eine ist ein biedrer Mann;[441]

Der geht an's Werk und ihm gelingt;

Der Andre ist ein Unfügsamer,

Der mitten in den Unrath bringt.


Der Sturm hat Wege die er rauscht;

Genossen stürzt, wen Habgier bauscht.

Wol spräch' ich, würd' auf mich gelauscht;

Nun stamml' ich Worte wie berauscht.

Daß man die Biedern nicht verwendet,

Das macht auch mich wie ausgetauscht.


Ach, meine Freund' und Amtsgenossen,

Ist mir denn unbekannt, was ich hier angeregt; –

Wie wenn von fliegenden Geschöpfen

Zufällig Eins der Pfeil erlegt?

Ich geh' drauf aus, euch zu beschirmen,

Und bin's, der euch zum Zorn bewegt.


Des Volkes schrankenloses Trachten,

Durch schlaue Gleißner ist's entfacht.

Sie thun dem Volke nicht was nützet,

Als wär' es nicht in ihrer Macht.

So ist das Volk auf schlechte Wege

Wetteifernd mit Gewalt gebracht.


Des Volkes Unbeständigkeit

Kommt von der Räuber Plünderungen.2

Die Gleißner sagen: »Kann nicht sein;« –

Und hinterrücks giebt's Lästerungen.

Sagt ihr nun gleich: »Das trifft nicht uns!«

Hab' ich doch euch dieß Lied gesungen.

1

Leâng-fū, Fürst von Sjúi, lebte unter König Lí. S. III. 3, 1. Anm. 1.

2

Die Räuber sind diejenigen Beamten, welche ihr Amt zur Ausraubung des Volkes mißbrauchen.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 438-442.
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