[36] Das nachfolgend Mitgetheilte soll wesentlich dazu dienen, die Beziehungen unsrer Lieder auf überlieferte oder gleichzeitige Ereignisse im Zusammenhange zu erläutern. Es kann ich jedoch schon des Raumes halber nur auf die Kaisergeschichten erstrecken. Von den einzelnen Fürstenhäusern ist das Nöthige bei den Liedern selbst angemerkt.
Die Nachrichten von Kaisern, welche vor dem 24. Jahrh. v Chr. geherrscht, sind sagenhaft und zumeist Erdichtung. Auch was von den Kaisern Jâo, Schün und den Anfängen Jü's (2356-2204) erzählt wird, dürfte kaum verläßliche Geschichte heißen. Merkwürdigerweise wird aus derselben Zeit, in welcher nach der Bibel die Sintfluth stattgefunden, eine ungeheure Überfluthung China's erwähnt, deren Gewässer Jü, noch ehe er Kaiser geworden, abgeleitet und geordnet habe. Gesichert dürfte sein, daß mit ihm um 2204 die Dynastie der Hia beginnt, welche bis 1765 herrschte. Der Letzte derselben war Knèi, dessen Gedenkname für Geschichte und Nachwelt Kiĕ, d.h. der Grausame, wurde. Da seine Ausschweifungen, seine Verschwendung und Grausamkeit das ganze Reich mit Entsetzen, Elend und Zerrüttung erfüllten, so erhub sich gegen ihn, aufgerufen von den Großen und dem Volke, der edle, schon bejahrte Fürst von Schāng, Tschhîng Thāng, schlug und verjagte den Tyrannen und stiftete die Dynastie der Schāng, später auch Jīn genannt. Von dem an nannten sich die Beherrscher des Reichs Könige (wâng), während sie bis dahin Kaiser (tí) hießen. Auf diese zweite Dynastie beziehen sich die Lieder IV., 5, 1 bis 5. Sie hatte das Reich von 1732-1121 inne, sollte aber ähnlich endigen wie die erste. Im Jahre 1153 kam Tscheü-sīn, auch Scheu genannt, zur Regierung ein wilder, leidenschaftlicher Mensch, tief verderbt, jedem Laster[37] ergeben. Ohne sich um das Reich viel zu kümmern, überließ er sich sammt seinem schönen Weibe, der ebenso habsüchtigen als verschwenderischen, ebenso wollüstigen als grausamen Tăkl, den gräuelvollsten Orgien, den räuberischesten Bedrückungen, den unmenschlichsten Blutthaten, so daß er den Zorn und Haß Aller erregte, die nicht gleiche Verderbtheit mit ihm verband, und nur die traditionelle Unterwürfigkeit gegen den »Himmelssohn« erklärt die zweiunddreißigjährige Dauer seiner Regierung.
Schon jedoch war aus kleinen Anfängen ein Geschlecht emporgekommen, das ihm ein Ziel setzen und dann das Reich 873 Jahre hindurch beherrschen sollte. Sein Ursprung wird zurückgeführt aus den sagenhaften Héu-tsĭ, welcher, wundersam geboren, der erste Ackerbauminister Jâo's gewesen, von Schün zum Fürsten von Thāi gemacht sein soll, und als Schutzheiliger des Landbaues verehrt wurde. Sein Nachkomme Pŭ-tschuě, so wird erzählt, verlor unter den Hía sein Land und flüchtete mit einem Theil seines Volks zu den wilden Horden jenseit der Westgränzen. Fürst Liêu brachte die Seinigen 1796 in das Reich zurück und ließ sich in der kleinen Gebirgsherrschaft Pīn im Nodwesten des Reichs mit ihnen nieder, wo sie in Erdhöhlen wohnend das Land anbauten und sich allmählich vermehrten. Von ihm stammte der »Altfürst« Tàn-fù, auch Thái geheißen, der mit seinem Volke um 1326 Pīn verließ, gen Sudosten zog und am Fuße des Khîberges die Stadt Tschēu baute, von der sein Geschlecht und sein Geblet den Namen erhielt. Die vorzügliche Einrichtung seiner Verwaltung bewog eine Anzahl benachbarter Fürsten, sich ihm in einer Art Abhängigkeitsverhältniß anzuschließen. So begründete er auf friedlichem Wege die künftige Größe von Tschēu und erreichte ein hohes Alter.
Mit Übergehung seiner beiden älteren Söhne Thái-pĕ und Tschūng-jūng ernannte Tàn-fù seinen dritten Sohn Kí zu seinem Nachfolger und starb 1229. Kí war mit der zweiten Tochter des Fürsten von Tschí, Thái-Sjîn, einer ausgezeichneten Frau[38] vermählt. Unter seinem milden und einsichtsvollen Regiment wuchs Ansehn und Umfang von Tschēu. Als Feldherr des Königs noch hoch bejahrt siegreich und zum Hêu erhoben, starb er im Jahre 1184.
Ihm folgte sein Sohn Tschhāng, der »Westfürst« (Sī-pĕ) genannt, bekannter und vielgepriesen unter dem Gedenknamen »König Wên«, eine edle großartige Persönlichkeit, deren Eindruck auf die chinesische Welt drei Jahrtausende nicht ausgelöscht haben. Frommer Verehrer des Höchsten HErrn, von tadelloser Sittlichkeit, eben so würdevoll sich selbst wie Andre beherrschend, unermüdlich thätig für das Wol seiner Unterthanen, dabei hochsinnig und geistreich, gerecht und barmherzig, war Wên allem Guten und Schönen zugethan ein großer Freund der Natur, ein eifriger Förderer der Gesittung sowie der Wissenschaften und Künste beides, des Friedens und des Krieges. Ausgezeichnete Mitlebende, von ihm angezogen, schlossen sich ihm an. Freiwillige Unterwerfung von Nachbarfürsten vergrößerte fortwährend sein Gebiet. Im Jahre 1167 schickte ihn der damalige König Tíjĭ gegen die westlichen und nördlichen Gränzhorden, die das Reich beunruhigten. Wên, obgleich an der Spitze eines beträchtlichen Heeres, wußte sie durch sein kluges und edles Verhalten ohne Blutvergießen zur Unterwerfung zu bringen. Aller Augen waren bewundernd und liebend auf ihn gerichtet.
König Schéu im Anfange seiner Regierung ertheilte ihm die höchste Fürstenwürde eines Kūng. So sehr die Scheußlichkeiten dieses Tyrannen ihn später empörten, Wên blieb seiner Lehnpflicht getreu. Allein er hatte gewagt eine der entsetzlichsten Gräuelthaten des entmenschten Königspaares entrüstet mißbilligen, und dieß wurde. Schéu hinterbracht, der ihn sofort einkerkern ließ. Er widersetzte sich nicht, wie er wol gekonnt hätte, und sagte: »Wird ein Kind vom Vater nicht geliebt, so ist es darum nicht entbunden von dem Gehorsam und der Ehrerbietung, die es ihm schuldet; und hat ein Unterthan[39] Grund, seines Fürsten Verhalten zu mißbilligen, so ist er darum nicht berechtigt, ihm die Treue zu versagen.« – Im Gefängnisse verfaßte Wên den ersten Grundtext des Jĭ-kīng, in dessen kurze orakelhafte Sprüche er seine Gedanken über Zeiten und Menschen hineinräthselte. Nach drei Jahren suchte sein Sohn Fă ihm beim Könige die Freiheit zu erwirken durch Geschenke, denen Andere noch eine sehr schöne Jungfrau gesellt, bei deren Anblick Schéu Alles gewährte. Befreit und mit neuen höheren Ehren ausgestattet kehrte Wên in seine Lande zurück.
Kurz darauf, 1140 begaben sich die Fürsten von Jû und von Sjúi nach Tschēu, um über eine Streitigkeit Wên's Entscheidung zu erbitten. Die große Ordnung, allgemeine Bildung und feine Sitte im Lande und zumal im Palaste machten einen so überwältigenden Eindruck auf sie, daß sie nicht allein ihren Streit sofort ausglichen, sondern auch bald nachher mit vierzig anderen Fürsten sich Wên unterwarfen.
Nachdem er in den nächsten Jahren das wilde Gränzvolk der Mĭ, das in seine Lande eingefallen, siegreich zurückgeworfen, und gegen seinen aufständischen Vasallen von Ts'hûng einen raschen Feldzug glücklich beendigt hatte, baute er südlich vom Wéiflusse die Stadt Fūng, in die er seine Residenz verlegte. Dort war sein großer schöner Park mit Wild, Fischteichen und Schwänen, sein hoher Thurm mit Sternwarte, seine sorgsam gepflegte Hochschule Seine Gemahlin Thái-ssè von Jeù-sïn hatte ihm zehn Söhne geboren. Der Älteste starb jung. Den Zweiten, Fă, dem die Nachwelt den Gedenknamen »König Wù«, d.i. der »Kriegskönig« gegeben, bestimmte Wên zu seinem Nachfolger. Der Vierte und Begabteste war Tán, später Fürst von Lù, berühmt unter dem Namen des »Tschēufürsten« (Tschēukūng). Wên starb im Jahre 1134, siebenundneunzig Jahre alt, seine Lande, welche nun fast zwei Dritttheile des Reichs umfaßten, seinem Sohne Fă oder Wù hinterlassend. Auf ihn und seine Zeit beziehen sich folgende meist dem Tschēu-Fürsten[40] zugeschriebene Lieder: I. 1, 1-11. 2, 1-4, 5 (?), 6-12, 14. II. 1, 1-3, 5-9. III. 1, 4. 5. 8.
Als Wù nach dreijähriger Trauerzeit sich vermählt hatte und Vater eines Sohns geworden war, drangen viele Fürsten in ihn, der blutigen Thrannei Schéu's und Tă-kì's ein Ende zu machen. Wù zögerte lange, obgleich ihm bald neue unerzählbare Gräuel jener Scheusale zu Ohren kamen. Der Himmel, sagte er, habe ihm seinen Willen noch nicht kundgethan. Würdige Männer aus der Nähe des Königs sahen dessen Untergang voraus. Ihre Ermahnungen vergalt er mit Tod oder Kerker. Aus gleichem Grunde mit Gleichem bedroht, floh Khì, Fürst von Wêi, ein Bruder Schéu's, mit sämmtlichen Opfergefäßen nach Tschēu und trat, eine Kette um den Hals, vor Wù, dem er die Gründe seiner Flucht mittheilte. Wù selbst nahm ihm die Kette ab, ehrte ihn seiner Würde gemäß und mochte in diesem Ereignisse nun wol des Himmels Zeichen erkennen, so daß er dem erneueten Drängen vieler anwesenden Fürsten nicht länger widerstand. Nachdem er im Frühling 1121 dem Höchsten HErrn ein feierliches Opfer gebracht, zog er an der Spitze seines Heeres, das gegen achthundert Fürsten mit ihren Truppen verstärkten, bei Méng-tsīn über den Hoâng-hô gen Osten. Schéu führte ihm ein zahlloses Heer entgegen und auf der Ebene von Mŭ kam es zur Schlacht, welche furchtbar und blutig war, aber noch denselben Tag mit dem glänzenden Siege Wù's endete. Schéu floh, verschloß sich in seinem Palast, ließ ihn anzünden und kam in den Flammen um. Sein Sohn Wù-kēng begab sich gefesselt und seinen Sarg neben sich im Wagen zu dem Sieger, der ihn gütig empfing, ihm die Fesseln abnahm und den Sarg verbrennen ließ, auch sofort Truppen nach der Hauptstadt sandte, um dort den Brand zu löschen. Diesen fiel unterwegs die Königin Tă-kì in die Hände, die sich soeben im prächtigsten Schmuck frech genug zu Wú begeben wollte. Man nahm sie fest, meldete es Wù, und dieser befahl das Scheusal zu tödten.[41]
Nach Verkündung allgemeiner Straflosigkeit und nach Rückkehr aller Entflohenen, hielt Wù einen glänzenden Einzug in die Hauptstadt von Schlug, wo seine würdevoll freundliche Erscheinung, seine Milde und Freigebigkeit, seine Schonung alles herkömmlich Bestehenden, sodann die Heimsendung aller Mädchen und Frauen des Palastes an ihre Eltern, endlich die Ehre, die er edlen Todten und Lebenden erwies, ihm die Zuneigung und das Vertrauen der Bevölkerung gewann. Darauf kehrte er nach Fūng zurück, entließ das Heer und zeigte, daß er nur Frieden wolle. Auch war es nicht seine Absicht, dem Hause Schāng die Oberherrschaft zu entreißen. Als ihm aber das Volk aus allen Reichenden Huldigungsgeschenke zutrug, als alle Fürsten und Großen des Reichs kamen und ihn einstimmig als »Himmelssohn« begrüßten, so glaubte er darin des Himmels Willen zu erkennen und übernahm nach einem großartigen Opfer für den Höchsten HErrn feierlich diese Würde. So begann mit ihm im Jahre 1121 die Dynastie der Tschēu.
König Wù verlegte die Residenz von Fūng nach Haó, wo er sofort niedere und höhere Schulen einrichtete, die für alle Stände bestimmt waren und die sein eigner Sohn besuchen mußte. Dann ordnete er die Verhältnisse der Lehnfürsten, bestimmte den Gebietsumfang für die fünf Rangklassen und traf eine neue Eintheilung aller Reichende, wornach er einundsiebzig neue Lehnfürstenthümer vergaben konnte. Fünfundfünfzig erhielten Mitglieder seiner Familie, darunter seine Brüder, die übrigen verlieh er Nachkommen der alten Kaiser und der beiden letzten Dynastien. Schéu's Sohn Wù-kēng erhielt Schāng. Alle erinnerte er an ihre Pflichten, sich selbst am meisten, indem er Alles, was ihn umgab, mit mahnenden Sinnsprüchen versehen ließ.
Im folgenden Jahre erkrankte er tödtlich. Da bot sein Bruder Tán, der Tschēufürst, insgeheim in feierlicher Handlung dem Himmel sein eignes Leben für das Leben des Königes[42] und ließ in die Goldkiste, welche die Geheimnisse des Königshauses einschloß, eine Urkunde darüber von dem Reichsgeschichtschreiber niederlegen. Tags darauf genas Wù. Allein schon nach sechs Jahren, 1114, starb dieser weise und edle König, nachdem er den Tschēufürsten zum Vormund und Regenten für seinen noch sehr jungen Sohn ernannt hatte. In seine Zeit fallen die Lieder: I. 2, 13. II. 2, 3. III. 1, 3. 6. 7.
Der Tschēufürst sorgte gewissenhaft, daß sein königlicher Neffe, von der Nachwelt Tschhîng genannt, zu allen fürstlichen Tugenden herangebildet werde, ließ ihm auch sogleich nach der Bestattung Wù's von sämmtlichen Fürsten, Großen und Beamten huldigen. Bald aber wußten drei seiner Brüder, die seine hohe Stellung neideten, ihn bei dem jungen Könige zu verdächtigen. Da er seine Einwirkung auf diesen hierdurch gelähmt sah, ja für sein Leben fürchten mußte, so zog er sich nach Osten in die Einsamkeit zurück. Dort verfaßte er den zweiten Grundtext des Jĭ-kīng und sandte im folgenden Jahre sein Eulenlied (I. 15, 2) an den König. In demselben Herbst trat ein schweres Unwetter ein, das die ganze Ernte zu vernichten drohte. Bei diesem Anlaß ward die Goldkiste geöffnet und es fand sich die oben erwähnte Urkunde, deren Inhalt von dem Reichsgeschichtschreiber und andern Mitwissenden bestätigt wurde. Da erkannte Tschhîng sein Unrecht, die edle Treue seines Oheims, und holte ihn selbst, von großem Gefolge begleitet, reumüthig zurück.
Nun erhoben sich jene drei Brüder des Tschēufürsten mit den Waffen und ihnen verband sich Wù-kēng von Schāng. Gegen sie sandte der König sein Kriegsheer unter dem Tschēufürsten, der sie schlug und Wù-kēng gefangen nahm. Tschhîng bestrafte diesen mit dem Tode und belehnte dessen Oheim, den Fürsten von Wêi, unter Rangerhöhung mit Wù-kēng's Lande. Von den drei Brüdern starb der älteste gleich nach verlorener Schlacht, die beiden andern wurden mäßig gestraft, die siegreichen Truppen wol belohnt. Einige andere Aufstände wurden[43] rasch niedergeworfen, und 1108 verlegte Tschhîng seinen Hof nach Lŏ-jâng.
In den folgenden Friedensjahren entwickelte der Tschēufürst unter des Königs Namen sein großes Organisationsgenie, dem das Reich den größten Theil jener Einrichtungen, die wir bereits kennen, und der König, der ursprünglich Súng hieß, seinen Gedenknamen Tschhîng, d.h. der »Vollender« dankt. Der Tschēufürst war einer der weisesten, edelsten und begabtesten Männer, die China je gehabt, seine Lieder und Gesänge gehören zu den schönsten des Schī-kīng, und seine Institutionen, Lehren und Reden haben noch heute normatives Ansehen. Innig betrauert von seinem königlichen Neffen verschied der große Mann im Jahre 1105 und vererbte sein Fürstenthum Lù seinem ältesten Sohne Pĕ-Khîn. In tiefem Frieden, mit aller Sorgfalt sich der Regierung widmend, Wên und Wù würdig als Dritter beigezählt, waltete Tschhîng bis 1077, in welchem Jahre er starb.
In seine Zeit fallen folgende Lieder: I. 15, 1-7. II. 1, 4. vielleicht auch 2, 5. 7. 9. 10. 3, 1 und 2. Ferner: III. 1, 1. 2. 9. 10. 2, 1-8. IV. 1, 1-10. 2, 1-10. 3, 1-11. Die meisten davon werden nicht ohne Grund dem Tschēufürsten zugeschrieben.
Tschhîng's Sohn Khāng führte eine ruhige väterliche Regierung, unter der das Reich in Frieden und Wolstand blühte. Er starb 1051. Ihm folgte sein Sohn Tschāo der, die Herrscher pflichten vernachlässigend, seiner Jagdleidenschaft lebte, ihr zu Liebe Felder und Ernten der Unterthanen schonungslos verwüstete und es nur der Anhänglichkeit des Volks an seine Vorfahren verdankte, daß ihn die Rache dafür erst nach fünfzigjähriger Regierung traf. Denn als er im Jahre 1000 gegen aufrührische Stämme im Süden über den Hán ziehen wollte, baute das Volk die Brücke über diesen Fluß so, daß sie unter ihm und feinem Gefolge einstürzte. Obgleich vom Ertrinken gerettet, starb er doch an den Folgen dieses Sturzes.[44]
Sein Sohn und Nachfolger Mŭ erregte anfangs gute Hoffnungen ergab sich dann aber ganz der Liebhaberei für Jagd, Pferd und Vergnügungen und überließ die Regierungsgeschäfte den Ministern. Als die Lehnfürsten allmählich den Mangel eines straffen Regiments fühlten und sich Unzuständigkeiten herausnahmen ermannte sich Mŭ, und führte sie ernstlich zu ihrer Pflicht zurück. Im Jahre 966 brachen die westlichen Wüstenhorden plündernd in das Reich ein. Anstatt sie durch ein mäßiges Heer zurücktreiben zu lassen, zog ihnen der König mit seiner ganzen Kriegsmacht entgegen. Als er aber anlangte, waren die Feinde schon wieder in ihre Wüsten verschwunden und der ganze Erfolg der gewaltigen Schilderhebung war eine Jagdbeute von vier Wölfen und vier weißen Hirschen. Enttäuschung und Scham brachten den greisen König zur Besinnung, so daß er von nun an mit Ernst seine Pflichten wahrnahm, die Vasallen gehörig zu zügeln und eine strenge und gerechte Strafrechtspflege herzustellen suchte.
Als er im Jahre 945, hundert und vier Jahre alt, starb, folgte ihm sein Sohn König Kūng, der im Ganzen für friedliche und gesetzliche Zustände sorgte und bis 933 lebte. Es finden sich im Schī-kīng keine Lieder, die mit einiger Sicherheit in den Zeitraum von 1077-933 gesetzt werden könnten.
Kūng hinterließ das Reich seinem Sohne Jí, einem stumpfen unthätigen Menschen, dessen einzige Handlung war, daß er seine Residenz nach Hoâi-lì verlegte. Aus seiner träumerischen Schlaffheit brachten ihn weder die wiederholten Einfälle der wilden Nachbarhorden, noch die vielen Stachelverse und Spottgedichte, die auf ihn gemacht wurden, wol aber diente beides dazu, sein Regiment verächtlich zu machen und das königliche Ansehen herabzubringen. In sein Zeit fallen wahrscheinlich die Lieder I. 8, 1-5.
Bei seinem Ableben 908 ließ er nur sehr junge Söhne nach und es bemächtigte sich sein Bruder Hiáo des Thrones, der aber über seine maßlose Pferdeliebhaber alle Staatsgeschäfte[45] vernachlässigte. Als er 893 starb, setzten die Fürsten und Großbeamten des Reichs seines Bruders und Vorgängers ältesten Sohn Jî ein, einen gutmüthigen, aber schwachen und schüchternen Mann, der seine Würde ungebürlich vernachlässigte, so daß das königliche Ansehn immer mehr sank. Die Fürsten fingen an, ihre Huldigungsbesuche zu versagen, sich mehr und mehr unabhängig zu machen und sich untereinander zu bekriegen. Ja, der Fürst von Ts'hù maßte sich sogar den Königstitel an und belehnte seine Söhne mit eroberten Landen, ohne daß Jî sich dagegen rührte. In die Zeit Jî's hat man die Lieder I. 13, 1-4 setzen zu dürfen geglaubt.
Sein Sohn Lí, der ihm 877 nachfolgte, war ein gewaltthätiger, habsüchtiger, argwöhnischer Mann, auf geringen Verdacht hin mit Todesstrafen bereit, doch nicht kühn genug, die Anmaßungen von Ts'hù niederzudrücken. Als er seine Truppen gegen die Horden am Hoâi-Flusse sandte, deren Raubzüge das Reich schädigten, wurden sie 866 von den Gegnern unter großem Verlust geschlagen. Die Eigenmächtigkeiten und Gesetzwidrigkeiten in den Fürstenthümern währten fort, und die Habsucht des Königs drückte das Volk mit solchen Lasten und Erpressungen, daß die entrüsteten Fürsten seit 859 alle Huldigungsbesuche einstellten. Scháo, einer der drei höchsten Staatsmänner, machte ihn mit der allgemeinen Unzufriedenheit bekannt, da er aber diejenigen, welche sich in diesem Sinne geäußert hatten, nicht nennen wollte, so ließ der erzürnte König sie sich durch Wahrsager bezeichnen und die Bezeichneten hinrichten. Als nun vor dem allgemeinen Schrecken Jedermann verstummte und Lí gegen seinen Warner darüber triumphirte, vertheidigte dieser offen die Schreib- und Redefreiheit. »Dem Volke den Mund verschließen«, sagte er, »ist gefährlicher als einen Bergstrom zudämmen, dem man vielmehr ein genügendes Bett zum Abfluß graben muß. Nur wer die Stimmung und Gesinnung der Menschen hört und beachtet, kann gut und glücklich regieren.« Der König blieb auf seinem Sinn; aber 841 brach[46] nach dreijährigem finsteren Schweigen de verhaltene Ingrimm des gedrückten Volkes los. In wüthenden Massen erstürmte und verwüstete es den königlichen Palast, und da es den König nicht fand, der sich während des Tumults geflüchtet hatte, so verlangte es dessen jungen Sohn Tsíng zu tödten. Es erfuhr Scháo habe ihn in seinem Hause verborgen und es strömte dahin. Da der treue Mann kein andres Mittel sah, den Sproß des Königshauses vor der tobenden Masse zu retten, die schon Anstalt machte sein Haus zu stürmen, so überlieferte er ihr als den Gesuchten seinen eignen gleichaltrigen Sohn. Weinend sah er ihn in Stücke zerrissen, den Thronerben aber gerettet, den er nun im Verborgenen sorgfältig erzog. Denn als die Rache des Volks befriedigt war, ergriff er selbst mit seinen Amtsgenossen die Zügel der Regierung und führte sie musterhaft fünfzehn Jahre lang, während Lí als Vertriebener in dem entlegenen Fürstenthum Tschí lebte, wo er 826 starb. Aus Lí's Zeit sind die Lieder I. 12, 1. 2. vielleicht auch II. 4, 10. sowie 5, 1 und 2; sicher III. 2, 9. 10. 3, 1. 3. In die Zeit der Ministerregierung soll I. 10, 1 fallen.
Nach Lí's Tode versammelten die treuen Staatsminister alle Beamten im Palaste, stellten ihnen den bis dahin unbekannt gebliebenen Thronerben vor und setzten ihn in die Regierung ein, was nun auch das Volk pries. Der junge König, den die Nachwelt Siuân nannte, ergriff die Herrschaft kräftiger Hand und wußte die meisten Fürsten zu einer Lehnspflicht zurückzuführen Er sandte sogleich wolgerüstete Heere gegen die westlichen und nördlichen Barbarenvölker, die in das Reich eingedrungen waren, und die glücklichen Erfolge seiner Feldherrn preisen unsre Lieder. Im Jahre 824 errichtete er zum Schutz der Südgränzen das Fürstenthum Hân, 823 zum Schutz der Westgränzen das Fürstenthum Schīn, nachdem Scháo dort die feste Stadt Siè gebaut, und 822 ließ er im Osten des Reichs die Stadt Ts'hî befestigen. Wie er bei einer anhaltenden furchtbaren Dürre sich mit Buße und Gebet vor dem[47] Himmel demüthigete, fand allgemeine Anerkennung. Bald darauf bestürmten die kriegerischen Westbarbaren abermals das Reich, schlugen das ihnen entgegengesandte Heer und tödteten den Feldherrn selber, dessen Söhne jedoch mit einem neuen Heere den Vater in einem glänzenden Siege rächten. Nun versuchte Siuân, die Fürsten wieder in gehörige Unterthänigkeit zu ziehen und lud sie 819 zur festlichen Jagd nach Lŏ-jâng. Obwol die meisten huldigend erschienen, fuhren sie heimgekehrt dennoch fort, sich als unabhängig zu benehmen. Streitigkeiten und Gewaltthaten erfüllten die Lande, das Volk litt schwer darunter, und Siuân, verzweifelnd an seiner Macht, den Gehorsam zu erzwingen, ließ endlich Allem den Lauf und ergab sich den Vergnügungen in seinem Palaste. Indeß wußte die geistreiche Königin ihn zu neuer Thatkraft aufzuregen, so daß er seit 805 wieder entschiedener auftrat. Im Ganzen erreichte er jedoch wenige Eine verlorene Schlacht gegen die westlichen Tataren (788) schob man, wie manche andre Unfälle, auf Siuân's Vernachlässigung der jährlichen Pflügefeier zu Ehren des Höchsten HErrn. Doch schlug und vertrieb er die Feinde mit einem neuen Heere. Daß er den zunehmenden Unbotmäßigkeiten und Gewaltthaten der Fürsten nicht zu steuern vermochte, verbitterte und verfinsterte zuletzt sein Gemüth bis zu den härtesten Ungerechtigkeiten. Er starb im Jahre 780. Seiner Zeit werden mit mehr oder minder Gewißheit folgende Lieder zugerechnet: I. 4, 1. 11, 1. 12, 3. 4. 5. II. 3, 3-10. 4, 1-6. 8, 3. III. 3, 4-9.
Siuân's Sohn, König Jeū bewies wiederum, daß der Monarchie nichts mehr schadet, als die Monarchen. Blinde Leidenschaft für sein begünstigtes schönes Kebsweib Pāo-ssé unterwarf ihn deren verderblichen Launen, ja sie vermochte ihn, seine rechtmäßige Gemahlin, eine Fürstentochter von Schīn, von der er bereits einen erwachsenen Sohn hatte, zum Kebsweibe herabzusehen, Pāo-ssé zur Königin und deren Sohn zum Thronerben zu ernennen. Jî-kieù, der legitime Erbe, floh zu[48] seinem Großvater nach Schīn. Jeū's Regierung war würdelos, unklug, verschwenderisch. Die höchsten Ämter wurden mit gemeinen Creaturen der Pāo-ssé besetzt, das Volk von habgierigen Beamten ausgesogen, mit den Fürsten Gespött getrieben. Unbehindert durchzogen räuberische Barbarenhorden die Gränzgebiete. Endlich verbündete sich der Fürst von Schīn im Interesse seines Enkels und des Reiches 769 mit den Khiuàn-Tataren, griff mit ihrer Hülfe den König an und schlug ihn, Jeū selbst ward von den Khiuàn getödtet, Pāo-ssé Gefangene ihres Häuptlings. – Die der Zeit Jeū's zugeschriebenen Lieder sind II. 4, 7. 8. 9. 5, 3-10. 6, 1-4. 7, 1-10. 8, 1. 2. 4-10. III. 3, 10. 11.
Jî-kieù, nachmals P'hîng genannt, trat ohne Schwierigkeit die Regierung an, doch gelang es ihm erst mit Hülfe einiger mächtigen Fürsten, sich der übermüthig gewordenen Khiuàn zu entledigen. Er verlegte dann die Residenz wieder gen Osten nach Lŏ-jâng. Während seiner langen Regierung (769-718) war das Reich minderen Verwirrungen ausgesetzt, denn die große Zahl der Lehnfürsten hatte sich durch Eroberungen und Vergewaltigungen von Seiten der mächtigeren bereits auf 21 vermindert, die sich gegenseitig im Schach hielten, aber fast unabhängig regierten und sich schon Rechte anmaßten, die nur dem »Himmelssohne« zustanden. P'hîng war zu gleichgültig und unfähig, um die königliche Machtwürde wieder zu heben, sie sank deshalb immer mehr. Die Reichsgeschichte wird nun Geschichte der Fürstenthümer, die wir in ihren Verwicklungen hier nicht verfolgen können. Man setzt in P'hîng Zeit folgende Lieder: I. 3, 1. 2. 5, 1. 2. 3. 6, 1-5. 7. 7, 1-4. 6. 7. 8. 10, 2-8. 11, 2-5. III. 3, 2. Auch I. 9, 1-7 hat man in seine oder seines Nachfolgers Zeit verlegen wollen.
Huân, P'hîng's Enkel (718-695), eine kräftigere Natur, sah mit Unwillen das Reich durch erneute Kriege zwischen den Fürsten zerrissen und verwüstet. Er mischte sich wiederholt darein, doch ohne Glück. Raubzüge der wilden Nachbarhorden[49] mußten die Fürsten zurückweisen. Huân selbst hatte mit einem entlassenen rebellischen Feldherrn zu kämpfen. Entmuthiget durch vergebliche Anstrengungen, die Reichsgewatt wieder zur Geltung zu bringen, blieb er zuletzt unthätig daheim, während Noth und Elend die Länder heimsuchten. Seiner Zeit sind zugeschrieben worden die Lieder I. 3, 3-19. 4, 2-5, 5, 4. 5. 6. 8. 9. 6, 6. 8. 9. 7, 9. 13. 12, 6.
Tschuāng (695-680) gelangte gegen die Ränke eines jüngeren Bruders mit Mühe auf den Thron, den er lebenslang gegen Verrath und Treulosigkeit vertheidigen mußte. Wilde Kämpfe, Mord und Raub, Empörungen in den einzelnen Landen lösten einander ab. Es war eine Zeit der blutigste Wirren, der schamlosesten Unthaten. Der König war machtlos und endete ruhmlos. In seinen Tagen sollen die Lieder I.6, 10. 7, 10. 11. 12. 14-18, 8, 6-11 entstanden sein.
Unter Hī (680-675) währten dieselben Zustände fort. Sie gaben Veranlassung zu den Liedern I, 7, 19. 20. 21. 10, 9. 10.
Nicht besser war es unter seinem unwürdigen, treulosen und schwachen Nachfolger Hoéi (675-650), in dessen Regierungszeit die Lieder I. 4, 6-10. 5, 10. 7, 5. 10, 11. 12. 12, 7. 8. 14, 1. verlegt worden.
Siāng (650-618), gegen Hoéi's Willen von den Fürsten zum König erwählt, hatte schwere Kämpfe mit seinem älteren Bruder zu bestehen, den er zuletzt mit Hülfe des Fürsten von Ts'hîn schlug und tödtete. Kräftiger als seine Vorgänger, gelang es ihm unter vielen Schwierigkeiten, einigermaßen friedlichere und geordnetere Zustände herzustellen. Seiner Zeit schreibt man die Lieder I. 5, 7. 11, 6-10. 14, 2. 3. 4. IV. 4, 1-4 zu.
Unter einem späteren Könige Ting (605-584) entstand das Lied I. 12, 9 und vielleicht auch 10. –
Dieser kurz angedeutete geschichtliche Verlauf zeigt, wie bald die preiswürdigen Einrichtungen aus den Anfängen der Tschēu Dynastie in Verfall geriethen. Zwar blieb deren Überlieferung[50] immer eine Macht, an welcher sich die patriarchalische Regierung zeitweise wieder aufrichtete; allein wenn schon die besten Institutionen sich gegen Verirrungen, Leidenschaften und bösen Willen kraftlos erweisen, so ist es noch bedenklicher, dieselben gleich so zu gestalten, daß sie mit Nothwendigkeit große und edle Eigenschaften der Personen, denen sie anvertraut sind, voraussetzen. Nicht immer sind diese vorhanden, und schwach oder unfähig vertreten, vermag auch die vorzüglichste Institution nichts gegen die Machtgelüste Gewaltthätiger, die des Rechts Anderer ebenso spotten, als der eignen Gerechtigkeit.
Doch für weitere sich aufdrängende Betrachtungen ist hier nicht der Ort. Es werde nur noch bemerkt, daß in dem Vorstehenden die Zeitfolge der Lieder nach der von den chinesischen Gelehrten angenommenen Meinung bezeichnet wurde. In vielen Fällen ist sie zwar zweifellos richtig, oft aber auch nur aus der Stellung der Lieder innerhalb der Sammlung geschlossen, und häufig, wo die Lieder keine geschichtlichen Anhaltspunkte geben, bloß unsichere Vermuthung.
Buchempfehlung
Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro