Des Tschēu-Fürsten Eulenlied.

[241] König Wù (1122-1114 v. Chr.) hatte dem Sohne des letzten Kaisers der gestürzten Schāng-Dynastie, Wù-kēng, ein kleines östlich gelegenes Fürstenthum verliehen, und zur Hut der ehemaligen Lande der Schāng drei seiner eignen jüngeren Brüder bestellt. Nach seinem Tode verbündeten diese sich insgeheim mit Wù-kēng gegen den jungen Kaiser, König Tschhîng, ihren Neffen, und um zunächst den Reichsverweser, den Tschēu-Fürsten, dessen überlegenen Geist sie am meisten fürchteten, zu beseitigen, streuten sie Gerüchte aus, die ihn verdächtigten, und sorgten dafür, daß diese dem jungen Könige zu Ohren kamen. Sie blieben nicht ohne Erfolg und Tschhîng bewies seinem Oheim sein ganzes Mißtrauen; dieser jedoch, ohne sich leidenschaftlich dagegen zu vertheidigen (s. Lied 7 d.B.), zog sich gelassen in die östlichen Lande zurück, wo er zwei Jahre blieb. Als nun aber die Verschworenen in offene Empörung ausbrachen, sammelte er ein Heer gegen sie und unterwarf sie nach längeren hartnäckigen Kämpfen (s. Lied 4). – Die herkömmliche Erklärung setzt das Eulenlied in die Zeit nach diesem Siege; der Inhalt läßt einen früheren Zeitpunkt vermuthen.


Du Eule! o du Eule du!

Schon hältst du meine Jungen fest;1

Zerstöre nicht mein ganzes Nest!

Sie pflegt' ich, sie umklammert' ich,

Der aufgenährten Jungen jammert mich.


Bevor am Himmel schwarz die Regenwolken hingen,

Sah man mich Maulbeerfasern bringen

Und fest um Thür und Fenster schlingen.2[242]

Und jetzt, du niedriges Geschlecht,

Wagt Einer Schmach auf mich zu bringen?3


Mein' Klau'n erkrallten allestund,

Wo ich ein Hälmlein fassen kunnt',

Wo ich nur einzusammeln fund,

Bis mir der Schnabel völlig wund.

Ich sprach: Ich habe noch nicht fest des Hauses Grund.4


Nun sind die Schwingen mir verheert,

Nun ist der Schweif mir weggezehrt,

Gefahr ist in mein Haus gekehrt,

Das Wind und Regenfluth durchstürmt, durchfährt;

Mir bleibt nur noch ein Klagelied gewährt.5

1

Unter der Eule dürfte wol das ganze nächtig unheimliche Geschlecht der Empörer zu verstehen sein. Die »Jungen« sind die nachgeborenen in die Empörung verflochtenen Brüder des Tschēu-Fürsten, der in dem ganzen Liede den Charakter des Nest bauenden, behütenden und versorgenden Vogels beibehält.

2

Bis zu dieser Zeit der Unwetter hat er treulich für die Befestigung des jungen Königshauses gesorgt und sich dabei auf's äußerste abgemühet.

3

Diese Verse möchten beweisen, daß das Gedicht vor dem siegreichen Feldzuge abgefaßt sei.

4

Noch immer hingen Viele an dem gestürzten Königshause der Schāng.

5

Auch diese Strophe kann nur entstanden sein, als der Fürst die Dynastie in Gefahr und sich selbst hülflos erkannte.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 241-243.
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