Verhinderter Beileidsbesuch.1

[125] Fort wollt' ich jagen, fort im Flug,

Dem Fürsten Wéi's zum Trostbesuch.

Trieb' ich die Rosse scharf genug,

Erreicht' ich Tsáo ja ohn' Verzug.

Da kam ein Großer auf der Reise,2

Vor dem mein Herz geängstigt schlug.


»Da du's von mir nicht billigest,

Kann ich dahin nicht wieder lenken;

Ich seh', du hältst es nicht für recht,

Doch kann mein Sinn nicht anders denken.

Da du's von mir nicht billigest,

Kann ich auch über'n Fluß nicht kehren,

Ich seh', du hältst es nicht für recht,

Doch meinem Sinn ist nicht zu wehren.«
[126]

Ich skieg hinauf zu jenem Hügel,

Und pflückte schwermuthstillend Mâng.3

Liegt einer Frau was recht am Herzen,

So wählt sie eben jeden Gang.

Das hat das Volk von Hiü gescholten.

Die Meng' ist roh, ihr Urtheil krank.


Und würd' ich wandern durch die Auen,

Wo üppig grünt der Waizen drin;

Und kund es thun dem großen Lande: –4

Wem dürft' ich trau'n? wer ginge hin?

Ihr Großen all', ihr hohen Männer,

Sagt nicht, daß ich zu schelten sei!

Was alles ihr ersinnen möchtet,

Es käme meiner Hinfahrt doch nicht bei.

1

Eine Tochter Siuān-kiāng's war an den kleinen Fürsten Mŭ von Hiŭ vermählt. Da sie von der Verwüstung Wéi's gehört, will sie dahin eilen, um dessen Fürsten Trost zu bringen, wird aber durch die Begegnung eines Großen daran gehindert; denn allerdings galt es für unerlaubt, daß eine Frau nach dem Tode ihrer Ältern ihre frühere Heimath besuchte. Sie verzichtet nun zwar auf die Reise, kann aber ihre Meinung nicht aufgeben, daß sie mit derselben das Richtige gethan haben würde, und deutet fein an, daß das Urtheil gebildeter Männer doch ein anderes sein sollte, als das des gemeinen Volkes.

2

Dieser Große (Tá-fú, ein hoher Beamter) mochte selbst schon nach Wéi abgeordnet sein.

3

Mâng ist eine Art Kaiserkrone, deren Genuß Betrübniß heilen soll, – was in die Übersetzung aufgenommen wurde.

4

Das »große Land« wird für Thsî gehalten, welches damals das mächtigste Fürstenthum war.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 125-127.
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