[657] Die Dhyâna-bindu-Upanishad, d.h. »die Geheimlehre von dem Punkte (bindu des Anusvâra in Om), auf welchen sich die Meditation (dhyâna) bezieht«, enthält eine Einleitung und vier Teile.
Die Einleitung (v. 1-3) verheisst in zwei aus dem Zusammenhange Yogatattva 1-2 herübergenommenen und einem dritten, eigenen Verse als Frucht des Yoga Tilgung aller Sünde.
I. (v. 4-6). Die völlige Lautlosigkeit der Meditation entspricht der unendlichen Subtilität ihres Gegenstandes, welche an dem aus Çvet. 5,9 entlehnten Bilde von der gespaltenen Haarspitze erläutert wird.
II. (v. 7-10). Durch eine Reihe eigentümlicher und treffender Bilder wird gezeigt, wie der Âtman alle seine Erscheinungen durchdringt, allgegenwärtig im Ganzen wie in jedem einzelnen Teile. Der Schatten châyâ v. 10 gibt kein brauchbares Bild, und die Änderung in çâkhâ liegt nahe, wenn es auch nicht unbedenklich und nur durch das danebenstehende sakala zu rechtfertigen ist, nishkala das Teillose als Teil d.h. als Nichtganzes aufzufassen.
III. (v. 11-17). Nachdem v. 11-13 dia Meditation von Vishṇu, Brahmán und Çiva mit den drei Atemübungen pûraka, kumbhaka, recaka in Beziehung gesetzt worden, folgt v. 14-17 ein schwieriger Abschnitt, welchen ich mich nicht entschliessen kann mit Nârâyaṇa und Anquetil wiederum auf die Trias zu beziehen, da zu einer solchen Zerhackung der Verse der Text keinen Anhalt gibt. Vielmehr glaube ich, dass hier, im Gegensatze zu Vishṇu, Brahmán, Çiva, der Âtman selbst geschildert wird, wie er immanent die Welt durchdringt und doch transzendent (jenseits von Sonne und Mond) verharrt. Als Einzelseele (Lotosblume) wird er nach dem Tode ausgerissen und seinem Samen nach auf dem Pitṛiyâna und Devayâna zu Mond und Sonne getragen.
IV. (v. 18-23). In reichen, aber zum Teil entlehnten Bildern wird zum Schluss die Meditation von Om geschildert; v. 19 stammt aus Muṇḍ. 2,2,4, v. 20 aus Çvet. 1,14, v. 21 aus Amritabindu 13. Eigentümlich ist v. 22 der Vergleich des Herzens mit dem Brunnen, aus welchem (wie noch[658] heute in Indien) das Wasser mittels eines Strickes auf einer schiefen Ebene, gewöhnlich durch ein Paar Ochsen, heraufgezogen wird, bis es oben, ausgegossen, zur Ruhe kommt. So auch das Manas an dem Ort zwischen Augenbrauen und Nase als der Wohnstatt des höchsten Âtman, vgl. Jâbâla 2 (unten S. 708).
Vers 1-3. Wert des Yoga.
1.1 Des Yoga Wesenheit kundtun
Zum Heil der Yogin's will ich hier,
Wer dieses anhört und hersagt,
Der wird von allen Sünden frei.
2. Ein grosser Yogin heisst Vishṇu,
An Zauberkraft und Busse gross,
Als Leuchte auf dem Wahrheitsweg
Glänzt er, der höchste Purusha.
3. Wär' auch die Sünde gleich Bergen
Erstreckend viele Meilen sich,
Das Yogadenken dringt durch sie,
Nichts anderes durchdringt sie je.
Vers 4-6. Die Lautlosigkeit der Meditation entspricht der Subtilität des Brahman.
4. Höher ist als die Grundsilbe
Der Punkt, höher als er der Hall,
Die Silbe mit dem Laut schwindet2,
Lautlos die höchste Stätte ist.
5. Der Laut, der unangestimmt bleibt,
Was noch höher als dieser Laut, –
Der Yogin, der dies als höchstes
Denkt, dem lösen die Zweifel sich.
6. Ein Hunderttausendstel einer
Haarspitze, dieses Teils ein Teil,
Und von dem Teil noch die Hälfte,
So subtil ist das reine Sein.
[659] Vers 7-10. Brahman und seine Erscheinungen.
7. Wie der Duft ist in der Blume,
Wie die Butter ist in der Milch,
Wie das Öl ist im Ölsamen,
Wie das Gold in den Erzen ist,
8. So sind, wie an der Schnur Perlen,
Alle Wesen am Âtman fest,
Darum steht unverwirrt, festen
Geist's in Brahman, wer Brahman kennt.
9. Wie das Öl durch den Ölsamen,
Wie der Duft durch die Blume dringt,
So ist im Leibe des Menschen
Inwendig er und ausser ihm.
10. Den Baum begreife als Ganzes,
Der Zweig3 nur ein Nichtganzes ist,
Im Ganzen wie im Nichtganzen
Allenthalben der Âtman wohnt.
Vers 11-17. Vishṇu, Brahmán, Çiva und der sie alle befassende Âtman. Über pûraka, kumbhaka, recaka vgl. oben S. 650. 652 fg.
11. Vergleichbar einer Flachsblüte
Hat an dem Nabel seinen Sitz
Mit vier Armen der Held Vishṇu,
An ihn denkt bei der Füllung (pûraka) man.
12. Beim Einbehalt (kumbhaka) an ihn, dessen
Lotossitz in dem Herzen ist,
An Gott Brahmán, den Urvater,
Rotweiss, vierfachen Angesichts.4
13. Bei der Leerung (recaka) gedenkt des, der
Dreiäugig auf der Stirne thront,
Dem reinen Bergkristall ähnlich,
Sünden tilgend, von Stückwerk frei
[660]
14. Achtblättrig5, unterwärtsblütig,
Hoch den Stengel, gesenkt den Kelch6,
Der Bananenblüte ähnlich
Ist er, der Götter Inbegriff,
15. Verhundertfachend Blatt, Blüte,
Die Samenkapseln streuend rings,
Ihn denke jenseits der Feuer
Des Mondes und der Sonne7 man.
16. Die Lotosblume ausreissend,
Zum Mondfeuer8, zur Sonne9 hin
Zu tragen sie, dorthin sicher
Ihren Samen der Âtman führt.
17. Dreiorthaft10 ist er, dreiweghaft11,
Dreifach Brahman und heil'ger Laut,
Moren dreiundeinhalb habend, –
Wer den weiss, hat die Wissenschaft.
Vers 18-23. Die Meditation des Lautes Om und des Nachhalls.
18. Wie langgezogne Öltropfen,
Wie nachsummender Glockenton,
Verhallt lautlos des Om Gipfel, –
Wer den weiss, hat die Wissenschaft.
19. Om ist Bogen, der Pfeil Seele,
Das Brahman ist des Pfeiles Ziel,
Das soll man unentwegt treffen,
Gleich dem Pfeil ihm verleibend sich.
20. Den Leib machend zum Reibholze,
Den Om-Laut zu dem obern Holz,
Durch Sinnens Reibung schaut Gott man,
Wie die im Holz versteckte Glut.
[661]
21. Den Mund als Lotosrohr spitzend,
Pflegt Wasser man zu schlürfen ja,
So auch soll man den Wind einziehn,
Wenn als Yogin man Yoga übt.
22. Die Halbmora zum Strick machend,
Zieh aus des Herzenslotos Born
Auf Aderbahn hinauf Manas
Zwischen die Brauen, wo es schmilzt.
23. Denn die Stirn zwischen den Brauen,
Da wo der Nase Wurzel ist,
Ist des Unsterblichen Wohnstatt,
Der grosse Ruhepunkt des Alls.
1 Vers 1-2 = Yogatattva 1-2, wo sie passender stehen, und aus welchem Zusammenhange sie wohl sekundär herübergenommen sind, da sie in zwei Punaer Handschriften und im Telugudruck fehlen.
2 sa çabdaç ca akshare kshîṇo, Telugudruck.
3 Ich lese çâkhâ.
4 Aus Schilderungen wie Ṛigveda 10,81,3: »allseitig Auge und allseitig Antlitz« usw. (vergleichbar dem Xenophaneischen οὖλος ὁρᾷ etc). wurde durch Materialisierung Gott Brahmán mit vier Angesichtern. – In ähnlicher Weise haben sich auf biblischem Gebiete Begriffe, wie sie noch Römer 1,3-4 vorliegen, um dem Volke fasslich zu werden, zu den Vorstellungen Matth. 1,18. Luk. 1,35 verdichtet.
5 Vielleicht die acht Himmelsgegenden.
6 Wohl Nachbildung von Kâṭh. 6,1 ûrddhvamûlo avâkçâkha' esho 'çvatthaḥ sanâtanaḥ.
7 Jenseits der Zielpunkte von Pitṛiyâna und Devayâna.
8 Auf dem Pitṛiyâna.
9 Auf dem Devayâna.
10 Nabel, Herz, Stirn.
11 Vielleicht Pitṛiyâna, Devayâna und Tṛitîyam Sthânam; oder wie Çvet. 1,4.
Buchempfehlung
»Was soll ich von deinen augen/ und den weissen brüsten sagen?/ Jene sind der Venus führer/ diese sind ihr sieges-wagen.«
224 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro