Zweite Hälfte.

[552] Dieser Abschnitt fährt fort, das höchste Wesen zu feiern, indem er namentlich auf das Weilen desselben im Herzen verweist und den Weg, um mittels Meditation des Om-Lautes zu ihm zu gelangen, beschreibt, wodurch die Betrachtungen des folgenden Teiles vorbereitet werden. Der Dichter zeigt hier einen Taumel der Begeisterung, in dem ihm der Hörer und Leser kaum zu folgen vermag. Die Sprache ist kurz, abgerissen, nur andeutend, stellenweise kaum verständlich; das Metrum löst sich in wilde Rhythmen auf. Doch ist auch hier das Epigonentum nicht zu verkennen: die meisten Gedanken lassen sich, als der frühern Upanishadliteratur entlehnt, mit mehr oder weniger Sicherheit nachweisen. Eigentümlich ist namentlich das Bild von Bogen, Pfeil und Zielscheibe, Vers 3-4, und der herrliche Vers 8, wiewohl auch er nur als eine glückliche Zusammenfassung früherer Gedanken sich erweist.
[552]

1. Was offenbar ist und verborgen doch

Weilt in der Höhle, als der grosse Ort,

In welchem eingespeicht, was lebt und haucht und schliesst die Augen (Ṛigv. 10,121,3),

Was ihr als höher, als was ist und nicht ist, wisst (Çvet 4,18),

Erkenntnis übersteigend, der Geschöpfe Höchstes,


2. Was flammenlohend, was des Feinen Feinstes,

Auf dem beruh'n Welten und Weltbewohner,

Das Unvergängliche, Brahman,

Das Odem, Rede und Verstand,

Das ist die Wahrheit, das Unsterbliche,

Ja das, o Teurer, sollst als Ziel du treffen.


3. Der Upanishad's grosse Waffe ergreif' als Bogen,

Den Pfeil leg' auf, geschärft durch Meditation,

Den spanne durch auf Brahman's Sein gelenkten Geist

Und triff, o Teurer, als Ziel das Unvergängliche.


4. Als Bogen Om, als Pfeil Seele,

Als Ziel Brahman bezeichnet wird;

In ihm, nicht lässig (Kâṭh. 6,11), zielnehmend,

Dringt man ein, wie der Pfeil im Ziel.


5. In ihm sind Himmel, Erde und der Luftraum

Gewoben (Bṛih. 3,8,7), der Verstand mit allen Sinnen;

Ihn kennt ihr als den Âtman und lasst fahren

Die andern Reden (Bṛih. 4,4,20), er ist die Unsterblichkeitsbrücke (Çvet. 6,19).


6. In dem gefügt die Herzadern (Bṛih. 2,1,19)

Wie Speichen in der Nabe sind,

Er weilt im Innern und wird geboren vielfach,

Om! so sprecht ihr und meditiert den Âtman,

Heil euch! zum Ufer geht's jenseits des Dunkels (Chând. 7,26,2).


7. Der Allkenner und Allwisser (Muṇḍ. 1,1,9),

Dessen Grösse die Welt euch zeigt (Chând. 3,12,6),

In der himmlischen Brahmanstadt (Chând. 8,1,1)

Im Herzensraum als Âtman weilt!

Geist ist sein Stoff, er lenkt den Leib des Lebens (Chând. 3,14,2),

Wurzelt in Nahrung, weilt versteckt im Herzen (Kâṭh, 6,17),

Dort finden ihn die Weisen und erblicken

Den Wonneartigen (Taitt. 2,5), unsterblich, glanzreich.
[553]

8. Wer jenes Höchst- und -Tiefste schaut,

Dem spaltet sich des Herzens Knoten (Chând. 7,26,2),

Dem lösen alle Zweifel sich (Chând. 3,14,4),

Und seine Werke werden Nichts (Bṛih. 4,4,22).


9. In goldner, herrlichster Hülle (Bṛih. 5,15)

Staublos und teillos Brahman thront;

Glanzvoll, der Lichter Licht (Bṛih. 4,4,16) ist es,

Und dies kennt, wer den Âtman kennt.


10.9 Dort leuchtet nicht die Sonne, nicht Mond noch Sternenglanz,

Noch jene Blitze, geschweige irdisch Feuer.

Ihm, der allein glänzt, nachglänzt alles andre,

Die ganze Welt erglänzt von seinem Glanze.


11.10 Brahman ist dies Unsterbliche im Osten,

Brahman im Westen, Brahman im Süden und Norden;

Brahman erstreckt nach unten sich und oben,

Brahman ist dieses herrlich grosse Weltall.


Fußnoten

1 Purusha und Aksharam (Ursubjekt und Urobjekt), die vorher als Einheit behandelt waren, werden hier noch unterschieden, ähnlich wie oben (1,1,8-9) der Sarvajña und das Brahman.


2 Die Genealogie ist ähnlich wie oben (1,1,8-9): Purusha-Aksharam prâṇa manas Sinnesorgane und Elemente. Vgl. dazu oben S. 546 und 265, sowie die Stufenfolge der Sâ khya-Prinzipien.


3 Kurzes Résumé der Fünffeuerlehre nach Chând. 5,3-10.


4 Die Welten des Pitṛiyâna und Devayâna, Chând. 5,10.


5 »Götter und Selige« beruhen wohl auf einer ungenauen Reminiszenz an Ṛigv. 10,90,7.


6 Die Tätigkeit der sieben Sinne (Augen, Ohren, Nasenlöcher, Mund) erscheint als Opfer: die Eindrücke sind das Brennholz, die Reaktion gegen dieselben die Flamme, die Opferspenden sind die Wahrnehmungen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens; die Summe der einzelnen Wahrnehmungen bildet die Welt des betreffenden Organs. Alle Sinnesorgane werden regiert vom Manas, welches seinen Sitz im Herzen hat. – Vers 8-9 begegneten uns schon, mit einigen Varianten, Mahânâr. 10,2-3 (oben S. 247). Da die Gedanken der beiden Verse ganz verschieden sind, so kann ihr Zusammenstehen an beiden Stellen nicht zufällig sein; hier muss eine Entlehnung stattgefunden haben. Auf welcher Seite die Ursprünglichkeit liegt, kann nicht zweifelhaft sein. Der ganze Abschnitt Mahânâr. 10 besteht, wie oben S. 247-249 nachgewiesen, aus Entlehnungen. Hingegen geht, wie so vieles in dem Abschnitte Muṇḍ. 2,1, auch der neunte Vers desselben zurück auf die Yâjñavalkyarede Bṛih. 3,8,8-9 und ist eine Nachdichtung derselben, nicht aber ein anderswoher entlehntes Zitat. Die Verse 8-9 stammen also nicht aus einer für Muṇḍ, und Mahânâr. gemeinsamen Quelle, sondern sind in Muṇḍaka ursprünglich. – Hieraus ergibt sich mit Wahrscheinlichkeit das wichtige Resultat, dass die Muṇḍaka-Upanishad schon bei der Komposition von Taitt. Âr. 10 benutzt worden ist.


7 Die Tätigkeit der sieben Sinne (Augen, Ohren, Nasenlöcher, Mund) erscheint als Opfer: die Eindrücke sind das Brennholz, die Reaktion gegen dieselben die Flamme, die Opferspenden sind die Wahrnehmungen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens; die Summe der einzelnen Wahrnehmungen bildet die Welt des betreffenden Organs. Alle Sinnesorgane werden regiert vom Manas, welches seinen Sitz im Herzen hat. – Vers 8-9 begegneten uns schon, mit einigen Varianten, Mahânâr. 10,2-3 (oben S. 247). Da die Gedanken der beiden Verse ganz verschieden sind, so kann ihr Zusammenstehen an beiden Stellen nicht zufällig sein; hier muss eine Entlehnung stattgefunden haben. Auf welcher Seite die Ursprünglichkeit liegt, kann nicht zweifelhaft sein. Der ganze Abschnitt Mahânâr. 10 besteht, wie oben S. 247-249 nachgewiesen, aus Entlehnungen. Hingegen geht, wie so vieles in dem Abschnitte Muṇḍ. 2,1, auch der neunte Vers desselben zurück auf die Yâjñavalkyarede Bṛih. 3,8,8-9 und ist eine Nachdichtung derselben, nicht aber ein anderswoher entlehntes Zitat. Die Verse 8-9 stammen also nicht aus einer für Muṇḍ, und Mahânâr. gemeinsamen Quelle, sondern sind in Muṇḍaka ursprünglich. – Hieraus ergibt sich mit Wahrscheinlichkeit das wichtige Resultat, dass die Muṇḍaka-Upanishad schon bei der Komposition von Taitt. Âr. 10 benutzt worden ist.


8 Das metrisch überschüssige karma fehlt bei der Anführung der Stelle durch Ça kara, ad Brahmasûtra p. 705,11 (mit Ausnahme zweier Handschriften).


9 Auch hier, wie Çvet. 6,14, müssen wir schliessen, dass der Vers aus Kâṭh. 5,15 entlehnt ist, da er allein dort in seinem natürlichen Zusammenhange erscheint.


10 Der ganze Vers ist aus Chând. 7,25,1 gebildet.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 552-554.
Lizenz:

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