Nâdabindu-Upanishad.

[641] Nâda der Ton, speziell der summende Nasenlaut, in welchen das Wort Om ausklingt; – bindu der Punkt, speziell der des Anusvâra, welcher die dritte Mora des Lautes Om sowie dessen Nachhall als dreieinhalbte Mora bezeichnet; – also nâda-bindu-upanishad »der geheime Sinn des Nasalpunktes«.

Die philosophische Strenge, mit der die ältern Upanishad's von Brahman alle Bestimmungen der empirischen Realität ausgeschlossen hatten (neti, neti), brachte es mit sich, dass man, um den Bedürfnissen der Verehrung zu genügen, zu Symbolen greifen musste, und es war, wie bereits oben S. 629 bemerkt wurde, im Interesse der philosophischen Wahrheit gar nicht übel, wenn man als Symbol etwas an sich so völlig Sinnloses wie das Wort Om mit seinen drei oder später dreiundeinhalb Moren (a + u + m + Nachhall) wählte, in dessen Meditation, mit Aufgebung der ganzen Sinneserkenntnis durch Indriya's und Manas (v. 18) und mit Vernichtung der Anhänglichkeit an die Sinnenwelt (v. 19), nach unserer Upanishad der wahre Yoga und mit ihm der Weg zum Heile besteht.

Im ersten Teile (v. 1-6a) erscheint der Âtman mit Berufung auf Atharvav. 13,3,14 (Gesch. d. Phil. I, 228) als der Vogel (haṅsa), welcher »die Flügel tausend Tagesweiten ausspannt«, und der den Yogin emporträgt. Als die Körperteile dieses Vogels werden die 31/2 Moren des Wortes Om und die drei Guṇa's der Sâ khyalehre bezeichnet, als seine Augen dharma und adharma (er schaut Recht und Unrecht der Menschen), und sein Leib erstreckt sich aufwärts durch alle sieben Welten: bhûr, bhuvaḥ, svar, mahar (vgl. Taitt. 1,5), jana(r)loka, tapoloka, satyaloka (vgl. zu Muṇḍ. 1,2,3 oben S. 548).

Weiter (v.6b-7) wird gelehrt, dass von den 31/2 Moren des Wortes Om a dem Agni, u dem Vâyu, m der Sonne und der Nachhall dem Varuṇa geweiht sei.

»Oder auch«, so fährt der Text fort (v. 8-11), jede dieser vier Moren hat einen dreifachen Aspekt (ist kalâtrayânanâ), woraus folgende zwölf Objekte der Meditation entstehen:


ghoshiṇî, – vidyun-mâlî, – pata gî,

vâyu-veginî, – nâmadheyâ, – aindrî,

vaishṇavî, – çâ karî, – mahatî,

dhruvâ, – maunî, – brâhmî.


[642] Je nachdem einer beim Sterben eine dieser zwölf Formen meditiert, – so entwickelt v. 12-17 in deutlicher Nachbildung von Praçna 5, – erlangt er als Lohn:


König in Indien, – Yaksha, – Vidyâdhara zu werden,

Gandharva zu werden, – Somaloka, – Indra-Gemeinschaft,

Gemeinschaft mit Vishṇu, – Rudra (Paçupati), – Maharloka,

Dhruvam, – Tapoloka, – Brahman;


von wo er dann erst zum höchsten, sadoditam (= sakṛidvibhâtam, Chând. 8,4,2) Brahman gelangt, von welchem her der Aufgang der Lichter ist (Kâṭh. 5,15, im Keime schon Ṛigv. 10,121,6).


Der Âtman als Vogel.


1. Sein rechter Flügel das a ist,

Das u sein linker Flügel ist,

Der m-Laut ist die Schwanzfedern,

Die halbe Mora ist sein Haupt.


2. Die Füsse Rajas und Tamas,

Der Leib das Sattvam wird genannt,

Gerechtigkeit ist sein rechtes,

Sein linkes Auge Unrecht ist


3. An seinen Füssen Bhûrloka,

An den Knie'n Bhuvarloka ist,

Svarloka an der Hüftgegend,

Am Nabel ist die Mahar-Welt.


4. Am Herzen ist Jana(r)loka,

An seinem Hals die Tapas-Welt,

Zwischen Stirn ihm und den Brauen

Befindet Satyaloka sich.


5. »Er breitet tausend Tagweiten«,

In diesem Lied (Atharvav. 13,3,14) ist er gemeint,

Das ist der Vogel, auf welchem

Der Yogakenner steigt empor.


6. Nicht fröhnt dem Werk er, nicht binden

Viel Tausende der Sünden ihn.


Die dreiundeinehalbe Moren des Wortes Om.


Dem Agni ist die Erst-Mora

Heilig, dem Vâyu, die dann folgt;
[643]

7. Die Mora, die dann kommt drittens,

Den Glanz der Sonnenscheibe hat.

Die dreieinhalbte und höchste

Nennen Weise nach Varuṇa.


Die zwölf Teil-Moren des Wortes Om.


8. Jede der Moren hat eigen

Ein dreiteiliges Angesicht;

Das ist des Om-Lauts Auslegung,

Andächtig sinnend hört sie an!


9. Die erste Mora ist lärmreich,

Die zweite dann ist blitzbekränzt,

Als dritte folgt die flugfrohe,

Die windschnelle die vierte ist.


10. Die fünfte ist die namhafte,

Indra-heilig die sechste heisst.

Die siebente nach Gott Vishṇu,

Nach Ça kara (Çiva) die achte heisst.


11. Die neunte wird genannt grosse,

Die zehnte als die feste gilt,

Die elfte ist die schweigsame,

Die zwölfte heisst die brâhmische.


Lohn für ihre Meditation beim Sterben.


12. Der ersten Mora nachdenkend,

Wenn einer gibt das Leben auf,

So wird in Bhârata Varsha

Als Allherrscher geboren er.


13. Wer in der zweiten hinscheidet,

Zum hochsinnigen Yaksha wird,

Die dritte zum Vidyâdhara,

Zum Gandharva die vierte macht.


14. Doch wer, das Leben aufgebend,

Der fünften Mora dachte nach,

Der wohnt bei Göttern, der wandelt

In Somaloka herrlich hin.
[644]

15. Mit Indra lebt, wer der sechsten,

Mit Vishṇu, wer der siebenten,

Mit Rudra, mit Paçupati,

Lebt, wer der achten nachgedacht.


16. Die neunte führt zur Grossheitwelt,

Die zehnte zu dem festen Ort,

Die elfte zu Tapoloka,

Zum ew'gen Brahman die zuzwölft,


17. Und dann zum Reinen, Teillosen,

Allgegenwärt'gen, Seligen,

Zum ew'gen Tage des Brahman,

Aus dem der Lichter Ursprung ist.


Der Yoga und seine Frucht.


18. Wenn, frei von Sinnen und Guṇa's,

Das Manas ganz in sich zergeht,

Nicht vergleichend, nicht vorstellend,

Das heisst die rechte Yogakunst.


19. Ihm dienend und ihm anhängend,

Löst er langsam vom Leibe sich,

In Yoga-Übung wohlstehend,

Frei aller Weltanhänglichkeit.


20. Dann lösen sich alle Bande,

Und lauter, unbefleckt und frei,

Zu Brahman werdend, geht dadurch

Er zu der höchsten Wonne ein,

– er zu der höchsten Wonne ein.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 641-645.
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