Sechster Prapâṭhaka.

[153] Der ganze Prapâṭhaka bildet ein zusammenhängendes Ganze, in welchem Çvetaketu von seinem Vater Uddâlaka über das Seiende und seine Entfaltung zur Welt belehrt wird. Zwar scheiden sich äusserlich die beiden Abschnitte 1-7 und 8-16 voneinander durch die Verdopplung der Schlussworte 7,6 und den neuen Anfang 8,1: Indes ist diese Trennung rein äusserlich und wohl nur (vielleicht hinterher) durch den Wunsch veranlasst, den längern Abschnitt für das Studium in zwei annähernd gleiche Lernpensa zu zerlegen. Innerlich gehören beide Teile eng zusammen, indem nicht nur im zweiten Teile auf den ersten Rückbeziehung genommen wird (8,6 tad uktam purastâd eva bhavati, vgl. 4,7 fg)., sondern auch der Refrain, mit dem 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. schliessen, wie wir zeigen werden, eine blosse Zusammenfassung der Grundgedanken von 1-7 ist. – Noch ist vorweg zu bemerken, dass die hier vorliegende Situation des aus der zwölfjährigen Lehrzeit zurückkehrenden und sodann von seinem Vater Uddâlaka über die tiefsten Geheimnisse des Seins belehrten Çvetaketu in keiner Weise vereinbar ist mit der Rolle, welche beide Chând. 5,3,1 fg. (oben S. 140) spielen. Nimmt man dazu die vielfachen andern Widersprüche über diese Personen (z.B. Bṛih. 6,3,7. 6,5,3, wo Yâjñavalkya ein Schüler des Uddâlaka ist, und Bṛih. 3,7, vgl. 3,9,27, wo auch Uddâlaka von Yâjñavalkya zum Schweigen gebracht wird; oder Bṛih. 4,6,2, wo Uddâlakâyana Schüler des Jâbâlâyana ist, während Bṛih. 6,3,8-12 Satyakâma erst im fünften Gliede[153] nach Uddâlaka folgt), so wird es wahr scheinlich, dass man aus der Vorzeit nicht sowohl feste Traditionen als vielmehr nur berühmte Namen besass, denen man die neu aufkommenden Lehren zuschrieb, ohne um die daraus sich ergebenden Widersprüche sehr besorgt zu sein.

Die Wichtigkeit und stellenweise Schwierigkeit des vorliegenden Prapâṭhaka erfordert eine Analysis der sechzehn Abschnitte, aus denen er besteht, im einzelnen.

1. Çvetaketu wird, 12 Jahre alt, von seinem Vater als Brahmacârin in die Lehre gegeben, kehrt nach 12 Jahren zurück, hat alle Veden studiert (bei dem spätern Umfange erforderte jeder Veda 12 Jahre Studiums) und ist voll Dünkels über sein Wissen. Der Vater fragt ihn: »Hast du auch der Unterweisung nachgefragt, yena açrutam çrutam bhavati, etc.?« Was heisst das? M. Müller: »by which we hear what cannot be heard«. Böhtlingk: »mittels welcher Ungehörtes gehört wird«. Beide falsch, wiewohl der letztere das Richtige in meinem »System des Vedânta« S. 282 hätte finden können: »durch welche [auch] das Ungehörte ein [schon] Gehörtes wird«. Es ist das Thema des ganzen Buches, welches sich in diesen Worten ankündigt. Das Seiende ist eins und ist alles; wer das Seiende kennt, der kennt in ihm alles, auch das Ungekannte. Als Bestätigung dienen die Worte der alten Weisen 4,5: na no adya kaçcana açrutam, amatam, avijñâtam udâharishyati (von Böhtlingk völlig missverstanden), sowie die Nachbildung und somit älteste Interpretation unsrer Stelle Mund. 1,1,3: kasmin nu, bhagavo, vijñâte sarvam idam vijñâtam bhavati? Auch die Chând. 6,1,3-5 folgenden Beispiele wollen nur diesen Satz erläutern. Wie durch ein Stück Ton, Kupfer, Eisen, alles Tönerne, Kupferne, Eiserne erkannt ist, so durch die Erkenntnis des einen Seienden alles das, was ist: »an Worte sich klammernd ist die Umwandlung, ein blosser Name«. Es ist dies die älteste Stelle, in der die Nichtrealität der vielheitlichen Welt ausgesprochen wird. Nicht lange darauf gelangte in Griechenland Parmenides zur selben Erkenntnis und sprach sie fast ebenso aus: τῷ πάντ᾽ ὄνομ᾽ ἐστίν, ὅσσα βροτοὶ κατέϑεντο πεποιϑότες εἶναι ἀληϑῆ, γίνεσϑαί τε καὶ ὄλλυσϑαι etc. »darum ist alles, was die Menschen vertrauensvoll für wahr angenommen haben, alles Werden und Vergehen, ein blosser Name«. Dieselbe Erkenntnis spricht Spinoza aus, wenn er alle Individuen für modi der einen göttlichen substantia erklärt. Alle drei, Chândogya, Parmenides, Spinoza (und so alle Philosophen vor Kant) begehen den Fehler, empirische Vorstellungsformen auf das Metaphysische zu übertragen, wodurch ihre Metaphysik die Wahrheit nur in bildlicher Form ausspricht. So hier, wo sie das metaphysisch Seiende (sat, τὸ ὄν, substantia) nach Analogie der beim Wechsel ihrer Zustände beharrenden Substanz (d.h. Materie) beschreiben. Dass diese Vorstellung eine bildliche oder halbbildliche ist, beweist für Parmenides (in dem Verse πάντοϑεν εὐκύκλου σφαίρης ἐναλίγκιον ὄγκῳ) das Wort ἐναλίγκιον, für Chândogya das Nächstfolgende, in welchem tejas, âpas, annam, d.h. die Grundelemente der physischen Substanz oder Materie erst aus der metaphysischen Substanz, dem Sat, Seienden, abgeleitet werden.

[154] 2. Hervorgehen der Elemente aus dem Seienden. Zu Anfang war allein das Seiende, Sat, eines nur und ohne zweites. Dieses Urwesen war schon Ṛigv. 10,129,1 nâsad âsîn no sad âsît tadânîm als weder nichtseiend, noch auch (in empirischem Sinne) seiend bezeichnet worden. Seitdem hatte man öfter, die letztere Alternative betonend, das Urwesen als asad, nichtseiend, bezeichnet. So schon Ṛigv. 10,72,2-3; ferner Çatap. Br. 6,1,1 und Taitt. Br. 2,2,9 (siehe die Stellen in meiner »Allgemeinen Geschichte der Philosophie«, I, S. 145,199,202); Taitt. Up. 2,7,1 und sogar Chând. 3,19,1 (oben S. 116). Hiergegen wendet sich polemisierend unser Autor: »wie könnte aus dem Nichtseienden das Seiende entstehen? Vielmehr war diese Welt zu Anfang nur das Seiende«.

Dieses Seiende beabsichtigte (aikshata) vieles zu sein und schuf (liess aus sich hervorgehen, asṛijata) die Glut (tejas), diese in derselben Weise aus sich die Wasser (âpas), diese ebenso die Nahrung (annam). Für das Hervorgehen der Wasser aus der Glut, der Nahrung aus den Wassern wird, als empirische Bestätigung, auf die Tatsachen des Schwitzens nach Erhitzung und des Wachstums der Pflanzen nach dem Regen hingewiesen. Da Glut, Wasser und Nahrung aus dem Seienden hervorgegangen sind, so sind sie, nach der Ansicht des Verfassers, nur dieses; – doch sind sie, nach der Art, wie ihr Hervorgehen aus dem Seienden geschildert wird, eine wirkliche Umwandlung (vikâra) desselben, deren Realität doch vorher bestritten wurde. Ein gewisser Rückfall in den Realismus, wahrscheinlich unter dem Einflusse früherer Darstellungen, ist hier nicht zu verkennen. – Unser Autor kennt nur drei Elemente, aus denen alles besteht. Eine andre Auffassung (vertreten namentlich durch Taitt. Up. 2,1) schiebt zwischen sie und das Seiende noch zwei feinere Elemente ein, wodurch man zu der spätern Fünfzahl âkâça, vâyu, agni, âpas, pṛithivî gelangte. Dem entsprechend wurde aus der sogleich zu besprechenden Dreifachmachung der Elemente später eine Fünffachmachung (pañcîkaraṇam).

3-4. Die Dreifachmachung der Elemente. – Vorher geht eine Bemerkung über die Einteilung der Lebewesen in Eigeborne, Lebendgeborne, Keimgeborne, welche den Zusammenhang störend unterbricht und wohl später eingeschoben ist. – Sodann folgt der allgemeine Grundgedanke der indischen Philosophie, der sich schon in den Hymnen des Ṛigveda entwickelt, und wonach das Urwesen aus sich den Urstoff hervorbringt und in diesem selbst als Erstgebornes entsteht. (Vgl. die Nachweisungen in meiner »Allgemeinen Geschichte der Philosophie«). So beschliesst auch hier das Seiende, nachdem es die drei Urelemente hervorgebracht hat, in dieselben als individuelle Seele (jîva âtman) einzugehen und Namen und Gestalten auszubreiten. Zu diesem Zwecke erfolgt die »Dreifachmachung« der Elemente, d.h. die Versetzung jedes Elementes mit Zutaten der beiden andern. (Später wird diese Theorie dahin präzisiert, dass z.B. empirisches Wasser aus 1/2 Wasser + 1/8 Erde + 1/8 Feuer + 1/8 Luft + 1/8 Äther besteht). Das Motiv dieser Lehre ist offenbar, alle die mannigfachen empirischen Stoffe als verschiedenartige Mischungen der drei Urstoffe zu begreifen. Dieses wird beispielsweise an den Erscheinungen[155] des Feuers, der Sonne, des Mondes, des Blitzes erläutert; sie sind nicht reine Glut, sondern Glut mit Zumischung von Wasser und Nahrung; und so steht es mit allen empirischen Stoffen; ihre Verschiedenheit ist nur scheinbar (»an Worte sich klammernd, ein blosser Name«), in Wahrheit ist überall nur Glut, Wasser und Nahrung; wer diese drei weiss, der weiss damit alles, ihm ist das Unbekannte ein schon Bekanntes (diese drei aber weiss der, welcher das Seiende weiss, das sich zu ihnen entfaltet hat).

5. Anwendung auf den Menschen. Auch beim Menschen findet die »Dreifachmachung« der Elemente statt, jedoch in ganz anderm Sinne zu verstehen als vorher (wiewohl mit derselben Redewendung angekündigt). Vorher handelte es sich um eine Mischung jedes der drei Elemente mit den beiden andern, jetzt, beim Menschen, hingegen wird die Dreifachmachung verstanden als eine Teilung jedes einzelnen Elementes in Gröbstes, Mittleres und Feinstes, wodurch die Bestandteile des Leibes nach folgendem Schema entstehen:


Gröbstes:Mittleres:Feinstes:

Nahrung:FaecesFleischManas

Wasser:UrinBlutPrâṇa

Glut:KnochenMarkRede.


6. Erläuterung dieses Vorganges. Wie bei der Milch, wenn sie gequirlt wird, die Feinteile als Butter nach oben gehen, so sind Manas, Prâṇa, Rede die im Leibe nach oben gehenden Feinteile von Nahrung, Wasser und Glut.

7. Beweis, dass Manas aus Nahrung, Prâṇa aus Wasser besteht. Er liegt darin, dass, wenn man sich der Nahrung enthält, hingegen Wasser trinkt, das Gedächtnis (manas) schwindet, hingegen das Leben (prâṇa) erhalten bleibt. – Dieser Gedanke wird sehr ins Unklare gerückt durch Verquickung mit einem andern (vielleicht infolge der Benutzung eines ältern, diesem gewidmeten Textes), wonach der Mensch aus sechzehn Teilen besteht, von denen durch jeden Fasttag einer schwindet, bis nach fünfzehn Tagen nur noch einer übrig ist, der dann durch Nahrung, wie ein Funke durch Zuführung von Brennstoff, wieder angefacht werden kann.

Die nun folgende zweite Hälfte des Prapâṭhaka (8-16) ist nur eine Erläuterung der in der ersten Hälfte vorgetragenen Gedanken von der alleinigen Realität des Seienden und seiner Ausbreitung zur vielheitlichen Welt. Teils durch Bilder (9. Bienen, 10. Flüsse, 13. Salzklumpen, 14. Verirrter, 16. Ordal), teils an den Erscheinungen selbst (8. Schlaf, Hunger, Durst, Sterben, 11. verdorrender Baum, 12. Samenkorn, 15. Sterbender) wird eine Reihe von Rätseln der Natur vorgeführt und die Lösung derselben in dem Wurzeln der betreffenden Naturerscheinung in dem subtilen (aṇu), d.h. für die Sinne unerkennbaren, einen Seienden gefunden. Diese Rätsel sind:

8. Schlaf, Hunger, Durst, Sterben;

9. Unbewusstheit des Eingehens in das Seiende;

10. Unbewusstheit des Hervorgehens aus demselben;

[156] 11. Das Beseelte stirbt, nicht aber die Seele;

12. Hervorgehen des vielgestaltigen Baumes aus dem einheitlichen Inhalte des Keimes;

13. das unsichtbare Seiende durchdringt alle Dinge;

14. Rückkehr zum Seienden aus der Verirrung des Daseins;

15. Schwinden des Bewusstseins beim Eingange in das Seiende;

16. Unwahrheit bringt Bindung und Leiden, Wahrheit bringt Erlösung.


Am Schlusse jedes dieser neun Abschnitte folgt dann die berühmte Formel: sa ya' esho 'ṇimâ, aitadâtmyam idam sarvam, tat satyam, sa âtmâ, tat tvam asi, Çvetaketo! »Was diese Unerkennbarkeit (wörtlich Subtilität, in der die betreffende rätselhafte Erscheinung wurzelt, d.h. das Seiende) ist, ein (blosses) Bestehen aus diesem1 ist dieses Weltall (die ganze Welt ist nur Seiendes, wie in der ersten Hälfte gezeigt), das ist das Reale (alles andre ist nur »an Worte sich klammernd, ein blosser Name«), das ist die Seele (als individuelle Seele ging das Seiende selbst in Glut, Wasser und Nahrung ein, oben 3)., das bist du, o Çvetaketu« (wahrhaft ergreifend ist die Unmittelbarkeit, mit der hier der ganze Inbegriff des geheimnisvollen, höchsten Wesens, die ganze Fülle der Gottheit in dem Angeredeten wiedererkannt wird; die Worte tat tvam asi gelten mit Recht als die Summa aller Upanishadlehren). – Es enthält also diese Formel nur eine Zusammenfassung der vorher (1-7). vorgetragenen Gedanken. Nunmehr zu den einzelnen Abschnitten.

8. a. Der Schlaf. Wir haben hier zwei Erklärungen desselben, die nicht recht zusammenstimmen. 1) Der Schlaf ist ein Eingehen in das Seiende, und, da dieses im Menschen als seine Seele, sein Selbst weilt, ein Eingehen in sich selbst (svam apîta, daher svapiti). – 2) Der Schlaf ist ein Eingehen des (bewussten) Manas in den (unbewussten) Prâṇa.

b. Der Hunger besteht in einer Wegführung (zum Aufbau des Organismus) der gegessenen Nahrung durch die Wasser, aus denen sie (oben 2). entstanden ist; sein Name açanâyâ wird etymologisch gedeutet auf diese Wasser als »Wegführer der Nahrung«. – »Dieser Leib« (etad, ergänze çarîram) ist eine Wirkung (çu gam, wörtlich »Knospendecke«, in weiterm Sinne »Schössling« im allgemeinen) und hat als Ursache (mûlam, wörtlich »Wurzel«) die Nahrung, diese hat als Ursache das Wasser, dieses die Glut, diese das Seiende (wie oben 2. entwickelt).

c. Ebenso besteht der Durst in einer Wegführung (zum Aufbau des[157] Organismus) des getrunkenen Wassers durch die Glut, aus der es entstanden ist; daher udanyâ, Durst, auf die Glut als »Wegführer der Wasser« gedeutet wird. – Wieder ist der Leib (etad) seinem flüssigen Teile nach eine Wirkung der Wasser, diese der Glut, diese des Seienden.

d. Beim Sterben (für welches diese Stelle grundlegend ist) geht zuerst die Rede ein in das Manas (Sprachlosigkeit bei Fortbestehen des Bewusstseins), dann das Manas in den Prâṇa (Bewusstlosigkeit bei Fortbestehen des Lebens), dann der Prâṇa in das Seiende (Tod). Diese Beschreibung entspricht dem tatsächlichen Vorgange, widerspricht aber dem oben (5). gegebenen Schema, nach welchem die Rede nicht aus dem Manas sondern aus der Glut, das Manas nicht aus dem Prâṇa sondern aus der Nahrung, der Prâṇa nicht aus der Glut direkt sondern aus dem Wasser entstanden ist.

9-10. Die individuellen Wesen haben, wenn sie (in Tiefschlaf und Tod) in das Seiende eingehen, kein Bewusstsein davon, in das Seiende einzugehen (9)., und ebenso, wenn sie (beim Erwachen und Wiedergeborenwerden) aus dem Seienden wieder hervorgehen, so haben sie kein Bewusstsein davon, aus dem Seienden wieder hervorzugehen (10.). Diese beiden Vorgänge sollen durch die beiden Bilder von der Einswerdung der Blumensäfte im Honig (9). und von der Einswerdung der Flüsse im Ozean (10). erläutert werden. Jedoch erläutern diese Bilder nicht, wie man erwarten sollte, den Gegensatz des Eingehens und Wiederhervorgehens, sondern seltsamerweise nur das Gemeinsame in beiden Vorgängen, so dass sie ohne Störung des Sinnes ihre Stelle miteinander vertauschen könnten. Eine weitere Inkonzinnität liegt darin, dass die Bilder das Nichtbewusstsein des Eingehens und Wiederhervortretens erläutern sollten, in der Tat jedoch nicht dieses, sondern das Nichtbewusstsein der bestimmten Individualität nach dem Eingange ins Seiende erläutern.

11. Das Seiende, als Seele, ist unsterblich. Der Beweis dafür berührt sich merkwürdig mit dem Hauptbeweise im platonischen Phaedon, cap. 52-54. Wie die Kälte vom Schnee, die Wärme vom Feuer unabtrennbar ist, sagt Platon, so das Leben von der Seele. Eine nichtlebende Seele ist ein innerer Widerspruch, wie nichtkalter Schnee, nichtwarmes Feuer. Οὐκοῦν ἡ ψυχὴ τὸ ἐναντίον ᾧ αὐτὴ ἐπιφέρει ἀεὶ οὐ μή ποτε ξέξηται, »die Seele kann also niemals das Gegenteil von dem, was sie immer mitbringt, annehmen«. – Denselben Beweis führt, am Beispiele des absterbenden Baumes, unsre Upanishadstelle; nur dass sie viel einfacher verfahren kann, weil die Untrennbarkeit von Seele und Leben dem Inder selbstverständlich ist, sofern beide im Sanskrit (nicht zufällig, sondern vermöge der philosophischen Anlage der Sprache) durch dasselbe Wort jîva bezeichnet werden. »Es stirbt, was vom Leben (von der Seele jîva) verlassen wird, nicht aber stirbt das Leben (die Seele, jîva).« Aber wohin geht es beim Tode? Zurück zu jenem unerkennbaren Untergrunde der Natur, dem Seienden, welches das Thema des ganzen Buches ist. – Beide, Platon und die Upanishad, treffen die Wahrheit, soweit man sie[158] vor der Kantischen Grundlegung treffen konnte. Die Kraft, die Seele, das »Ding an sich« tritt in die Erscheinung, indem sie die Materie (Raum, Zeit und Kausalität) ergreift und wieder loslässt. Die Erscheinung entsteht und vergeht, nicht aber das Erscheinende, weil ihm die Kausalität und mit ihr alles Werden abzusprechen ist.

12. Hervorgehen der Unterschiede aus dem Unterschiedslosen. Wie aus dem scheinbar gleichartigen Inhalte des Samenkornes der grosse Nyagrodhabaum hervorgeht, so entspringt die ganze Mannigfaltigkeit der Welt aus dem unterschiedslosen Seienden.

13. Das Seiende ist unwahrnehmbar und doch überall gegenwärtig. Wie der Salzklumpen, im Wasser aufgelöst, verschwindet, aber in allen Teilen des Wassers durch den Salzgeschmack sich als vorhanden beweist, so ist auch das Seiende selbst unwahrnehmbar und verleiht doch nur durch sein Vorhandensein allem, was ist, die Realität.

14. Gewissheit der Erlösung schon innerhalb des Samsâra. Wem durch einen Lehrer die ewige Wahrheit zuteil geworden, der ist wie ein Verirrter, dem die Binde von den Augen genommen und der Weg zur Heimat gezeigt wurde. Er ist damit noch nicht zu Hause, aber er weiss, dass er dorthin gelangen wird; er weiss (von M. Müller und Böhtlingk missver standen): »dieser Welt (tasya scil. samsârasya) gehöre ich nur so lange (tâvad eva ciram, wie tâvaj jyok Çat. Br., 11,5,1,2), bis ich erlöst sein werde; darauf werde ich heimgehen«.

15. Das Schwinden des Bewusstseins beim Sterben ist (wie bereits oben 8. d. gelehrt wurde) nur ein Zurückkehren der Rede in das Manas, des Manas in den Prâṇa, des Prâṇa in die Glut, der Glut in die höchste Gottheit, d.h. in das Seiende.

16. Das Ordal. Ein des Raubes, des Diebstahls Verdächtiger, wenn er leugnet, muss eine glühende Axt anfassen. Sagt er die Unwahrheit, so verbrennt er sich an ihr und wird gerichtet, sagt er die Wahrheit, so verbrennt er sich nicht an ihr und wird losgelassen. Ebenso bleibt der, welcher noch in der Unwahrheit der empirischen Realität befangen ist, den Leiden des Samsâra preisgegeben, während der, welcher die Wahrheit von dem einen Seienden erkannt hat, der Erlösung teilhaftig wird. – Mit der Parabel vom ungerechten Haushalter, Luk. 16,1-9, hat dieses Stück gemeinsam, dass man nicht das ganze Bild, sondern nur das tertium comparationis ins Auge fassen darf. Dies besteht im vorliegenden Falle einfach darin, dass die Unwahrheit Bindung und Leiden, die Wahrheit Erlösung bringt. Dass es sich im Vergleiche um ein Bekennen der Unwahrheit oder Wahrheit, im Verglichenen um ein Erkennen derselben handelt, muss ausser Augen gelassen werden.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 153-159.
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