Vierzehntes Brâhmaṇam.

[496] Eine der heiligsten Strophen des Ṛigveda ist die Sâvitrî oder Sonnenstrophe, Ṛigveda 3,62,10


tat savitur vareyam

bhargo devasya dhîmahi,

dhiyo yo naḥ pracodayât!
[496]

»Lasst an das liebenswerte Licht

Des Sonnengottes denken uns;

Er möge fördern unsern Geist!«


Ihr Versmass ist die Gâyatrî (dreimal U–U–U–U–); wiewohl sie von einigen im Versmasse der Anushṭubh (viermal U–U–U–U–) gelehrt wurde (wahrscheinlich, wie M. Müller beibringt, in der Form Ṛigveda 5,82,1), was jedoch von unserm Brâhmaṇam (vielleicht mit einem Seitenblick auf Chând. 5,2,7, vgl. Bṛih. 6,3,6) nicht gebilligt wird. Demgemäss gilt die Gâyatrî als das Prototyp aller Metra und wird wiederholt als ein Symbol des Brahman verwendet. So Chând. 3,12 (oben S. 105, wozu man vergleiche System d. Vedânta S. 180), und wiederum in andrer Weise an unsrer Stelle. Zu diesem Zwecke werden die drei Erscheinungsweisen des Brahman als 1) die räumlich ausgebreitete Welt, 2) die Welt der Wissenschaft und 3) die Lebenswelt, den drei sichtbaren Versfüssen der Gâyatrî gleichgesetzt. Ein vierter, unsichtbarer Versfuss wird mit der Sonne identifiziert und, durch Zurückführung dieser auf das Auge und die ihm gleichgesetzte Wahrheit, dieser auf die Kraft, dieser end lich auf das Leben (prâṇa), als Brahman aufgefasst. Etymologische Spielereien, Verheissungen und polemische Seitenblicke laufen mit unter, die unschätzbare Wohltat der Belehrung wird gebührend hervorgehoben, und zum Schlusse folgt gar eine Formel, wie man die Gâyatrî zu verehren habe, um dem Gegner zu schaden und sich selbst zu nützen. – Angehängt ist eine Legende, in der Agni (das Feuer) für den Mund der Gâyatrî erklärt wird, was möglicherweise heissen könnte, dass der Opferkultus die Eingangspforte zur höhern Erkenntnis ist.


1. Bhûmir (Erde), antariksham (Luftraum), diaur (Himmel), das sind acht Silben. Achtsilbig nämlich ist der eine Fuss der Gâyatrî; und dieser an ihr ist jenes [Erde, Luftraum, Himmel]. – Derjenige, soviel in diesen drei Welten ist, soviel erwirbt er, welcher an ihr diesen Fuss also weiss.

2. Ṛico (Verse), yajûṅshi (Sprüche), sâmâni (Lieder), das sind acht Silben. Achtsilbig nämlich ist der andre Fuss der Gâyatrî; und dieser an ihr ist jenes [der Inhalt der drei Veden]. – Derjenige, soweit diese dreifache Wissenschaft reicht, soviel erwirbt er, welcher an ihr diesen Fuss also weiss.

3. Prâṇa (Aushauch), apâna (Einhauch), viâna (Zwischenhauch), das sind acht Silben. Achtsilbig nämlich ist der dritte Fuss der Gâyatrî; und dieser an ihr ist jenes [das dreifache Prinzip des Lebens]. – Derjenige, soweit dieses Lebendige sich erstreckt, soviel erwirbt er, welcher an ihr diesen Fuss also weiss.

Weiter aber ist an ihr der quaterne (turîya), glanzreiche,[497] stauberhabene Fuss jener, der dort glühet [die Sonne]; nämlich »der quaterne« ist der vierte; »glanzreich« ist der Fuss, weil er gleichsam erglänzet; und »der stauberhabene« heisst er, weil er [die Sonne] hoch erhaben über allem Staube glühet. Ebenso aber glühet durch Schönheit und Ruhm, welcher an ihr diesen Fuss also weiss.

4. Diese Gâyatrî nun ist auf jenen quaternen, glanzreichen, stauberhabenen Fuss gegründet; dieser aber selbst [der Fuss, d.h. die Sonne] ist gegründet auf die Wahrheit; nämlich die Wahrheit ist das Auge, denn die Wahrheit ist eben das Auge. Darum, wenn jetzt zwei daherkämen und stritten: »ich habe es gesehen!« – »ich habe es gehört!«, so würden wir dem glauben, der da sagt: »ich habe es gesehen«. Die Wahrheit aber selber ist gegründet auf die Kraft; die Kraft aber ist das Leben; darum ist sie gegründet auf das Leben. Darum sagen sie: »Kraft geht über Wahrheit«. In dieser Weise ist jene Gâyatrî gegründet in dem auf das Selbst Bezüglichen (adhyâtmam). Dieselbige behütet (trâ) das Gesinde (gaya)–, nämlich das Gesinde sind die Lebensorgane; weil sie die Lebensorgane behütet, darum heisset sie Gâya-trî. Wenn einer [ein Lehrer] eben jene Sonnenstrophe (sâvitrî) einem [Schüler] vorsagt, so behütet dieselbige dem, welchem er sie vorsagt, seine Lebensorgane.

5. Diese Sonnenstrophe lehren einige in der Form einer Anushṭubh [viermal U – U – U – U –]; denn sie sagen: »die Rede [des Veda] ist Anushṭubh, und dieses lehren wir als die Rede«; aber das soll man nicht tun! sondern als eine Gâyatrî [dreimal U – U – U – U –] soll man die Sonnenstrophe lehren! Fürwahr, wenn einer [ein Lehrer], der das weiss, auch viel nimmt, so ist das doch auch noch nicht einen Fuss der Gâyatrî aufwiegend.

6. Wenn einer [ein Lehrer] diese drei Welten [Erde, Luftraum, Himmel] mit all ihrem Inhalte nähme, so hätte er damit [an Gegenwert] erst jenen ersten Fuss derselben. Und wenn einer so viel nähme, wie sich diese dreifache Wissenschaft [des Veda] weit erstreckt, so hätte er damit erst jenen zweiten Fuss derselben. Und wenn einer so viel nähme, wie sich dieses Lebendige weit erstreckt, so hätte er damit erst jenen dritten[498] Fuss derselben. Was aber an ihr jenen quaternen, glanzvollen, stauberhabenen Fuss betrifft, der dort glühet, der ist nicht für irgend etwas, was es auch sei, zu haben; woher also sollte einer so viel nehmen?

7. Ihre Verehrung lautet: »Du bist die Gâyatrî, bist einfüssig, zweifüssig, dreifüssig, vierfüssig, bist fusslos, denn du gehest nicht auf Füssen; Verehrung sei deinem quaternen, glanzvollen Fusse, dem stauberhabenen! Möge jener jenes nicht erlangen!« – nämlich der, welchen man hasst; oder auch – »möge jenem sein Wunsch nicht in Erfüllung gehen!« – Fürwahr, dem geht jener Wunsch nicht in Erfüllung, gegen welchen also [gesonnen] man die Verehrung übt, oder auch so: »möge ich jenes [was der andre hat] erlangen!«

8. Folgendes war es, was einstmals Janaka, der Fürst der Videha's, zu Buḍila Âçvatarâçvi sprach: »Dieweil du doch dich ausgegeben hast für einen, der jene Gâyatrî wusste, wie kommt es, dass du zu einem Elefanten geworden bist und Lasten schleppen musst?« – Weil ich ihren Mund nicht gekannt habe [und dennoch als Lehrer derselben Geschenke angenommen habe, Tâlav. Up. Br. 4,8,1], o Grossfürst«, erwiderte er. Nämlich ihr Mund ist das Feuer. Nämlich, wenn man auch vieles in das Feuer hineinlegt, so verbrennet es doch dieses alles. Also auch ein solches Wissender, wenn er auch viel Böses getan, so verdauet er doch dieses alles und erstehet rein und lauter, ohne Alter und ohne Tod.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 496-499.
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