6. Die Erlösung.

[477] Nunmehr von dem Nichtverlangenden (akâmayamâna).

Wer ohne Verlangen, frei von Verlangen, gestillten Verlangens, selbst sein Verlangen ist, dessen Lebensgeister ziehen nicht aus; sondern Brahman ist er, und in Brahman geht er auf.

7. Darüber ist dieser Vers:


Wenn alle Leidenschaft schwindet,

Die nistet in des Menschen Herz,

Dann wird, wer sterblich, unsterblich,

Schon hier erlangt das Brahman er.


Wie eine Schlangenhaut tot und abgeworfen auf einem Ameisenhaufen liegt, also liegt dann dieser Körper; aber das Körperlose, das Unsterbliche, das Leben ist lauter Brahman, ist lauter Licht.« –

– »O Heiliger, ich gebe dir ein Tausend«, – so sprach Janaka, der König der Videha's.

8. »Darüber sind diese Verse:


Ein Weg erstreckt schwer sichtbar sich, ein alter,

Er reicht in mich28, er ward von mir gefunden;

Auf ihm die Weisen geh'n, die Brahmanwisser,

Zur Welt des Himmels aufwärts, zur Erlösung.


9. Auf ihm befindet sich, was, wie sie sagen29,

Weiss, dunkelblau und rotbraun, grün und rot ist.

Es ist der Weg, den man durch Brahman findet,

Den Weise geh'n und Heilige, zu Glut (Chând. 6,15,2) geworden.
[477]

10. In blinde Finsternis fahren,

Die dem Nichtwissen huldigen;

In blindere wohl noch jene,

Die am Wissen genügten sich.


11. Ja, diese Welten sind freudlos,

Von blinder Finsternis bedeckt;

In sie geh'n nach dem Tod alle,

Die nichterweckt, nichtwissend sind.


12. Doch wer des Âtman ward inne

Und sich bewusst ist: ›ich bin er!‹

Was wünschend, wem zulieb möchte

Der nachkranken dem Leibe noch?


13. Doch wer, versenkt in dieses Leib-Geknetes

Abgrund, den Âtman fand, zu ihm aufwachte,

Der ist allmächtig, ist des Weltalls Schöpfer,

Die Welt gehört ihm, weil er selbst die Welt ist.


14. Dieweil wir hier sind, mögen wir es wissen;

Wo nicht, so bleibt der Wahn, ein gross Verderben!

Unsterblich werden, die es hier erkannten;

Die andern gehen ein in lauter Schmerzen.


15. Doch wer den Âtman anschaute

Als Gott unmittelbar in sich,

Herrn des Vergangnen und Künft'gen,

Der ängstigt sich vor keinem mehr.


16. Zu dessen Füssen hinrollend

In Jahr und Tagen geht die Zeit,

Den als der Lichter Licht Götter

Anbeten, als Unsterblichkeit;


17. In dem der Wesen fünffach Heer30

Mitsamt dem Raum (Bṛih. 3,8) gegründet stehn,[478]

Den weiss als meine Seele ich,

Unsterblich, den Unsterblichen.


18. Wer Odem nur als Odem, Aug' als Auge,

Ohr nur als Ohr, Verstand weiss als Verstand,

Wer diese so durchschaut, der hat das Brahman,

Das alte, uranfängliche erkannt.


19. Im Geiste soll man dies merken:

Nicht ist hier Vielheit irgendwie!

Von Tod in neuen Tod stürzt sich,

Wer hier Verschied'nes meint zu sehn


20. Als Einheit soll man anschauen,

Unvergänglich, unwandelbar,

Ewig, nichtwerdend, nichtalternd,

Raumerhaben das grosse Selbst.


21. Ihm forsche nach, wer als Weiser,

Als Brahmane nach Weisheit ringt,

Nicht trachte er nach Schriftwissen,

Das nur Reden ohn' Ende bringt!


22. Wahrlich, dieses grosse, ungeborne Selbst ist unter den Lebensorganen jener aus Erkenntnis bestehende [selbstleuchtende Geist]! Hier, inwendig im Herzen ist ein Raum, darin liegt er, der Herr des Weltalls, der Gebieter des Weltalls, der Fürst des Weltalls; er wird nicht höher durch gute Werke, er wird nicht geringer durch böse Werke'; er ist der Herr des Weltalls, er ist der Gebieter der Wesen, er ist der Hüter der Wesen; er ist die Brücke, welche (der Damm, welcher) diese Welten auseinanderhält, dass sie nicht verfliessen.

Ihn suchen durch Vedastudium die Brahmanen zu erkennen, durch Opfer, durch Almosen, durch Büssen, durch Fasten; wer ihn erkannt hat, der wird ein Muni. Zu ihm auch pilgern hin die Pilger, als die nach der Heimat sich sehnen.

Dieses wussten die Altvordern, wenn sie nicht nach Nachkommenschaft begehrten und sprachen: ›Wozu brauchen wir Nachkommen, wir, deren Seele diese Welt ist!‹ Und sie standen ab von dem Verlangen nach Kindern, von dem Verlangen[479] nach Besitz, von dem Verlangen nach der Welt und wanderten umher als Bettler. Denn Verlangen nach Kindern ist Verlangen nach Besitz, und Verlangen nach Besitz ist Verlangen nach der Welt; denn eines wie das andre ist eitel Verlangen.

Er aber, der Âtman, ist nicht so und ist nicht so. Er ist ungreifbar, denn er wird nicht gegriffen, unzerstörbar, denn er wird nicht zerstört, unhaftbar, denn es haftet nichts an ihm; er ist nicht gebunden, er wankt nicht, er leidet keinen Schaden.

[Wer solches weiss,] den überwältigt beides nicht, ob er darum [weil er im Leibe war] das Böse getan hat oder ob er das Gute getan hat; sondern er überwältigt beides; ihn brennet nicht, was er getan und nicht getan hat.

23. Das sagt auch der Vers:


Das ist des Brahmanfreundes ew'ge Grösse,

Die nicht durch Werke zunimmt oder abnimmt;

Man folge ihrer Spur, wer sie gefunden,

Wird durch das Werk nicht mehr befleckt, das böse.


Darum, wer solches weiss, der ist beruhigt, bezähmt, entsagend, geduldig und gesammelt; nur in sich selbst sieht er das Selbst, alles sieht er an als das Selbst; nicht überwindet ihn das Böse, er überwindet alles Böse, nicht verbrennet ihn das Böse, er verbrennet alles Böse; frei von Bösem, frei von Leidenschaft und frei von Zweifel, wird er ein Brâhmaṇa, o König, er, dessen Welt das Brahman ist.« –

Also sprach, Yâjñavalkya. Da sprach der König: »O Heiliger, ich gebe dir mein Volk in Knechtschaft und mich selbst dazu.« –


24. Fürwahr, dies ist das grosse, ungeborne Selbst, welches [in allem Lebenden] die Nahrung geniesst und der Geber des Guten ist. Der findet Gutes, der solches weiss.

25. Fürwahr, dieses grosse, ungeborne Selbst ist nicht alternd, nicht welkend, unsterblich, furchtlos, ist das Brahman. Furchtlos, fürwahr, ist das Brahman; und zu diesem furchtlosen Brahman wird, wer solches weiss.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 477-480.
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