II. Der ursprüngliche Geist und der bewusste Geist

[79] Der Meister Lü Dsu sprach: Himmel und Erde gegenüber ist der Mensch wie eine Eintagsfliege. Aber dem großen Sinn gegenüber sind auch Himmel und Erde wie eine Luftblase und ein Schatten. Nur der ursprüngliche Geist und das wahre Wesen überwindet Zeit und Raum.

Die Samenkraft ist ebenso wie Himmel und Erde der Vergänglichkeit unterworfen, aber der Urgeist ist jenseits der polaren Unterschiede. Hier ist der Ort, von wo Himmel und Erde ihr Dasein ableiten. Wenn die Lernenden es verstehen den Urgeist zu erfassen, so überwinden sie die polaren Gegensätze von Licht und Dunkel und weilen nicht mehr in drei Welten3. Aber dazu ist nur der fähig, der das Wesen geschaut hat in seinem ursprünglichen Angesicht.

Wenn die Menschen vom Mutterleib sich lösen, so wohnt der Urgeist im Geviertzoll (zwischen den Augen), der bewußte Geist aber wohnt unten im Herzen. Dieses untere fleischerne Herz hat die Form eines großen Pfirsichs, es ist von den Lungenflügeln bedeckt, von der Leber unterstützt und von den Eingeweiden bedient. Dieses Herz ist abhängig von der Außenwelt. Wenn man auch nur einen Tag nichts ißt, so fühlt es sich äußerst unbehaglich. Wenn es etwas Erschreckendes hört, so klopft es, wenn es etwas Erzürnendes hört, so stockt es, wenn[79] es sich dem Tod gegenüber sieht, so wird es traurig, wenn es etwas Schönes sieht, so wird es verblendet. Aber das himmlische Herz im Kopfe, wann hätte das auch nur im mindesten sich bewegt? Fragst du, kann das himmlische Herz sich nicht bewegen? so antworte ich: Wie sollte der wahre Gedanke im Geviertzoll sich bewegen können! Bewegt er sich wirklich, so ist es nicht gut. Denn wenn die gewöhnlichen Menschen sterben, dann bewegt er sich, aber das ist nicht gut. Am besten ist es freilich, wenn das Licht sich schon zu einem Geistleib verfestigt hat und allmählich seine Lebenskraft die Triebe und Bewegungen durchdringt. Aber das ist ein Geheimnis, das seit Jahrtausenden nicht verkündet worden ist.

Das untere Herz bewegt sich wie ein starker mächtiger Feldherr, der den himmlischen Herrscher ob seiner Schwäche mißachtet und die Führung der Staatsgeschäfte an sich gerissen hat. Wenn es aber gelingt, das Urschloß zu festigen und zu wahren, so ist es wie wenn ein starker und weiser Herrscher auf dem Thron sitzt. Die Augen bringen das Licht in Kreislauf wie zwei Minister zur Rechten und zur Linken, die mit aller Kraft den Herrscher stützen. Wenn so die Herrschaft im Zentrum in Ordnung ist, so werden alle jene aufrührerischen Helden mit umgekehrter Lanze sich einfinden, um ihre Befehle entgegen zu nehmen.

Der Weg zum Lebenselixier kennt als höchsten Zauber das Samenwasser, das Geistesfeuer und die Gedankenerde: diese drei. Was ist das Samenwasser? Es ist des früheren Himmels wahre, eine Kraft (Eros). Das Geistesfeuer ist eben das Licht (Logos). Die Gedankenerde ist eben das himmlische Herz der mittleren Behausung (Intuition). Man benützt das Geistesfeuer zur Wirkung, die Gedankenerde als Substanz und das Samenwasser als Grundlage. Die gewöhnlichen Menschen erzeugen durch Gedanken ihren Leib. Der Leib ist nicht nur der sieben Fuß große äußere Körper. Im Leib ist die Anima. Die Anima haftet am Bewußtsein als ihrer Wirkung. Das Bewußtsein hängt von der Anima ab um zu entstehen. Die Anima ist weiblich (Yin), die Substanz des Bewußtseins. Solange dieses Bewußtsein nicht unterbrochen wird, zeugt es immer weiter von Geschlecht zu Geschlecht, und der Anima Veränderungen der Gestalt und Wandlungen der Substanz sind unaufhörlich.

Daneben gibt es aber den Animus, in dem der Geist sich birgt.[80] Der Animus wohnt bei Tag in den Augen, bei Nacht haust er in der Leber. Wohnt er in den Augen, so sieht er; haust er in der Leber, so träumt er. Die Träume sind Wanderungen des Geistes durch alle neun Himmel und alle neun Erden. Wer aber beim Wachen dunkel und versunken ist, gefesselt an die körperliche Gestalt, ist gefesselt von der Anima. Darum wird durch den Kreislauf des Lichts die Konzentration des Animus bewirkt und dadurch die Wahrung des Geistes; dadurch wird die Anima unterworfen und das Bewußtsein aufgehoben. Die Methode der Alten, um aus der Welt zu entkommen, bestand eben darin, die Schlacken des Dunkeln vollkommen zu schmelzen, um zum reinen Schöpferischen zurückzukehren. Das ist nichts weiter als ein Verringern der Anima und ein Völligmachen des Animus. Und der Kreislauf des Lichtes ist das Zaubermittel zur Verringerung des Dunkeln und Beherrschung der Anima. Auch wenn die Arbeit sich nicht auf die Zurückführung des Schöpferischen richtet, sondern sich auf das Zaubermittel des Kreislaufs des Lichtes beschränkt, so ist das Licht ja eben das Schöpferische. Durch seinen Kreislauf kehrt man zum Schöpferischen zurück. Wenn man diese Methode befolgt, so wird ganz von selbst das Samenwasser reichlich vorhanden sein, das Geistesfeuer sich entzünden und die Gedankenerde sich festigen und kristallisieren. Und die heilige Frucht kann so ausgetragen werden. Der Skarabäus dreht seine Kugel, und in der Kugel entsteht das Leben als Wirkung der ungeteilten Arbeit seiner geistigen Konzentration. Wenn nun selbst im Mist ein Embryo entstehen kann, der die Schalen verläßt, wie sollte da die Wohnstätte unseres himmlischen Herzens, wenn wir den Geist darauf konzentrieren, nicht auch einen Leib erzeugen können?

Das eine wirkende wahre Wesen (Logos in Verbindung mit Lebendigkeit), wenn es in die Behausung des Schöpferischen hinabsinkt, teilt sich in Animus und Anima. Der Animus ist im himmlischen Herzen. Er ist von der Natur des Lichten, er ist die Kraft des Leichten und Reinen. Das ist das, was wir von der großen Leere bekommen haben, das mit dem Uranfang von einer Gestalt ist. Die Anima ist von der Natur des Dunkeln. Sie ist die Kraft des Schweren und Trüben, sie ist verhaftet dem körperlichen fleischlichen Herzen. Der Animus liebt das Leben. Die Anima sucht den Tod. Alle sinnlichen Lüste und Zornesregungen sind Wirkungen der Anima, das ist der bewußte Geist, der nach dem Tode Blutnahrung genießt, aber während des Lebens in[81] größter Not ist. Das Dunkle kehrt zum Dunkeln, und die Dinge ziehen sich nach ihrer Art an. Der Lernende aber versteht es, die dunkle Anima vollständig zu destillieren, daß sie sich in reines Licht (Yang)4 verwandelt.


In diesem Abschnitt wird die Rolle beschrieben, die der Urgeist und der bewußte Geist bei der Bildung des menschlichen Leibes spielen. Der Meister sagt: Das Leben des Menschen ist wie das einer Eintagsfliege, nur das wahre Wesen des Urgeists vermag dem Kreislauf von Himmel und Erde und dem Schicksal der Äonen zu entgehen. Das wahre Wesen geht hervor aus dem Unpolaren und empfängt des Polaren Urkraft, wodurch es das wahre Wesen von Himmel und Erde in sich aufnimmt und zum bewußten Geist wird. Es bekommt das Wesen von Vater und Mutter als Urgeist. Dieser Urgeist ist ohne Bewußtsein und Wissen, vermag aber die Bildungsvorgänge des Körpers zu regeln. Der bewußte Geist ist sehr offenbar und sehr wirksam und vermag sich unaufhörlich anzupassen. Er ist der Herr des Menschenherzens. Solang er im Leibe weilt, ist er der Animus. Nach seinem Abschied aus dem Leib wird er zum Geist. Der Urgeist hat, während der Leib ins Dasein tritt, noch keinen Embryo gebildet, in dem er sich verleiblichen könnte. So kristallisiert er sich im Unpolaren freien Einen.

Zur Zeit der Geburt atmet der bewußte Geist die Luftkraft ein, so wird er zur Behausung des Geborenen. Er wohnt im Herzen. Von da ab ist das Herz Herr, und der Urgeist verliert seinen Platz, während der bewußte Geist die Macht hat.

Der Urgeist liebt die Ruhe, der bewußte Geist liebt die Bewegung. Bei seinen Bewegungen bleibt er an Gefühle und Begierden gebunden. Tag und Nacht verbraucht er so den Ursamen, bis er die Kraft des Urgeistes ganz aufgebraucht hat. Dann verläßt der bewußte Geist die Schale und geht hinaus.


Meditation 1. Stadium: Sammlung des Lichts
Meditation 1. Stadium: Sammlung des Lichts

Wer im allgemeinen Gutes getan hat, dessen Geisteskraft ist, wenn es zum Tode kommt, rein und klar. Er fährt zu den oberen Öffnungen Mund und Nase aus. Die reine und leichte Luftkraft steigt nach oben und schwebt zum Himmel empor, und er wird zum fünffach gegenwärtigen Schattengenius oder Schattengeist.

Wenn aber der Urgeist vom bewußten Geist während des Lebens benützt wurde zur Habsucht, Verrücktheit, Begierde und Lust und alle möglichen Sünden getan hat, dann ist im Augenblick des Todes die Geisteskraft trüb und wirr, und der bewußte Geist fährt durch die untere Öffnung zur Tür des Bauchs mit der Luft zusammen hinaus. Denn wenn die Geisteskraft trüb undunrein ist, so kristallisiert sie sich nach unten, sie sinkt zur Hölle hinab und wird ein Dämon. Dann verliert nicht nur der Urgeist seine Art, sondern auch die Macht und Weisheit des wahren Wesens wird dadurch verringert. Darum sagt der Meister: Wenn es sich bewegt, so ist das nicht gut.

Wenn man den Urgeist bewahren will, so muß man unbedingt zuerst den erkennenden Geist unterwerfen. Der Weg, ihn zu unterwerfen, führt eben durch den Kreislauf des Lichtes. Wenn man den Kreislauf des Lichtes übt, so muß man Leib und Herz beide vergessen. Das Herz muß sterben, der Geist leben. Wenn der Geist lebt, so wird der Atem auf eine wunderbare Weise zu kreisen beginnen. Das ist, was der Meister das Allerbeste nennt5. Darauf muß man den Geist untertauchen lassen in den Unterleib (Sonnengeflecht). Dann verkehrt die Kraft mit dem Geist, und der Geist vereinigt sich mit der Kraft und kristallisiert sich. Das ist die Methode, wie man Hand anlegt.

Mit der Zeit verwandelt sich der Urgeist in der Behausung des Lebens in die Wahre Kraft. Zu der Zeit muß man die Methode des Drehens des Mühlrades anwenden, um ihn zu destillieren, daß er zum Lebenselixier wird. Das ist die Methode der gesammelten Arbeit.

Wenn die Lebenselixierperle fertig ist, so kann der heilige Embryo sich bilden, dann muß man die Arbeit auf Erwärmung und Ernährung des geistigen Embryos richten. Das ist die Methode der Beendigung.

Wenn dann der Kraftleib des Kindes fertig gebildet ist, dann muß sich die Arbeit darauf richten, daß der Embryo geboren wird und ins Leere zurückkehrt. Das ist die Methode des Loslassens der Hand.

Das ist seit urältester Zeit bis heute die Reihenfolge des großen Sinns in der wirklichen Methode, es zu einem ewig lebenden unsterblichen Genius und Heiligen zu bringen, nicht leeres Gerede.

Wenn aber die Arbeit soweit gediehen ist, so ist alles dem dunklen Prinzip Angehörige gänzlich aufgezehrt und der Leib ist zum reinen Lichten geboren. Wenn der bewußte Geist sich in den Urgeist verwandelt hat, dann erst kann man sagen, daß er die unendliche Wandelbarkeit erlangt hat und dem Kreislauf entronnen es zum sechsfach6 gegenwärtigen goldenen Genius[84] gebracht hat. Wenn man nicht diese Methode anwendet zur Veredlung, wie will man dann dem Weg des Geborenwerdens und Sterbens entrinnen?

3

Himmel, Erde, Hölle.

4

Licht hier als Weltprinzip, positiver Pol, nicht als scheinendes Licht.

5

Es werden hier die vier Stadien der Wiedergeburt charakterisiert. Die Wiedergeburt (aus Wasser und Geist) ist das Entstehen des pneumatischen Leibes im vergänglichen Fleischleib. Es liegt hier eine Verwandtschaft mit paulinischen und johannëischen Gedanken vor.

6

Der fünffach gegenwärtige Genius, in den sich der gute Mensch in seinem dunkeln Drange bei seinem Tod verwandelt, ist auf die Gebiete der fünf Sinne beschränkt, also doch noch diesseits verhaftet. Die Wiedergeburt bewirkt seinen Übertritt auf das sechste, das geistige Gebiet.

Quelle:
Das Geheimnis der goldenen Blüte. Olten/Freiburg i. Br. 1971, S. 79-85.
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