Viertes Buch.

[63] Der meiner Seele lichte Hälfte war,

Sie trugen mir den lieben Freund zu Grabe;

Mein Jugendglück, all meine frohe Habe

Versanken mir mit seiner Todtenbahr.

Ich bot mich meinem Schmerz zum Raube dar,

Daß er sich voll am vollen Leben labe;

Er trank sich nimmer satt an seiner Gabe,

Als wär er ewig fessellos und wahr.

Da sprachst du tröstend in mein lautes Weinen:

Er ist bei mir, um den das Herz dir bricht,

Reich mir die Hand, ich will euch froh vereinen.

Ich lieb ihn jetzt in dir und deinem Licht,

Ich hab ihn wieder nach den wilden Peinen,

Herr, du mein Frieden, meine Zuversicht.[63]


I.

In jener Zeit von neun Jahren, von meinem neunzehnten bis zu meinem achtundzwanzigsten Lebensjahre, wurde ich irre geführt und führte Andere irre; zeigte mich in meinen bunten Bestrebungen unwahr und trüglich, sowohl öffentlich durch das, was man die freien Künste nennt, als heimlich durch meine falsche Religion; war dort stolz, hier abergläubisch und nichtig in Allem. Dort suchte ich den eitlen Ruhm vor dem Volke bis zu theatralischem Beifallshaschen, Wettgedichten und Kämpfen um verwelkliche Kränze, ja bis zur Stillung der Zügellosigkeit des Fleisches; hier strebte ich wieder, mich von diesem Unrath zu reinigen, indem ich den für auserwählte Heilige Geltenden Speisen zutrug, von welchen sie uns in den Werkstätten ihres Leibes Engel und Götter machten, durch die wir befreit werden sollten. Das that ich mit meinen durch mich und mit mir betrogenen Freunden. Mögen mich die Uebermüthigen und Alle verlachen, die von dir noch nicht zu ihrem Heile gebeugt wurden; ich will dir zu deinem Lob meine Schande bekennen, will meines Irrthums Umwege durchgehen und dir das Opfer meines Jubels bringen. Denn was bin ich mir ohne dich, als mein eigener Führer ins Verderben; was selbst in meinem Wohlbefinden, wenn ich mich nicht mit dir, meiner milden Nahrung nähre, die nie verdirbt? Was für ein Mensch ist jeder Mensch auf Erden, da er ein Mensch von Erde ist! Mögen mich verlachen, die auf ihre Gewalt pochen, ich bekenne dir meine Mängel und Schwächen.


II.

[65] In jenen Jahren lehrte ich die Redekunst und bot, besiegt von Ehrbegierde, die besiegende Geschwätzigkeit feil. Doch gute Schüler wünschte ich mir, wie man sie so gewöhnlich gut nennt, und lehrte sie ohne Verfänglichkeit die Verfänglichkeiten, mit welchen sie zwar nicht gegen die Unschuldigen, aber doch zu Gunsten der Schuldigen reden sollten. Und du, Gott, sahest von ferne meinen aus eitlem Rauch als schwachen Funken aufflackernden Glauben, den ich den Freunden der Eitelkeit noch unter den Lügen mittheilte, die sie suchten und die ich gab.

Damals hatte ich eine Freundin; sie war mit mir nicht in gesetzlicher Ehe verbunden, meine umherschweifende Leidenschaft hatte sie thöricht aufgespürt. Doch hatte ich nur sie und hielt ihr die Treue. Aber an ihr und mir bewies sich der Unterschied des ehelichen Bundes, der nur für Kindererzeugung geschloßen wird, und der sündhaften Neigung, wo man Kinder zeugt, ohne es zu wünschen, nöthigen sie auch durch ihre Geburt, sie zu lieben.

Auch erinnere ich mich, daß mir, da ich einen dichterischen Wettkampf eingehen wollte, ein Zeichendeuter um gewissen Lohn den Sieg versprach, dem ich aber, diese schändlichen Bräuche verabscheuend, erwiederte: selbst wenn der goldene Siegerkranz unsterblich wäre, gäbe ich nicht zu, für meinen Sieg nur eine Fliege zu tödten. Denn er pflegte Thiere bei seinen Gebräuchen zu opfern, und mir schien, als wollte er dadurch der bösen Geister Gunst erwerben. Aber auch diese Sünde verwarf ich nicht[66] mit der Reinheit, die von dir stammt, du Gott meines Herzens; noch verstund ich ja nicht, dich zu lieben, der ich statt deiner nur von gleißenden Scheinbildern wußte. Denn schweift eine Seele nicht niedrig weg von dir, waidet sie nicht Winde, wenn sie sich nach solchen Truggestalten sehnt? Wollte ich auch nicht, daß man für mich den bösen Geistern opfere, so opferte ich mich doch ihnen selbst in jenem Aberglauben. Denn was ist Winde waiden und hegen anderes, als böse Geister hegen, durch seine Verirrungen ihnen zur Luft und zum Hohne werden?


III.

Dagegen hörte ich nicht auf, jene leichtfertigen Sterndeuter um Rath zu fragen, weil sie keine Opfergebräuche hatten und an keinen Geist Gebete richteten, während doch das ächte Christenthum auch ihr Thun verwirft; denn nur heilsam ist, dich zu bekennen, Herr, und in das Wort einzustimmen: »Herr sei mir gnädig, heile meine Seele, denn an dir habe ich gesündigt« (Psalm 41, 5.). Nicht soll man zur Freiheit im Sündigen deine Nachsicht misbrauchen, man soll dein Wort bedenken: »siehe zu, du bist gesund worden, sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas Aergeres widerfahre« (Joh. 5, 14.). Dieses Gesunden zerstören wieder, die da mit den Sterndeutern lehren: vom Himmel kommt dir die unvermeidliche Ursache zum Sündigen; das hat Venus, oder Saturn gethan. Als wenn der Mensch, dieß stolz verwesende Fleisch und Blut, ohne Schuld – als wenn nur der Schöpfer des Himmels und seiner Gestirne zu beschuldigen wäre! Und wer ists, dem man dieß vorwirft, als du Gott, du Wonne und Quell der Gerechtigkeit,[67] der du einem Jedem vergiltst nach seinen Werken, und doch ein zerstoßenes und gedemüthigtes Herz nicht verachtest. Es lebte damals ein weiser, in der Arzneikunde wohl erfahrener, und sehr berühmter Mann, welcher im Namen des Consuls mir einen Siegeskranz der Beredtsamkeit auf's kranke Haupt, nicht eben als der beste Arzt für dasselbe, gesetzt hatte. Denn nur du bist der heilende Arzt solcher Kranken, der du den Stolzen widerstehst und den Demüthigen Gnade gibst. Aber fehltest du mir denn in jenem Greise, unterließest du denn, durch ihn meine Seele heilen zu wollen? Zu ihm hielt ich mich und hieng an seinen Reden, die ohne künstliche Ausbildung durch das Belebende ihrer Gedanken anmuthig und gewichtig wurden. Als er nun, durch unsere Gespräche, bemerkte, ich habe mich auf die Schriften der Sterndeuter gelegt, ermahnte er mich mit väterlicher Güte, von ihnen zu lassen und nicht Zeit und Mühe, die nützlichern Dingen gebühre, vergeblich an solche Nichtswürdigkeiten zu wenden. Auch er habe sie in seiner Jugend und in der Absicht erlernt, seinen Lebensunterhalt durch sie zu erwerben, und ob er sie gleich so gut als seinen Hippokrates zu verstehen geglaubt, habe er doch nur darum sie aufgegeben, und sich allein noch auf die Arzneikunde gelegt, weil er ihre Lügenhaftigkeit erkannt und es verschmäht habe, sich durch Täuschung seiner Mitmenschen Ansehen und Unterhalt zu verschaffen. »Du aber,« sprach er weiter zu mir, »suchst dir deinen Unterhalt durch die Redekunst zu erwerben und legst dich nur aus Liebhaberei auf diese Betrügereien, da du nicht nöthig hast, dich durch sie zu ernähren. Um so mehr mußt du mir glauben, der ich sie so gründlich erlernte, daß ich von ihnen leben wollte.« – Als ich ihm hierauf einredete, woher es denn[68] aber komme, daß diese Künste doch viel Wahres verkündigten, antwortete er mit Ueberzeugung: das thue die Macht des Geschickes, welche über alle Welt sich ausgieße. Schon in einem Dichterwerke, in dem Jemand einen Vers aufschlage, um sich von ihm Rath zu holen, könne sich oft ein Vers darbieten, der auffallend mit der Sache stimme, über die man Auskunft gesucht, während das Gedicht selbst etwas ganz Anderes beabsichtige. Um so weniger dürfe man sich wundern, wenn aus einer Menschenseele gleichsam durch einen höhern Zug, ohne daß sie es wiße, Worte kämen, die nicht durch geheime Kunst, die durch das Geschick mit den Umständen übereinstimmen, um die man frage. Dieß ließest du mir durch Jenen sagen, auch fand ich es später selbst so. Doch damals konnte weder Jener, noch mein theurer Nebridius, ein sehr edler, tugendhafter Jüngling, der aller jener Vorherverkündigungen lachte, mich zu ihrer Verwerfung überreden, da mich das Ansehen der Sterndeuter weit mehr anzog und ich den von mir gesuchten Beweis noch nicht gefunden hatte, der mich überzeugt hätte, daß das was mir von den Befragten Wahres gesagt wurde durch Zufall oder Geschick eingetroffen sei und nicht durch die Kunst derer, die in den Gestirnen forschten.


IV.

In jener Zeit, in welcher ich in meiner Geburtsstadt zu lehren anfieng, hatte ich mir einen Freund erworben, der mir durch unsere gemeinschaftlichen Studien äußerst lieb und mit mir im gleichen, blühenden Alter war. Er war mit mir als Knabe aufgewachsen, zusammen giengen wir zur Schule, zusammen[69] spielten wir. Und doch war er mir, weder in unserer Knaben- noch Jünglingszeit, so befreundet, wie es die wahre Freundschaft fordert, die nur die wahre wird, wenn du an dir hangende Seelen mit jener Liebe einander vereinst, die in unser Herz ausgegoßen ist durch den heiligen Geist, der in uns ist. Und dennoch war sie so süß, seit sie uns durch unsern Eifer in den gleichen Studien in einander verschmelzt hatte. Auch wahren Glauben weg, in dem der Jüngling noch nicht fest wurzelte, wendete ich diesen zu jenen abergläubischen, verderblichen Fabeleien, wegen deren meine Mutter mich beweinte. Schon irrte mit mir dieses Menschen Seele so vereint, daß es meine Seele ohne die seine nicht mehr konnte. Aber siehe, du, der du verfolgst, die dich fliehen, du Gott der Vergeltung und du Quell zugleich des Erbarmens, der du zu dir uns bekehrst auf wundervollen Wegen, siehe, du nahmest ihn weg von diesem Leben, da ihn kaum mit mir ein Jahr der Freundschaft verbunden hatte, die mir wonnig war über alle Wonnen dieses Lebens. Wie vermag der Mensch auch nur diejenigen deiner preiswürdigen Offenbarungen zu zählen, die er an sich selbst erfuhr? Welche unergründliche Tiefe deiner Gerichte lag in dem auch, das du damals mir thatest! Am Fieber erkrankt, lag Jener ohne Bewußtsein lang im Todesschweiß. Da man an seinem Aufkommen verzweifelte, tauften sie ihn, ohne daß er davon wußte, und ohne daß ich mich darum kümmerte, der ich voraussetzte, was er von mir empfangen, vermöchte sein Leben eher zu erhalten, als was, ohne sein Wißen, an seinem Körper geschah. Aber weit anders ist es gekommen; er hat sich erholt und ist genesen. Weil ich nie von ihm gewichen – so lieb waren wir uns – so vermochten wir bald wieder zusammen zu sprechen; und nun suchte ich, als würde er mit mir lachen, die Taufe zu verlachen, die er geistesabwesend empfangen hatte und[70] von der er jetzt wußte. Da erschrack er vor mir, wie vor einem Feinde, und mahnte mich mit wundersam raschen Freimuth, solche Reden gegen ihn zu unterlaßen, wenn ich sein Freund sein wolle. Ich aber hielt in Betroffenheit und Verwirrung meine ganze Gemüthsbewegung zurück, damit er um so bälder genese und durch zunehmende Kraft der Gesundheit für das fähig werde, was ich mit ihm verhandeln wollte. Aber er wurde meiner Albernheit entrißen, damit er bei dir zu meinem Troste bewahrt werde. Nach wenigen Tagen raffte ihn, in meiner Abwesenheit, ein wiederholter Fieberanfall weg. Von Schmerz um ihn wurde mein Herz umnachtet, und Tod sah ich nur überall. Zur Marter ward mir die Heimath, zum tiefsten Leid das Vaterhaus; was ich mit ihm getheilt, hatte sich verwandelt in unendliche Qual, seit er mir entrissen war. Ueberall suchten ihn meine Augen, ach, er wurde mir nicht wieder gegeben! Ich haßte Alles; es hatte ja ihn nicht und konnte nicht zu mir sagen: er wird kommen, wie er so oft nach einer Abwesenheit kam, in der Zeit seines beglückenden Lebens. Ich wurde mir selbst wie eine große Klage; meine Seele fragte ich, warum sie so traurig sei und so sehr sich betrübe, aber nichts vermochte sie mir zu antworten. Und wenn ich zu ihr sprach: hoffe auf Gott, so hatte sie Recht, mir nicht zu folgen, weil der Freund, den sie verloren, wahrhaftiger und als Mensch etwas Beßeres war, denn das Trugbild, auf das sie hoffen sollte. Süß waren allein mir meine Thränen, die den Freund vertraten, die letzte Erquickung meiner Seele.


V.

Aber nun, Herr, ist auch das vorüber, und durch die Zeit ist meiner Wunde Schmerz geheilt. Doch darf ich es hören von dir, der du die Wahrheit bist, und meines Herzens Ohr[71] legen an deinen Mund, daß du mir sagest, warum das Weinen den Elenden süß ist? Oder hast du, obgleich du überall bist, unser Elend weit von deinem Auge gethan? Du bleibst ewig friedenvoll in dir, wir aber werden durch viele Prüfungen umhergeworfen. Und doch wäre es aus mit unserer Hoffnung, wenn wir vor dir nicht mit unsern Klagen erscheinen dürften. Doch woher kommt es, daß wir von der Bitterkeit des Lebens diese süße Frucht, dieß Seufzen und Weinen, dieß Sehnen und Klagen pflücken? Ist unser Hoffen auf deine Erhörung das Süße darin? Wollen wir ja, um was wir bitten. Aber lag denn das in dem Schmerz, in der Trauer um den Verlust, der mich damals erdrückte? Nicht hoffte ich, er würde wieder lebendig werden, nicht flehte ich das in meinen Thränen, ich konnte nur mich grämen und weinen, denn ich war elend und hatte meine Freude verloren. Oder ist auch das Klagen und das Weinen bitter, und wird es nur süß, in Vergleichung mit dem Schauder vor dem Tode dessen, das durch sein Leben unsere Freude war? Schmilzt die entsetzende Qual hin in der sanften Thräne?


VI.

Was rede ich! Jetzt ist nicht Zeit zu fragen, Zeit ist jetzt, dir zu bekennen. Elend war ich, wie jedes Herz, das gefesselt ist von der Liebe zum Sterblichen. Zerrißen wird es, wenn es dasselbe verliert, und fühlt jetzt das Elend erst, in dem es schon schmachtete, ehe es verlor. So war ich damals, da ich so bitterlich weinte und nicht aus dieser Verbitterung heraus wollte. Aber wie elend ich war, doch liebte ich mein elendes Leben mehr, als den Freund. Ob ich auch den elenden Zustand meines Lebens zu ändern wünschte, wollte ich es doch nicht eher verlieren, als den Freund. Und schwerlich hätte ich das für ihn gewollt, was von Orest und Pylades erzählt wird, wenn[72] es wahr ist, welche füreinander und miteinander zu sterben verlangten, weil ihnen nicht miteinander leben bitterer war, als Tod. Ich hingegen fühlte sowohl größten Lebensüberdruß, als größte Todesfurcht. Ich vermuthe, je mehr ich den Freund liebte, desto mehr haßte und fürchtete ich, gleich dem grausamsten Feinde, den Tod, der mir ihn entrißen hatte; und ich wähnte, er werde nun plötzlich alle Menschen verzehren, weil er es mit diesem vermochte. – So war ich fürwahr, ich weiß es noch; sieh mein Herz an, mein Gott, sieh in mein Tiefstes, da die Erinnerung mich trifft, o du meine Hoffnung, der du mich reinigst von der Unreinigkeit solcher Empfindungen, der du zu dir kehrst meine Blicke und von den Schlingen befreist meine Füße. – Ja, ich wunderte mich, daß die übrigen Sterblichen noch lebten, weil der gestorben war, den ich geliebt, als könnte er niemals sterben; und am meisten wunderte ich mich, daß ich selbst den überlebe, von dem ich der andere Theil war. Denn schön nannte Jemand die Hälfte seiner Seele. Auch ich empfand wie meine und seine Seele nur eine Seele in zwei Leibern waren; darum war mir das Leben so grauenvoll, weil ich nicht leben wollte als ein halber Mensch, und darum fürchtete ich zu sterben, damit der nicht ganz sterbe, den ich so viel geliebt.


VII.

O über die Thorheit, die Menschen nicht menschlich zu lieben weiß; über den thörichten Menschen, der das Menschliche nicht ertragen mag; und ein solcher war ich. Daher glühte ich und seufzte, weinte und kam außer mir, und fand weder Rath noch Frieden. Ein zerrißenes, blutendes Herz trug ich in mir, war nicht im Stande mehr, es zu tragen und fand den Ort nicht, wo ich es zur Ruhe legte. Nicht Ruhe fand es, weder[73] in schattenden Hainen, noch in Spielen und Gesängen; weder in duftenden Räumen, noch bei bereiteten Gelagen; nicht in den Genüßen der Nacht, noch in Büchern und Gedichten. Alles erschreckte mich, das Licht selbst war mir verletzend und gehäßig, und Alles, was nicht war, was er war. Nur in Seufzern und Thränen fand ich noch kleine Erquickung. Wohin ich von ihnen mich kehrte, da drückte mich die schwere Bürde meines Jammers nieder. Herr, ach bei dir allein war Linderung und Genesung, das wußte ich, und konnte sie doch weder verlangen noch erlangen, weil du nichts Wahres mir, und nichts Vertrauenswerthes warest, so oft ich auch über dich dachte: denn nicht du, meines Irrthums nichtiges Trugbild war mein Gott. Wenn ich das festhalten wollte, zerrann es in's Leere und stürzte sich von Neuem über mich; ich selbst blieb mir der unselige Ort, in dem ich nicht weilen, aus dem ich nicht eilen konnte. Wohin denn sollte mein Herz fliehen aus meinem Herzen? Wohin sollte ich vor mir selbst mich flüchten, wohin mußte ich mir nicht folgen? Doch floh ich aus der Heimath, denn wo ihn meine Augen nicht zu sehen gewöhnt waren, da suchten sie ihn weniger. Und so begab ich mich von der Stadt Tagastä wieder nach Karthago.


VIII.

Nicht leer sind die Zeiten, nicht wirkungslos wogen sie durch unser Bewußtsein, Großes wirken sie an der Seele. Aber siehe, sie kamen und schieden von Tage zu Tage, und im Kommen und Weichen boten sie mir andere Gestalten und andere Erinnerungen, flickten mich wieder mit den alten Ergötzungen, von denen mein Schmerz sich gewendet, und es folgten, wo nicht andere Schmerzen, doch Anläße zu andern Schmerzen; denn jener Schmerz hatte mich nur niedergeworfen, weil ich auf den Sand[74] gebaut, da ich einen Sterblichen liebte, als stürbe er nicht. Den meisten Trost gewährten mir neue Freunde, mit welchen ich statt deiner noch der Manichäer große Fabel und lange Lüge liebte, durch deren treulose unser Geist verderbt wurde, da uns nach ihnen die Ohren jukten; denn wenn auch einer meiner Freunde starb, jene Fabeleien starben mir doch nicht. Vieles war, das nun wieder mein Herz ergriff: Gespräche und Scherze, wohlwollende, wechselseitige Hingebung, gemeinschaftliches Lesen süß redender Bücher, vereintes Schwärmen und Schönthun, zuweilen Uneinigkeiten ohne Haß, so wie der Mensch oft mit sich selbst uneins wird; durch seltene Uneinigkeiten selbst gestiftete häufigere Uebereinstimmung; einander lehren und von einander lernen; nach den Abwesenden mit Leid verlangen und die Wiederkehrenden mit Frohsinn empfangen. Solche Erweisungen treten aus den Herzen der einander Befreundeten, durch Mienen, Sprache, Blicke und tausend freundliche Gebährden und machen sie zusammenflammen wie durch zündende Funken, so daß aus vielen Seelen eine wird.


IX.

Das ist's, was an Freunden geliebt wird, und so wird es geliebt, daß sich des Menschen Bewußtsein schuldig gibt, wenn es den Wiederliebenden nicht liebt und den Liebenden nicht wieder liebt, nichts Tieferes in seiner leiblichen Erscheinung suchend, als die Merkmale freundlicher Zuneigung. Daher jene Trauer, wenn ein Freund stirbt, und jene Schmerzensnacht; daher das thränenschwere Herz, dem seine Süßigkeit sich in Bitterkeit verwandelt hat, daher aus Sterbenden scheidendem Leben der Tod der Lebendigen. Selig ist, wer dich liebt, und den Freund in dir, und den Feind um deinetwillen! Der allein verliert keinen Theuren, dem sie theuer alle sind in dem, der nie verloren[75] geht. Und wer ist der, als unser Gott, der Gott, der Himmel und Erde schuf, der sie erfüllt, weil er sie schuf, indem er sie mit sich selbst erfüllte. Dich verliert nur wer dich verläßt. Doch wo geht, wo flieht er hin, der dich entläßt, als von dir dem Gütigen zu dir dem Zürnenden? Denn wo findet er dein Gesetz nicht in seinen Strafen? Und dein Gesetz ist die Wahrheit, die Wahrheit aber, die bist du.


X.

Du Gott der Tugenden, bekehre uns, laß leuchten dein Antlitz, so genesen wir! Wohin auch des Menschen Seele sich wenden mag, wenn sie anderswo ist, als in dir, so wird sie an den Schmerz gebunden, mag sie auch an schöne Dinge gebunden sein, die außer dir nur Schein ohne inneren Werth sind. Diese wären nicht, wenn sie nicht wären von dir; sie gehen auf und gehen unter, durch ihren Aufgang treten sie ins Wachsthum des Lebens und werden vollendet; sind sie das, so altern sie und gehen unter, und Vieles geht unter, ehe es altert. Sie entstehen in Werde- und Lebenslust, und je mehr sie zu leben eilen, um so mehr eilen sie dem Tode entgegen. Nur so viel Leben gabst du ihnen, weil sie nur Theile sind, nicht das Ganze. Denn durch Verschwinden und Aufeinanderfolgen bilden sie alle die Welt, deren Theile sie sind. Auch in unsern Reden verklingt ein Wort nach dem andern, und die Rede wird kein Ganzes, wenn ihre einzelne Worte, nachdem sie sich ausgesprochen haben, nicht vergehen und andere ihnen folgen. Auch über dieses Vergängliche lobe dich meine Seele, mein Gott, der du das Alles schufst, aber nicht mehr an das, was vergeht, hefte sich meine Seele mit sinnlichen Liebesbanden. Von jeher gingen die vergänglichen Dinge nur dahin, um bald nicht mehr zu sein und zerreißen die Seele mit verpestenden Begierden, weil sie in ihnen[76] nur leben und in dem ruhen will, das sie liebt. Aber in ihnen ist keine Ruhestätte, sie bestehen nicht, sie fliehen. Wer vermag ihnen zu folgen mit fleischlichem Sinn, wer kann mit ihm sie begreifen, selbst wenn sie da sind? Denn träge und langsam ist des Fleisches Sinn, weil er fleischlich ist und hat in seiner Natur seine Schranke. Nur für das reicht er zu, zu welchem er bestimmt ist, aber so weit reicht er nicht, daß er das Vorübergehende von dem ihm bestimmten Anfang bis zu dem ihm bestimmten Ende festhalte als ein Ganzes. Nur in deinem Wort, das sie schuf, vernehmen alle Dinge die Stimme: bis hieher sollst du gehen und nicht weiter. Hiob 38, 11.


XI.

So sei nicht eitel meine Seele, laß dich durch deines Herzens Sprache nicht ins Getümmel der Eitelkeit zu deiner Betäubung führen. Horch auf, das ewige Wort selbst ruft dich, daß du dahin zurückkehrest, wo der Ort der niegetrübten Ruhe ist, wo die Liebe nie verlassen wird, es sei denn, daß sie selbst verlasse. Sieh, Jenes vergeht und anderes folgt ihm und aus all seinem Einzelwesen besteht das Ganze der Welt. Vom Vergänglichen geh' du zu deinem Gott, denn »geh ich irgendwo von dannen?« sagt Gottes Wort. (Jeremias 23, 23.) Bei ihm schlage deine Hütte auf, dort birg du, was du von dorther hast, meine Seele, genug schon bist du ermüdet von deinen Täuschungen allen. Ja, gib in der Wahrheit Hut, was dir irgend von der Wahrheit wurde, und du wirst nichts verlieren; wieder grünen wird, was dir vermoderte, geheilt werden deine Schäden alle; was dir zerrann, wird erneut mit dir verbunden, wird dich, von dem es niedersank, nimmer verlaßen, bestehen wird es mit dir und bleiben mit dir, bei Gott, dem immer Bleibenden. Solltest verkehrt du deinem Fleische folgen? Bekehrt folge es dir. –[77] Das Einzelne der Sinnenwesen vergeht, das Ganze der Welt fassest du nicht, ob auch sein Einzelnes dich ergötze. Und wenn du es faßen könntest, und es nicht nur Eins ums Andere begriffest, so würdest du doch wünschen, daß vorüber gienge, was sich in Gegenwärtigkeit dir darbeut, damit dir so das Ganze beßer gefalle. Willst du ja, wenn du reden hörst, auch nicht, daß dieselben Worte da bleiben, sondern daß sie vorüberziehen und ihnen, bis du das Ganze hörtest, andere folgen. Das Ganze würde dich mehr erfreuen, als seine Bruchstücke, die in allmähliger Folge das Ganze bilden. Aber unser Gott, der es schuf, ist beßer, als Alles, er vergeht nicht, und nach ihm ist nichts, in ihm ist das All. Gefallen dir der Leiblichkeit Dinge, so lobe Gott in ihnen, und wende zu ihrem Schöpfer zurück deine Liebe, damit du nicht misfällig werdest in dem, das dir gefällt.


XII.

Selbst wenn Seelen gefallen, so sollen sie in Gott geliebt werden, denn auch sie sind wandelbar und werden in Gott nur unwandelbar befestigt, sonst giengen sie weg und giengen unter. In ihm nur sollst du sie lieben! Reiß mit dir hin zu ihm, so viele du kannst, und sage ihnen: laßt uns ihn lieben, lieben laßt uns ihn, er selber schuf ja, was da ist, und ist nicht fern. Nicht schuf er es und ging von dannen; aus ihm ist es in ihm. Seht wo er ist und wo die Wahrheit zum Verständnis kommt: tief innen ist er im Herzen, aber das Herz irrte weg von ihm. So stehet Antwort eurem Herzen, ihr Sünder, und hanget dem an, der euch schuf; stehet zu ihm und werdet bestehen, ruhet in ihm und ihr habt Frieden. Wo gehet ihr hin in die Bitterkeit, wo gehet ihr hin? Das Gute, das ihr liebet, ist von ihm, aber nur sofern es bei ihm ist und zu ihm führt, ist es gut[78] und lieblich; mit Recht muß Alles bitter sein, was von ihm ist, sobald man es mit Unrecht liebt, indem man ihn verläßt. Wozu dient es auch, daß ihr fort und dort nur mühevolle Wege geht? Da ist die Ruhe nicht, wo ihr sie suchet; sucht was ihr sucht, da ist es nicht, wo ihr es sucht. Ihr suchet das selige Leben im Reich des Todes, da ist es nicht; wie könnte da die Seligkeit des Lebens sein, wo nicht einmal Leben ist?

Aber von des Lebens Seligkeit stieg Christus unser Leben herab und trug unsern Tod; es hat ihn getödtet durch die Fülle seines Lebens und ruft uns mächtig zu, daß wir vom Tode zu ihm in die geheime Stätte zurückkehren, aus der er zu uns heraustrat, in den ersten, jungfräulichen Schooß, wo sich mit ihm die menschliche Natur, das sterbliche Fleisch verband, damit es nicht sterblich bleibe; es ruft uns zu, daß wir im Geist von Neuem geboren werden von ihm, wie er für uns vom Menschenleib geboren ward im Fleisch; daß wir neu uns schaffen laßen im reinen Schooß der ewigen Liebe und Erbarmung, der keuschen, jungfräulichen Weißheit. Und vom jungfräulichen Schooß gieng er hervor, wie ein Bräutigam aus seiner Kammer, und freute sich wie ein Held, zu laufen den Weg (Psalm 19, 6.). Er säumte nicht, er lief, rief mit Worten und Thaten, mit Tod und Leben, mit seiner Höllenfahrt rief er, wir sollen zurückkehren zu ihm. Er verschwand von unsern Augen, daß wir in's Herz gehen und ihn finden. Er gieng, und siehe, hier ist er. Er wollte nicht lange bei uns weilen, und hat uns nie verlaßen. Dorthin ging er, von wo er nie gegangen war, denn auch auf Erden war er im Himmelreich (Joh. 3, 13), weil Himmel und Erde durch ihn erschaffen ist. Und doch war er in dieser Welt und kam in sie, um die Sünder selig zu machen. Zu ihm bekennt sich meine Seele und er heilt sie, die an ihm gesündigt hat.[79]

Ihr Menschenkinder, wie lange wollt ihr beschwerten Herzens bleiben? Wollt ihr nach eures Lebens Höllenfahrt euch nicht emporheben und leben? Aber wohin könnt ihr euch noch erheben, da ihr voll Stolz in der Höhe seid und im Uebermuth euer Haupt bis zum Himmel brachtet? O steiget herab, damit ihr aufsteiget, damit ihr aufsteiget zu Gott, denn gefallen seid ihr, da ihr euch gegen ihn erhobet! – Das verkünde ihnen, daß sie weinen im Thränenthal. Und so reiße sie mit dir zu Gott. Denn aus seinem Geiste redest du zu ihnen, wenn du entflammt redest mit dem Feuer der Liebe.


XIII.

Damals erkannte ich das nicht, und liebte nur das niedere, sinnliche Schöne, ich wandelte in die Tiefe, zu meinen Freunden sprechend: sollen wir außer dem Schönen etwas lieben? Was ist schön und was ist die Schönheit selbst? Was zieht uns zu dem hin, das wir lieben? Es zöge uns nimmer zu sich hin, wäre ihm nicht Gestalt und Schöne. Und ich bemerkte an den Körpern, wie das über ihr Ganzes ausgegoßene Schöne auch das bedürfe, daß sich seine einzelnen Theile passend ihm anfügen, wie die Ferse dem Fuße. Ich schrieb, angelegentlich diese Betrachtung auffassend, einige Bücher über das Schöne und Schickliche wie ich glaube zwei oder drei. Du weißest es, mir ist's entfallen, denn ich besitze sie nicht mehr, sie kamen mir, ich weiß nicht wie, aus den Händen.


XIV.

Was veranlaßte mich, jene Bücher, Herr mein Gott, einem gewissen Hierius zuzueignen, einem Redner aus Rom, den ich nicht persönlich kannte? Aber ich liebte den Mann wegen des Ruhmes seiner Gelehrsamkeit und hatte einige seiner Worte durch[80] Andre gehört, die mich ansprachen. Doch noch mehr gefiel er mir, weil er Andern gefiel, die ihn mit ihrem Lob erhoben und anstaunten, da er ein Syrer von Geburt, und früher mit der griechischen Beredtsamkeit vertraut, später sich auch in der lateinischen als ein ausgezeichneter Redner hervor that, und in Allem, was zum Studium der Weißheit gehört, sehr erfahren war. Gelobt wurde der Mensch und auch abwesend geliebt. Kommt wohl diese Liebe nur von des Preisenden Mund in des Hörers Herz? Nimmermehr, denn nur von einem Liebenden wird auch ein anderer Mensch entflammt. Geliebt wird ein Gepriesener, weil man überzeugt ist, der Preisende lobe ihn nicht mit trüglichem Herzen, da er ihn aus Liebe lobe. So liebte auch ich den Menschen nach der Menschen Urtheil und nicht nach deinem, o Gott, in dem Niemand getäuscht wird. Und doch, warum wurde Hierius nicht wie ein berühmter Wagenlenker oder Thierkämpfer durch Volksgunst berühmt, sondern viel anders und weit höher? Und warum wollte auch ich so gepriesen werden? Nicht wollte ich gelobt und geliebt werden wie die Schauspieler, obgleich ich sie lobte und liebte, lieber wäre ich verborgen geblieben, als so gelobt, lieber gehaßt, als so geliebt worden. Woher werden so verschiedene Arten von Liebe von einer und derselben Seele erwogen? Was ist es, das ich in einem Andern liebe und das ich, wenn ich es nicht selbst haßte, nicht an mir verwünschte und verwürfe, da wir doch beide Menschen sind? Denn nicht wie ein gutes Pferd von dem gelobt wird, der, wenn er auch könnte, kein Pferd sein möchte, kann es bei einem Schauspieler der Fall sein, da dieser ja gleicher Natur mit uns ist. Also liebe ich das im Menschen, dessen Dasein ich hasse, weil ich Mensch bin? Eine dunkle Tiefe ist der Mensch, dessen Haare du Herr gezählt hast, die ohne deine Vorsehung nicht vermindert werden, und doch sind seine Haare[81] leichter zu zählen, als seine Neigungen und seines Herzens Bewegungen. Jener Redner jedoch war von der Art, daß ich ihm gleichen wollte, da ich ihn liebte. So irrte ich im Uebermuth und wurde von jedem Winde umhergetrieben und wunderbar verborgen doch von dir geleitet. Und daher weiß ich, und bekenne es dir aufrichtig, daß ich Jenen in der Liebe derer, die ihn priesen, mehr liebte, als in den Dingen selbst, über die er gelobt ward. Denn wäre er von ihnen, statt gelobt zu werden, getadelt worden, und hätten sie von ihm auch ganz dasselbe, aber mit Tadel erzählt und Verachtung, so wäre ich für ihn nicht begeistert worden. Und doch hätte sich nur die Gesinnung der Erzähler, nicht aber die Sache und der Mann selbst anders verhalten. Siehe wie die Seele so kraftlos darnieder liegt, so lange sie der ächten Wahrheit nicht anhängt. Wie nur der Worte Hauche aus der Brust derer wehen, die sie ausdenken, so wird der Seele das Licht gebracht und entzogen, hin und her gewandelt und verdunkelt, und die Wahrheit wird von ihr nicht gesehen, und siehe, sie ist vor uns. Ein Großes dünkte es mir, wenn mein Büchlein jenem Manne bekannt würde. Hätte er es gebilligt, so wäre mein eitles, deiner Wahrheit fremdes Herz noch mehr aufgeblasen, hätte er es misbilligt, so wäre es verwundet worden. Und doch habe ich jenes schön und schicklich Ausgedachte, über das ich ihm schrieb, vor meiner inneren Betrachtung mit Lust bewegt und bewundert auch ohne einen Mitwundernden.


XV.

Nicht sah ich ein, daß das Wesentliche des Schönen in deiner kunstvollen Vorsehung liege, Allmächtiger, der du allein Bewundernswerthes hervorbringst. Die einzelnen Körperformen durchgehend, versuchte ich zu erklären, zu unterscheiden und mit[82] Beispielen zu belegen, was schön an sich ist und was durch sein einem Andern Angepasstes schicklich ist. Hierauf wandte ich mich zur Betrachtung der Natur der Seele; aber meine falsche Meinung über die geistigen Dinge ließ mich auch hier das Wahre nicht erkennen. Nur das Sinnliche hielt ich für wahr, daher richtete ich meinen schwankenden Verstand statt aufs Körperliche, seine Umrisse, Farben und Größen. Und weil ich das am Geiste nicht schon konnte, so glaubte ich meinen Geist nicht erkennen zu können. Weil ich aber in der Tugend den ihr eigenthümlichen Frieden liebte, im Bösen aber den ihm eigenen Streit haßte, so bemerkte ich in der Tugend Einheit, im Bösen Zerrißenheit, und in jener Einheit schien mir die Vernunft, die Natur der Wahrheit und des höchsten Guts selbst zu liegen. Kläglich aber wähnte ich, in jener Zerrißenheit des bösen, vernunftlosen Lebens liege irgend eine wesenhaft urböse Natur, die, ob sie gleich Leben sei doch nicht von dir erschaffen sei, du mein Gott, der doch Alles schuf. Jenes Gute nannte ich die unvermittelte Einheit, eine gleichsam geschlechtslose Seele, dieses Böse die zerrißene Zweiheit, weil ich Widerwillen und Lust zugleich in den Schandthaten bemerkte. Ach ich wußte nicht, was ich da fabelte! Ich hatte nicht erkannt, daß das Böse weder ein selbstständiges Wesen noch unser eigener Geist das höchste, unwandelbare Gut sei. Wie Sünden entstehen, wenn der Seele unreine Gier sich stolz und stürmisch erhebt, und wie Laster aus dem ungezügelten fleischlichen Trieb ersteigen, so beflecken Irrthümer und falsche Meinungen die Seele, wenn die Vernunft selbst unrein ist. So war sie damals in mir, der ich nicht wußte, daß sie erleuchtet werden müße von einem andern Lichte, wenn sie der Wahrheit theilhaftig werden wolle, weil sie nicht selbst die Natur der Wahrheit ist. Herr, mein Gott, nur wenn du meine Lampe[83] erleuchtest, erhellt sie die Nacht, und von deiner Lichtfülle haben wir alle empfangen; denn du bist das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen; in dir ist kein Wechsel des Lichts und der Finsternis. Aber ich strebte nach dir und wurde von dir weggestoßen, daß ich den Tod kosten mußte, weil du den Stolzen widerstehst. Und was gibt es Stolzeres, als in unfaßlicher Verblendung behaupten, das von Natur zu sein, was du bist? Denn da ich wandelbar war und mir dieß eben deutlich wurde, als ich durchaus weise zu werden wünschte, um beßer zu werden, da hielt ich lieber dich selbst für veränderlich, als daß ich dafür gehalten hätte, ich sei das nicht, was du bist. Darum wurde ich weggestoßen, darum widerstandest du meinem stolzen Nacken, und ich träumte mir leibliche Gestalten, klagte, selbst Fleisch, voll fleischlichen Sinnes das Fleisch an, das mich hemmte im Geistesflug; und ein irrender Geist kehrte ich noch nicht zu dir zurück. Ich verirrte mich in das was nicht ist, weder in dir, noch in mir, noch in den Körpern, und das mir nicht aus deiner Wahrheit ins Leben gerufen wurde, sondern das ich in meiner Eitelkeit aus den Körpern erdichtete. Und ich sprach zu den Kleinen der Gläubigen, zu meinen Mitbürgern in deinem Reich, von welchen ich in meiner Unwißenheit weggeirrt war, geschwätzig und ungereimt sprach ich zu ihnen: »Warum irrt die Seele, die Gott schuf? Darf ich mir nicht auch sagen laßen, warum irrt Gott?« So behauptete ich lieber, dein unwandelbares Wesen sei zu irren gezwungen, als daß ich bekannt hätte, mein wandelbares Wesen sei in frecher Willkühr abgeleitet und irre nun zu seiner Strafe. Ich war gegen sieben und zwanzig Jahre alt, als ich jene Hefte schrieb und mich mit Wahnbildern trug, die meiner Seele Ohr umschwirrten. Ich habe es wohl nach dir geneigt, du süße Wahrheit, daß es vernehme die Melodie deines[84] Geistes, als ich dachte über das Schickliche und zuweilen wünschte, dich zu hören und mich hoch zu freuen über des Bräutigams Stimme. Und ich vermochte es nicht, weil ich hinausgezogen ward von meines Irrthums Stimme und in die Tiefe sank, unter der Last meines Stolzes. Denn noch ließest du mich nicht hören Freude und Wonne, daß meine Gebeine fröhlich würden, die du noch nicht geschlagen hattest.


XVI.

Was förderte es mich, daß ich in meinem zwanzigsten Lebensjahre die Schrift des Aristoteles von den zehn Kategorieen allein studierte, nach denen ich lechzte wie nach einem wunderbar Göttlichen, weil sie mir mein karthagischer Lehrer mit gar aufgeblasenen Backen anpries, sowie Andere, die man zu den Gelehrten zählte. Ich besprach sie mit denen, welche bekannten, daß sie ihnen kaum verständlich geworden seien, obgleich sie die gelehrtesten Lehrer hatten, welche, was sie mündlich lehrten durch Zeichnungen verständlich zu machen suchten, und sie konnten mir doch nichts Anderes sagen, als was ich für mich allein lesend schon verstanden hatte. Deutlich genug schienen sie mir zu sprechen von dem Wesen eines Dings und seinen Eigenschaften, wie zum Beispiel vom Menschen und seinem Beiwerk, als da ist seine Gestalt, Statur, seiner Füße Zahl, seine Blutsverwandten, sein Wohnort, seine Geburtszeit, und ob er sitze oder stehe, ob er beschuht, ob er bewaffnet sei, was er thue oder leide, und was derart noch in den neun folgenden Kategorieen des Aristoteles ist, obgleich an einer Substanz nicht neun, sondern unzählige Accidenzien gefunden wurden. Nichts half das mir, es schadete mir nur, denn auch dich, meinen Gott, den Einen, Unveränderlichen, wollte ich unter solche Kategorieen bringen, unter die deiner Größe und Schönheit, als wenn du ihnen unterworfen[85] wärest, und als wenn sie an dir wären, wie an einem Körper, da du doch selbst deine Größe und deine Schönheit bist. Ein Körper könnte ein Körper sein, wenn er auch keine ansehnliche Größe und Schönheit hätte, aber du kannst nicht ohne Größe und Schönheit sein, du bist Größe und Schönheit selbst.

Falsches war es, nichts Wahres, was ich von dir dachte, Trugbild meines Elends, nicht Himmelsbild deiner Seligkeit. Was du befohlen hast, geschah an mir: Dornen und Disteln trug mir die Erde und im Schweiß meines Angesichts fand ich mein Brot. Was half es mir, daß ich alle Bücher über jene Künste las, die man die freien nennt, daß ich sie las, ein schnöder Knecht in bösen Lüsten, nicht wißend, woher das stammte, was etwa auch in ihnen wahr und zuverläßig gewesen? Den Rücken kehrte ich gegen das Licht und das Gesicht gegen das was erleuchtet wurde, daher mein Angesicht, mit dem ich das Erleuchtete sah, nicht erleuchtet war. Was ich in jenen freien Künsten, über Maaß, Musik, Zahlen und Beredtsamkeit so leicht verstehen lernte, ohne daß Jemand es mir erklärte, das weißest du, der du mir den schnellen Geist gabest und das scharfe Urtheil, aber ich dankte dir nicht dafür, und darum war es mir mehr zum Verderben, als zum Gewinn. So gieng ich weg von dir in ein fernes Land und verschwendete das Meine an buhlerische Lüste, da ich es ganz in meiner Gewalt haben wollte und meine Stärke nicht in dir bewahrte. Was half mir mein Vermögen, wenn ich es nicht gut verwendete. Wohl wurden jene Künste auch von Gelehrten und Geistreichen nur schwer verstanden, wenn ich sie ihnen nicht auslegte, und des Trefflichsten Vorzug bestand nur darin, daß er meiner Auslegung am schnellsten folgen konnte. Aber was half mir all mein Geist, so lang ich glauben konnte, du Herr, mein Gott, seiest eine ungeheure,[86] körperliche Lichtmasse und ich davon ein Stückchen? Ich schäme mich nicht, mein Gott, dein Erbarmen gegen mich anzuerkennen und dich anzuflehen, der ich mich nicht schämte, meine Lästerung prahlend auszukramen und gegen dich zu bellen. Was half mir der lebhafte Geist, der jene Lehren bewältigte und ohne menschliche Lehrer jenes Buches verwickelten Knoten löste, während ich häßlich in gotteslästerlicher Schändlichkeit in der Lehre des Heils irrte? Oder was schadete deinen Kleinen der weit langsamere Geist, da sie von dir sich nicht zu weit entfernten, um geschirmt im Nest der Kirche flügge zu werden und der Liebe Schwingen in des gesunden Glaubens Nahrung sich zu stärken? O Herr, unser Gott, wir wollen hoffen unter dem Schatten deiner Flügel, schirme du uns und trag uns! Ja du wirst auch die Kleinen tragen, und wirst sie tragen bis ins Alter. Denn unsere Stärke ist Stärke nur, wenn du sie bist; ist sie unser, so ist sie Schwachheit. Bei dir lebt immer unser Gut: weil wir von ihm uns abkehrten, sind wir verkehrt worden. Wir wollen nun wiederkehren, auf daß wir nicht umgekehrt in Zerstörung werden, wollen wiederkehren, Herr, weil bei dir unser Gut lebt ohne alle Gefahr, da du es selber bist. Und wir fürchten nicht, wir möchten nicht mehr haben, wohin wir zurück könnten, weil wir von dort uns hinwegstürzten; denn uns, auch da wir ferne waren, stürzte unser Haus nicht ein, es ist deine Ewigkeit.[87]

Quelle:
Augustinus: Die Bekenntnisse. Stuttgart 41863, S. 63-89.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Bekenntnisse
Universal-Bibliothek Nr. 2792: Bekenntnisse
Confessiones /Bekenntnisse: Liber X et XI /10. und 11. Buch
Bekenntnisse
Bekenntnisse / Confessiones. Lateinisch und deutsch
Was ist Zeit?: Confessiones XI / Bekenntnisse 11

Buchempfehlung

Stramm, August

Gedichte

Gedichte

Wenige Wochen vor seinem Tode äußerte Stramm in einem Brief an seinen Verleger Herwarth Walden die Absicht, seine Gedichte aus der Kriegszeit zu sammeln und ihnen den Titel »Tropfblut« zu geben. Walden nutzte diesen Titel dann jedoch für eine Nachlaßausgabe, die nach anderen Kriterien zusammengestellt wurde. – Hier sind, dem ursprünglichen Plan folgend, unter dem Titel »Tropfblut« die zwischen November 1914 und April 1915 entstandenen Gedichte in der Reihenfolge, in der sie 1915 in Waldens Zeitschrift »Der Sturm« erschienen sind, versammelt. Der Ausgabe beigegeben sind die Gedichte »Die Menscheit« und »Weltwehe«, so wie die Sammlung »Du. Liebesgedichte«, die bereits vor Stramms Kriegsteilnahme in »Der Sturm« veröffentlicht wurden.

50 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon