[437] 48. anujńā-parihārau deha-sambandhāj; jyotir-ādi-vat
Gebote und Verbote durch die Verbindung mit dem Leibe; wie bei dem Lichte u.s.w.

Nehmen wir denn ein Gebot wie: »man soll zur rechten Zeit sein Weib besuchen« und ein Verbot wie: »man soll dem Weibe[437] des Lehrers nicht nahen;« – oder ein Gebot wie: »man soll das Opfertier um seine Erlaubnis fragen«, und ein Verbot wie: »man soll keinem Wesen etwas zu Leide thun«; – oder im weltlichen Sinne ein Gebot wie: »man soll seinem Freunde dienen« und ein Verbot wie: »man soll den Feind meiden«, – so können derartige Gebote und Verbote trotz der Einheit der Seele bestehen »durch die Verbindung mit dem Leibe«, d.h. weil die Seele mit den Leibern verbunden ist. Worin besteht nun diese Verbindung mit den Leibern? Darin, dass in der Seele die verkehrte Meinung sich bildet: »dieses Aggregat des Leibes u.s.w. bin ich.« Diese Meinung zeigt sich bei allen lebenden Wesen in dem Bewusstsein: »ich gehe, – ich komme, – ich bin blind, – ich bin sehend, – ich bin verrückt, – ich bin bei Verstande« u.s.w. Denn diese Meinung besteht überall, wo sie nicht durch die vollkommene Erkenntnis aufgehoben ist; vor der vollkommenen Erkenntnis aber erstreckt sich dieser Irrtum durch alle Kreaturen hindurch. Da dem so ist, so können, auch wenn man die Einheit der Seele annimmt, zufolge der Unterscheidung, welche bewirkt wird durch die Verbindung mit den Upādhi's, d.h. mit dem durch das Nichtwissen bedingten Leibe u.s.w., die Gebote und Verbote bestehen. – ›Aber dann folgt doch, dass wenigstens für den, welcher die vollkommene Erkenntnis besitzt, die Gebote und Verbote bedeutungslos sind?‹ – Doch nicht, sondern nur, weil er den Zweck schon erreicht hat, findet auf ihn die Verpflichtung keine Anwendung mehr. | Denn der Verpflichtete wird verpflichtet, weil ein zu Meidendes oder zu Erlangendes vorhanden ist; derjenige nun, welcher kein Ding ausser dem Selbste (ātman) erblickt, für den also nichts mehr besteht, was er vermeiden oder erlangen könnte, kann nicht verpflichtet werden, denn das Selbst kann doch nicht in Bezug auf sich selbst verpflichtet werden. – ›Aber verpflichtet wird doch ein jeder, welcher das Hinausreichen der Seele über den Leib [die Unsterblichkeit, auf der das vedische Gesetz beruht] anerkennt?‹ – Doch nicht! sondern nur dann, wenn er den Wahn hat, mit dem Leibe verbunden zu sein. Freilich ist es richtig, dass man das Hinausreichen der Seele über den Leib anerkennen muss, um verpflichtet werden zu können; aber doch nur derjenige, welcher nicht erkennt, dass die Seele so wenig mit dem Leibe verbunden ist wie der Raum [mit den Gefässen], unterliegt dem Wahne der Verpflichtung; keiner aber, der auch nur die Nichtverknüpfung der Seele mit dem Leibe erkennt, unterliegt der Verpflichtung, wie viel weniger derjenige, welcher die Einheit der Seele erkennt. Übrigens folgt nicht, dass derjenige, welcher die vollkommene Erkenntnis besitzt, weil auf ihn keine Verpflichtung mehr Anwendung findet, nun wandeln wird wie es ihm beliebt; denn dasjenige, was zu allem Handeln antreibt, ist nur jener Wahn, und[438] dieser Wahn besteht nicht mehr bei dem, welcher die vollkommene Erkenntnis besitzt. – Somit bestehen [ungeachtet der Einheit alles Seienden in dem Ātman, doch] die Gebote und Verbote, zufolge der Verbindung mit dem Leibe, zu Rechte und es ist damit »wie bei dem Lichte u.s.w.«. D.h.: wie zwar das Licht eines ist, aber doch das fleischverzehrende [Leichen-]Feuer vermieden wird, und nicht das andere; – oder wie das Sonnenlicht zwar eines ist und doch, wo es an unreine Orte scheint, vermieden wird, nicht aber anderwärts an reinen Orten; – und wie ebenso gewisse erdige Substanzen, wie der Diamant | und Beryll aufgesucht werden, während hingegen Menschenleichen, obwohl auch sie aus Erde bestehen, gemieden werden; – und wie ebenso Harn und Kot von Kühen als Reinigungsmittel angewendet wird, während eben dieselben bei andern Wesen vermieden werden, – in derselben Weise verhält es sich in unserm Falle.

Quelle:
Die Sūtra's des Vedānta oder die Ēārīraka-Mīmāṅsā des Bādarāyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 437-439.
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