2. Das Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit im Verstehen

[170] Erfahren wir so in den Erlebnissen die Lebenswirklichkeit in der Mannigfaltigkeit ihrer Bezüge, so scheint es doch, so angesehen, immer nur ein Singulares, unser eigenes Leben zu sein, von dem wir im Erleben wissen. Es bleibt ein Wissen von einem Einmaligen, und kein logisches Hilfsmittel kann die in der Erfahrungsweise des Erlebens enthaltene Beschränkung auf das Einmalige überwinden. Das Verstehen erst hebt die[170] Beschränkung des Individualerlebnisses auf, wie es anderseits dann wieder den persönlichen Erlebnissen den Charakter von Lebenserfahrung verleiht. Wie es sich auf mehrere Menschen, geistige Schöpfungen und Gemeinschaften erstreckt, erweitert es den Horizont des Einzellebens und macht in den Geisteswissenschaften die Bahn frei, die durch das Gemeinsame zum Allgemeinen führt.

Das gegenseitige Verstehen versichert uns der Gemeinsamkeit, die zwischen den Individuen besteht. Die Individuen sind miteinander durch eine Gemeinsamkeit verbunden, in welcher Zusammengehören oder Zusammenhang, Gleichartigkeit oder Verwandtschaft miteinander verknüpft sind. Dieselbe Beziehung von Zusammenhang und Gleichartigkeit geht durch alle Kreise der Menschenwelt hindurch. Diese Gemeinsamkeit äußert sich in der Selbigkeit der Vernunft, der Sympathie im Gefühlsleben, der gegenseitigen Bindung in Pflicht und Recht, die vom Bewußtsein des Sollens begleitet ist.

Die Gemeinsamkeit der Lebenseinheiten ist nun der Ausgangspunkt für alle Beziehungen des Besonderen und Allgemeinen in den Geisteswissenschaften. Durch die ganze Auffassung der geistigen Welt geht solche Grunderfahrung der Gemeinsamkeit hindurch, in welcher Bewußtsein des einheitlichen Selbst und das der Gleichartigkeit mit den Anderen, Selbigkeit der Menschennatur und Individualität miteinander verbunden sind. Sie ist es, die die Voraussetzung für das Verstehen bildet. Von der elementaren Interpretation ab, die nur die Kenntnis von der Bedeutung der Worte und von der Regelhaftigkeit, mit der sie in Sätzen zu einem Sinn verbunden sind, sonach Gemeinsamkeit der Sprache und des Denkens fordert, erweitert sich beständig der Umkreis des Gemeinsamen, welcher den Verständnisvorgang möglich macht, in dem Maß, in welchem höhere Verbindungen von Lebensäußerungen den Gegenstand dieses Vorganges ausmachen.

Aus der Analyse des Verstehens ergibt sich nun aber ein zweites Grundverhältnis, das für die Struktur des geisteswissenschaftlichen Zusammenhanges bestimmend ist. Wir sahen, wie auf[171] dem Erleben und Verstehen die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten beruhen: nun setzt aber das Verstehen anderseits die Verwertung geisteswissenschaftlicher Wahrheiten voraus. Ich erläutere dies an einem Beispiel. Die Aufgabe sei, Bismarck zu verstehen. Eine außerordentliche Fülle von Briefen, Aktenstücken, Erzählungen und Berichten über ihn bildet das Material. Dieses bezieht sich auf seinen Lebensverlauf. Der Historiker muß nun dies Material erweitern, um das, was auf den großen Staatsmann einwirkte, wie das, was er erwirkt hat, zu erfassen. Ja, solange der Vorgang des Verstehens dauert, ist auch die Abgrenzung des Materials noch nicht abgeschlossen. Schon um Menschen, Ereignisse, Zustände als diesem Wirkungszusammenhang zugehörig zu erkennen, bedarf er allgemeiner Sätze. Sie liegen dann auch seinem Verständnis Bismarcks zugrunde. Sie erstrecken sich von den gemeinsamen Eigenschaften des Menschen zu den besonderen einzelner Klassen. Der Historiker wird individualpsychologisch Bismarck unter den Tatmenschen seine Stelle geben, und in ihm der eigenen Kombination von Zügen, die solchen gemeinsam sind, nachgehen. Er wird unter einem anderen Gesichtspunkt in der Souveränität seines Wesens, in der Gewöhnung, zu herrschen und zu leiten, in der Ungebrochenheit des Willens Eigenschaften des grundbesitzenden preußischen Adels wiederfinden. Wie sein langes Leben eine bestimmte Stelle im Verlauf der preußischen Geschichte einnimmt, ist es wieder eine andere Gruppe allgemeiner Sätze, durch welche die gemeinsamen Züge der Menschen dieser Zeit bestimmt werden. Der ungeheure Druck, der nach der Staatslage auf dem politischen Selbstgefühl lastete, rief die verschiedensten Arten von Reaktion naturgemäß hervor. Das Verständnis hiervon fordert allgemeine Sätze über den Druck, den eine Lage auf ein politisches Ganze und seine Glieder übt und über deren Rückwirkung. Die Grade der methodischen Sicherheit im Verständnis sind von der Entwicklung der allgemeinen Wahrheiten abhängig, durch welche dies Verhältnis seine Fundierung erhält. Es wird nun klar, daß dieser große Tatmensch, der ganz in Preußen und seinem Königtum wurzelt,[172] den auf Preußen von außen lastenden Druck auf besondere Art fühlen wird. Er muß daher die inneren Fragen der Verfassung dieses Staates vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Macht des Staates taxieren. Und wie er Kreuzungspunkt von Gemeinsamkeiten wie Staat, Religion, Rechtsordnung ist, und als historische Persönlichkeit eine von diesen Gemeinsamkeiten eminent bestimmte und bewegte, und zugleich in sie wirkende Kraft, so fordert das vom Historiker ein allgemeines Wissen von diesen Gemeinsamkeiten. Kurz, sein Verstehen wird seine Vollkommenheit schließlich erst durch die Beziehung zum Inbegriff aller Geisteswissenschaften erlangen. Jede Beziehung, die in der Darstellung dieser historischen Persönlichkeit herausgearbeitet werden muß, erhält die höchst erreichbare Sicherheit und Deutlichkeit erst durch ihre Bestimmung vermittels der wissenschaftlichen Begriffe über die einzelnen Gebiete. Und das Verhältnis dieser Gebiete zueinander ist schließlich in einer Gesamtanschauung der geschichtlichen Welt gegründet.

So verdeutlicht uns unser Beispiel die zweifache Relation, die in dem Verstehen angelegt ist. Das Verstehen setzt ein Erleben voraus, und das Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung dadurch, daß das Verstehen aus der Enge und Subjektivität des Erlebens hinausführt in die Region des Ganzen und des Allgemeinen. Und weiter fordert das Verstehen der einzelnen Persönlichkeit zu seiner Vollendung das systematische Wissen, wie anderseits wieder das systematische Wissen abhängig ist von dem lebendigen Erfassen der einzelnen Lebenseinheit. Die Erkenntnis der anorganischen Natur vollzieht sich in einem Aufbau der Wissenschaften, in welchem die untere Schicht jedesmal unabhängig von der ist, die sie begründet: in den Geisteswissenschaften ist vom Vorgang des Verstehens ab alles durch das Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit bestimmt.

Dem entspricht der geschichtliche Verlauf dieser Wissenschaften. Die Geschichtsschreibung ist an jedem Punkt bedingt vom Wissen über die in den geschichtlichen Verlauf verwebten systematischen Zusammenhänge, und deren tiefere Ergründung bestimmt den Fortgang des historischen Verstehens. Thukydides[173] beruhte auf dem politischen Wissen, das in der Praxis der griechischen Freistaaten entstanden war, und auf den staatsrechtlichen Doktrinen, die sich in der Periode der Sophisten entwickelt haben. Polybios hat in sich die ganze politische Weisheit der römischen Aristokratie, die zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt ihrer gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung stand, zusammengenommen mit dem Studium der griechischen politischen Werke von Platon bis zur Stoa. Die Verbindung der florentinischen und venezianischen Staatsweisheit, wie sie in einer hochentwickelten und politisch lebhaft debattierenden oberen Gesellschaft sich entwickelt hatte, mit der Erneuerung und Fortbildung der antiken Theorien, hat die Geschichtsschreibung von Machiavelli und Guicciardini möglich gemacht. Die kirchliche Geschichtsschreibung des Eusebios, der Anhänger der Reformation und ihrer Gegner, wie die Neanders und Ritschls, ist von systematischen Begriffen über den religiösen Prozeß und das kirchliche Recht erfüllt gewesen. Und endlich hatte die Begründung der modernen Geschichtsschreibung in der historischen Schule und in Hegel dort die Verbindung der neuen Rechtswissenschaft mit den Erfahrungen der Revolutionszeit und hier die ganze Systematik der neuentstandenen Geisteswissenschaften hinter sich. Wenn Ranke in naiver Erzählerfreude den Dingen gegenüberzutreten scheint, so kann seine Geschichtsschreibung doch nur verstanden werden, wenn man den mannigfachen Quellen systematischen Denkens nachgeht, die in seiner Bildung zusammengeflossen sind. Und im Fortschreiten zur Gegenwart hin nimmt diese gegenseitige Abhängigkeit des Historischen und Systematischen immer zu.

Selbst die historische Kritik ist in ihren großen epochemachenden Leistungen neben ihrer Bedingtheit durch die formale Entwicklung der Methode jedesmal von der tieferen Erfassung systematischer Zusammenhänge abhängig gewesen – von den Fortschritten der Grammatik, vom Studium des Zusammenhangs der Rede, wie es zunächst in der Rhetorik sich ausgebildet hatte, dann von der neueren Auffassung der Poesie, – wie uns denn Wolfs Vorgänger, die aus einer neuen Poetik ihre[174] Schlüsse auf Homer machten, immer deutlicher bekannt werden –, in Fr. A. Wolf selbst von der neuen ästhetischen Kultur, in Niebuhr von nationalökonomischen, juristischen und politischen Einsichten, in Schleiermacher von der neuen Philosophie, die Platon kongenial war, und in Baur von dem Verständnis des Vorgangs, in welchem die Dogmen sich gebildet haben, wie es Schleiermacher und Hegel geschaffen hatten.

Und umgekehrt ist der Fortschritt in den systematischen Geisteswissenschaften immer bedingt gewesen durch den Fortgang des Erlebens in neue Tiefen, die Ausbreitung des Verstehens in einem weiteren Umfang von Äußerungen des historischen Lebens, die Eröffnung bis dahin unbekannter historischer Quellen oder das Emporsteigen großer Erfahrungsmassen in neuen geschichtlichen Lagen. Dies zeigt schon die Ausbildung der ersten Linien einer politischen Wissenschaft in der Zeit der Sophisten, des Platon und Aristoteles wie die Entstehung einer Rhetorik und Poetik als einer Theorie des geistigen Schaffens zu derselben Zeit.

Überall war so Ineinanderwirken von Erleben, Verstehen einzelner Personen oder der Gemeinsamkeiten als überindividueller Subjekte bestimmend in den großen Fortschritten der Geisteswissenschaften. Die einzelnen Genies der erzählenden Kunst wie Thukydides, Guicciardini, Gibbon, Macaulay, Ranke bringen auch in der Beschränkung zeitlose historische Werke hervor; in dem Ganzen der Geisteswissenschaft regiert doch ein Fortschritt: die Einsicht in die Zusammenhänge, die in der Geschichte zusammenwirken, wird allmählich für das historische Bewußtsein erobert, die Historie dringt in die Beziehungen zwischen diesen Zusammenhängen, wie sie eine Nation, ein Zeitalter, eine historische Entwicklungslinie konstituieren, und von da aus schließen sich dann wieder Tiefen des Lebens, wie es an den einzelnen historischen Stellen bestanden hat, auf, die über alles frühere Verstehen hinausreichen. Wie könnte mit dem Verständnis eines heutigen Historikers von Künstlern, Dichtern, Schriftstellern irgendein früheres verglichen werden!
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Quelle:
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. Main 1970, S. 170-176.
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Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften

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