5. Der Begriff der Kausalität.

[292] In der indischen Philosophie werden überall streng zwei Arten von Ursachen (kâraṇa) unterschieden: die materielle (upâdâna) und die bewirkende (nimitta). Die materielle Ursache eines Dinges ist der Stoff, aus dem es hervorgeht und besteht; als bewirkende Ursache gilt nicht nur die Veranlassung seines Entstehens, sondern auch das Mittel, durch das es hervorgebracht wird79. Da upâdâna und nimitta unter dem Begriff kâraṇa zusammengefaßt werden, hat die philosophische Terminologie Indiens auch für Produkt und Wirkung nur den einen Ausdruck kârya: der Topf ist das kârya des Tons, aber ebenso ist auch der Tod des getroffenen Tieres das kârya des Schusses. Nur in Ausnahmefällen, wenn zwischen den Begriffen des Produkts und des Effekts genau unterschieden werden soll, sind zu diesem Zwecke die Adjektive aupâdânika und naimittika verwendet.

Das Eintreten eines Ereignisses ist gewöhnlich durch eine ganze Reihe bewirkender Ursachen bedingt, die keineswegs in analogen Fällen die gleichen zu sein brauchen; die materielle Ursache eines Dinges dagegen ist stets dieselbe: ein bestimmtes Produkt kann immer nur aus einer[293] bestimmten materiellen Ursache hervorgehen, der Topf nur aus Ton, das Tuch nur aus Fäden80. Deshalb wird auch die materielle als die Hauptursache für die Hervorbringung eines Produkts angesehen, während die bewirkenden als begleitende oder Nebenursachen (sahakâri-kâraṇa) gelten.

Weil die bewirkenden Ursachen kein neues Ding hervorbringen, sondern allein die Entstehung von Veränderungen an dem schon vorhandenen veranlassen81, so beschäftigt sich die Sâmkhya-Lehre von dem Kausalzusammenhang der Dinge lediglich mit dem Begriff und Wesen der materiellen Ursache.

Unser System geht von dem Grundsatz aus: ex nihilo nihil fit (nâ 'vastuno vastu-siddhiḥ)82, mit anderen Worten: »Es gibt keine Verbindung zwischen dem Seienden und Nichtseienden« (sad-asatoḥ sambandhânupapattiḥ)83 oder: »Ein Ding kann nicht die Ursache seiner selbst sein« (svasya sva-kâraṇdnupapattiḥ)84. Mit der noch entschiedeneren Formulierung dieses Grundsatzes: »Eine Substanz kann nur aus einer Substanz hervorgehen« (dravyasyai 'va dravyopâdânatvam)85 wendet sich das Sâmkhya-System zunächst gegen die theologische Erklärung der Weltentstehung durch einen Schöpfungsakt; ein solcher Akt könnte nur die bewirkende, aber nicht die materielle Ursache der Welt sein, da das Handeln eine Qualität ist86. Es wird aber weiterhin der Satz, daß Qualitäten nicht materielle Ursachen von Substanzen sein können, auch zur Bekämpfung der Vedânta-Lehre benutzt, nach der die Erscheinungswelt auf dem Nichtwissen beruht.

Das Verhältnis von Ursache und Wirkung (beziehungsweise Produkt) ist für unser System nicht einfach der Zusammenhang[294] des zeitlich Vorangehenden und Nachfolgenden87. Auf Grund der. Erwägung, daß jedes Produkt seine materielle Ursache in sich begreift, daß das erstere nicht ohne die Fortdauer der letzteren möglich ist, hat die Sâmkhya-Philosophie die Lehre von der Identität beider (kârya-kâraṇâ–'bheda) aufgestellt, womit gemeint ist, daß das Produkt sich von seiner Ursache nicht der Substanz, sondern nur den Qualitäten nach unterscheidet. Das Diadem ist nichts anderes als das Gold, das irdene Gefäß nichts anderes als der Ton, das Tuch nichts anderes als die Fäden, aus denen es besteht88. Aus dieser Identität – oder wie wir sagen würden: Koexistenz – von Ursache und Produkt folgt, daß von der Entstehung (utpatti) eines Produkts nicht gesprochen werden darf, daß vielmehr die sogenannte Entstehung eine Manifestation, ein In-die-Erscheinung-treten (abhivyakti) ist. Und wie das Produkt nicht entsteht, weil es bereits in seiner materiellen Ursache existiert, bevor es in die Erscheinung tritt, so geht es auch nicht zugrunde, sondern tritt nur aus der Erscheinung, indem es in seiner Ursache wieder verschwindet oder aufgeht (laya, tirobhâva). Die Manifestation ist also der gegenwärtige Zustand (vartamânâvasthâ) des Produkts, das angebliche frühere Nichtsein der zukünftige (anâgatâvasthâ) und das angebliche spätere Nichtsein der vergangene Zustand (atîtâvasthâ)89. Die materielle Ursache ist vor der Manifestation des Produkts nichts anderes als dieses Produkt im Zustande der Zukunft, und das Produkt nach dem Ende der Manifestation nichts anderes als die materielle Ursache im Zustande der Vergangenheit. Jedes stoffliche Ding ist also, bevor es in die Erscheinung und nachdem es[295] aus der Erscheinung getreten ist, genau so real als während der zwischen diesen beiden Grenzen liegenden Zeit; nur seine Form oder sein Zustand ändert sich. Durch diesen Gedankengang90 ist die Sâmkhya-Philosophie zu der ›Lehre von der ewigen Realität der Produkte‹ (sat-kârya-vâda) gelangt, einer das System so charakteristischen Theorie, daß dieses nicht selten mit dem eben angeführten technischen Ausdrucke bezeichnet wird91.

Da der Satz von der Ewigkeit und Unzerstörbarkeit des Stoffes ein Grundpfeiler unseres philosophischen Gebäudes ist, so werden wir auch die Lehre, aus der dieser Satz abgeleitet ist, für ebenso alt halten müssen als das Sâmkhya-System selbst. Es ist für die Geschichte der indischen Philosophie von besonderer Wichtigkeit, diesen Punkt festzustellen, weil die Theorie der Identität von Ursache und Produkt sich auch im Vedânta-System findet, und zwar mit genau derselben Begründung wie in den Sâmkhya-Schriften. Man vergleiche in Deussens System des Vedânta 275-280 besonders die Abschnitte »die Ursache besteht in der Wirkung fort«, »die Wirkung besteht schon vor ihrem Entstehen, nämlich als Ursache«, »die Wirkung liegt in der Ursache präformiert«, »Allgemeinheit der Identität von Ursache und Wirkung«. Die Vedânta-Philosophie hat diesen Gedanken benutzt, um die Lehre der Identität von Brahman und Welt zu beweisen. Darüber bemerkt Deussen S. 275: »So gründet sich die Identitätslehre unserer Autoren auf eine Untersuchung des Kausalitätsbegriffes, und es ändert an diesem Verhältnisse nichts, daß in dem uns vorliegenden Werke [den Brahmasûtras nebst Śamkaras Kommentar] zuerst 2,[296] 1, 14 die Lehre der Identität von Brahman und Welt mit vorwiegend theologischer Begründung, und sodann 2, 1, 15-20 gleichsam als ein Corollarium derselben der Beweis der inneren Identität von Ursache und Wirkung auftritt«. Wenn auch Deussen hinzufügt, daß die logische Ordnung vielmehr umgekehrt sei, daß aus der Identität der Ursache und der Wirkung die Identität des Brahman und der Welt folge, so dürfen wir doch an nehmen, daß die Behandlung dieses Gegenstandes in dem Hauptwerk der Vedânta-Schule sich durchaus an die historische Entwicklung der Beweise für die Identitätslehre anschließt. Die Vedânta-Lehrer haben mit richtigem Blick für das, was ihre Ansichten stützen konnte, der ursprünglich »vorwiegend theologischen Begründung«, d.h. den aus der Schrift abgeleiteten Gründen, als »Corollarium« die Begründung durch einen von der Sâmkhya-Philosophie erarbeiteten Lehrsatz hinzugefügt. Wenn wir vor der Alternative stehen, ob die Argumentierung mit dem Beharren der Substanz zuerst in einem System gehandhabt ist, dem die Erscheinungswelt für illusorisch gilt, oder in einem Systeme, das diese für real erklärt, so werden wir kaum zweifeln dürfen, uns für das letztere zu erklären.

79

Die Vaiśeṣika-Nyâya-Philosophie nimmt dreierlei Ursachen an, d.h. außer den beiden genannten eine dritte, die man als formale bezeichnen kann. Anstatt upâdâna-kâraṇa, aber genau in der gleichen Bedeutung, gebraucht sie den Ausdruck samavâyi-kâraṇa ›inhärierende Ursache‹, und stellt daneben das asamavâyi-kâraṇa ›die nicht-inhärierende Ursache‹. Die Fäden sind die inhärierende (d.h. materielle), die Verbindung der Fäden ist die nicht-inhärierende (d.h. formale) Ursache des Tuches. Die Werkzeuge des Webers, seine persönliche Geschicklichkeit, seine Tätigkeit, ja der Weber selbst sind die bewirkenden Ursachen des Tuches. Das Tuch selbst ist die inhärierende Ursache seiner Qualitäten, die Qualitäten der Fäden sind die nicht-inhärierende Ursache der Qualitäten des Tuches. Vgl. hierüber unter anderem Ballantyne, Lectures on the Nyâya Philosophy, Allahabad 1849, 22 fg.; Röer, Bhâshâpariccheda Introd. VIII; Hall, Rational Refutation 94 Anm. †, und jetzt besonders Suali, Introduzione 256-267.

80

Vgl. (auch zu den folgenden Ausführungen) Sâmkhyakârikâ 9, Sûtra I. 115-117.

81

Vijñ. zu Sûtra I. 120.

82

Sûtra I. 78, 80.

83

Vijñ. zu Sûtra I. 113.

84

Vijñ. zu Sûtra I. 62.

85

Vijñ. zu Sûtra I. 63.

86

Sûtra I. 81.

87

Sûtra I. 41.

88

In der Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 9 (S. 562 meiner Übersetzung) sind hierfür nicht weniger als vier syllogistische Beweise beigebracht worden.

89

Die Vaiśeṣika-Nyâya-Lehre von der prioren und posterioren Nicht-existenz (pûrvâbhâva, dhvamsa oder pradhvamsa) wird in den Sâmkhya-Schriften mit großer Energie bekämpft.

90

Vgl. Kârikâ 9, Sûtra I. 113-123, V. 60, VI. 53, Anir. und Vijñ. zu I. 45, 91, Vijñ. zu I. 1, Sarva-dar śana-samgraha S. 224, 225 der Übersetzung; Colebrooke, Misc. Ess.2 I. 265, 266.

91

Dementsprechend heißen die Anhänger des Sâmkhya-Systems sat-kârya-vâdin im Gegensatze zu den asat-kârya-vâdin genannten Vertretern der Vaiśeṣika-Nyâya-Philosophie, nach deren Meinung das Produkt vor seiner Hervorbringung nicht existiert. Vgl. Hall, Rational Refutation 94 Anm.; Suali, Introduzione 263.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 292-297.
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