8. Der feine oder innere Körper.

[327] Die dreizehn Organe sind nicht vergänglich wie der grob-materielle Leib, sondern begleiten die Seele auf ihrer Wanderung durch alle wechselnden Existenzen. Zu diesem Zwecke bedürfen sie nach der Sâmkhya-Lehre einer Basis, da sie ohne eine solche ein haltloser Komplex wären, »wie ein Bild ohne eine Grundlage oder ein Schatten ohne den schattenwerfenden Gegenstand«71. Diese den Organen Halt und Bestand verleihende Basis hat unser System in den fünf feinen Elementen gefunden; mit ihnen zusammen bilden die Organe den inneren Körper72, das liṅga. Dieses Wort bedeutet[327] nicht, wie die einheimische Erklärung73 sagt, ›das [bei der Befreiung der Seele in die Urmaterie] aufgehende (layam gacchat)‹, sondern das charakteristische Merkmal, d.h. dasjenige, was Wesen und Charakter des Individuums bestimmt. Denn da die Sâmkhya-Philosophie nicht die geringste qualitative Verschiedenheit zwischen den einzelnen Seelen anerkennt, ist der innere Körper das Prinzip der Persönlichkeit in diesem Leben und das Prinzip der Identität der Person in den zahllosen Existenzen. Gebräuchliche Weiterbildungen aus liṅga sind liṅga-deha oder °śarîra ›charakterisierender Körper‹, Synonyma sind sûkṣma-deha (°śarîra) ›feiner Kör per‹ und âtivâhika-śarîra ›hinübergeleitender Körper‹. Dem letzten Ausdruck ist in neuerer Zeit allerdings eine etwas abweichende Bedeutung gegeben. Vijñânabhikṣu74 versteht nämlich unter ihm ›die Grundlage oder den Sitz der dreizehn Organe‹, das adhiṣṭhâna-śarîra, das durch die fünf feinen Elemente gebildet ist, obwohl aus dem Wortlaut von Sûtra V. 103 deutlich hervorgeht, daß âtivâhika-śarîra im Gegensatz zu dem groben Körper, also im Sinne von liṅga° steht. Wenn Vijñânabhikṣu75 die Erklärung abgibt, daß zuweilen das liṅga- und adhiṣṭhâna-śarîra wegen ihrer Feinheit in der Literatur als eins behandelt werden, so dürfen wir dies dahin berichtigen, daß die älteste Sâmkhya-Quelle außer dem groben Leibe überhaupt nur einen einheitlichen inneren Körper kennt. In Kârikâ 40 heißt es ausdrücklich, daß das Liṅga aus den materiellen Prinzipien von der Buddhi an »bis herunter zu den feinen Elementen« gebildet ist. Ebendaselbst findet sich auch die ausführlichste zusammenhängende Beschreibung des inneren Körpers. Er ist »im Anfang entstanden, unbeschränkt [hinsichtlich der groben Leiber, in die er eingeht], und konstant«, d.h. er[328] bildet sich am Beginn eines Weltalters und währt, bis die erlösende Erkenntnis erreicht ist oder die Weltauflösung eintritt76. Aber nur im ersten Fall wird er für immer von der Urmaterie absorbiert; für alle diejenigen Seelen, die bei der Reabsorption des Universums noch nicht die Erlösung gewonnen haben, entsteht der innere Körper bei Beginn der folgenden Weltperiode aufs neue. Die Ursache seiner Neubildung liegt in der Nichtunterscheidung, in der Kraft von Verdienst und Schuld und in den Dispositionen, welche Faktoren während der Zeit der Weltauflösung in der Urmaterie bestehen bleiben77. »Der innere Körper wandert« – so schließt Kârikâ 40 – »[aus einem groben Körper in den anderen], weil er [sonst] nicht empfinden kann, affiziert von den Zuständen«. Aus diesen Worten ergibt sich zunächst, daß sowohl die Metempsychose wie die Empfindung durch den inneren Körper bewirkt wird78. Da aber das Zustandekommen der Empfindung von seiner Vereinigung mit einem groben Leibe abhängig ist, so folgt, daß in dem Augenblick der Wanderung, d.h. während der kurzen Zeit, die der innere Körper nach dem Eintritt des Todes unterwegs ist, um in einen anderen groben Körper zu gelangen, keinerlei Empfindung stattfinden kann79.

Zu den letzten Worten des eben angeführten Zitats »affiziert von den Zuständen« bemerkt die Sâmkhya-tattva-kaumudî folgendes: »Die Zustände sind Verdienst und Schuld,[329] Erkenntnis und Nichterkenntnis, Gleichgiltigkeit und Nichtgleichgiltigkeit [gegen die Sinnenwelt], übernatürliche Kraft und Mangel der übernatürlichen Kraft. Mit diesen [Zuständen] ist die Buddhi behaftet, und da der feine Körper diese in sich begreift, ist er gleichfalls von den Zuständen affiziert80 [eigentlich: durchduftet], ebenso wie ein Kleid, wenn es mit schönduftenden Campaka-Blüten versehen ist, von deren Wohlgeruch durchduftet wird.«

Diese Zustände und der innere Körper bedingen sich gegenseitig: ohne den inneren Körper sind die Zustände nicht möglich, und ohne die Zustände würde der innere Körper nicht das gegenwärtige Leben überdauern. So stehen beide zueinander in dem Verhältnis einer anfangslosen Kontinuität, vergleichbar derjenigen von Samen und Sproß81.

Im Sâmkhya-System ist also nicht die Seele, sondern der innere Körper gut oder schlecht, weise oder töricht, entsagend oder leidenschaftlich, stark oder schwach; nicht in der Seele, sondern in dem inneren Körper haftet die moralische Verantwortlichkeit, auf der die Metempsychose beruht. Der innere Körper wird mit einem seine Rolle wechselnden Schauspieler verglichen, weil er infolge einer besonderen Naturkraft die verschiedenartigsten Formen annimmt, »veranlaßt durch das Ziel der Seele«, d.h. damit diese den Lohn der ihr aufgebürdeten Taten empfange. »Gleichwie ein Schauspieler, der diese oder jene Rolle spielt, entweder Paraśurâma oder Ajâtaśatru oder der König der Vatsa wird, so wird der feine Körper, wenn er diesen oder jenen groben Körper annimmt, entweder ein Gott oder ein Mensch oder ein Tier oder ein Baum82.« Und der innere[330] Körper ist gemeint, wenn es von der Materie in Kârikâ 62 heißt: »Keine [Seele] fürwahr ist gebunden, wird erlöst oder wandert; die von den verschiedenen [Seelen] abhängige Materie [allein] wandert, ist gebunden und wird erlöst.« Solange der innere Körper auf seiner Wanderung beharrt, dauert der Schmerz, da es sein Wesen ist, Schmerzen hervorzubringen. Erst wenn der innere Körper sich endgiltig in der Urmaterie auflöst und das Leben für alle Zeiten erlischt, ist die Befreiung vom Schmerz gewonnen83.

Ich glaube, daß hier der Ort ist, noch eine wichtige und für das Sâmkhya-System charakteristische Lehre anzuführen, nämlich die von den hinterlassenen Eindrücken und den auf diesen beruhenden Dispositionen (samskâra, vâsanâ)84. Denn wenn auch die Buddhi der eigentliche Sitz dieser Eindrücke ist85, durch die der Instinkt, die Triebe, Fähigkeiten, Talente und das Gedächtnis erklärt werden, so wirken doch sämtliche Organe bei ihrer Hervorbringung mit; und ferner sind die Dispositionen, die ebensowenig wie das Weltdasein einen Anfang haben, für die Individualität der durch den inneren Körper repräsentierten Person von so hoher Bedeutung, daß sie füglich in diesem Zusammenhang zur Sprache zu bringen sind. Die ganze Theorie ist, wie die meisten distinktiven Sâmkhya-Lehren, in das Yoga-System übergegangen86 und deshalb von Paul Markus eingehend behandelt worden87. Wenn auch hier im Anschluß an die[331] Vorlage (Bhojarâjas Kommentar zum Yogasûtra) die spezielle Sâmkhya-Yoga-Lehre von den Spüren, die jede Empfindung, Wahrnehmung und Erfahrung in der Buddhi zurückläßt, eng mit der allgemein-indischen Vorstellung von der nachwirkenden Kraft des Werkes verschmolzen ist, so glaube ich doch meine Leser auf Markus' wohldurchdachte Darstellung verweisen zu können, aus der ich im folgenden die Hauptsachen heraushebe. »Ein jeder Vorgang prägt eine entsprechende Spur ein in den Boden des Denkorgans, und diese Spur verharrt da als ein Keim im Ackergrund (bîja im kṣetra) oder als eine Disposition (samskâra, d.i. passende Vorbereitung oder Zurüstung, εὐκοσμία) für die künftige Reproduktion dieses Vorganges ... Diese Dispositionen ... bilden bei ihrer unendlichen Menge ein sehr wesentliches Attribut des Denkorgans ... Das Denkorgan ist förmlich bunt davon, so verschieden sind die zahllosen einzelnen Anlagen, welche sich im Laufe der Geburten darin Bürgerrecht erwerben oder ... es usurpieren (â-rabh), mit jener rücksichtslosen Notwendigkeit des Naturgesetzes, welcher das Individuum willenlos unterliegen muß. Aber trotz all dieser steten Beeinflussung bleibt das Denkorgan was es ist: der nährende Boden, das verknüpfende, einheitgebende Band, das Substrat, zu welchem sämtliche Dispositionen nur Attribute sind ... Die Lebensgeschichte einer solchen Disposition ist folgende. Zunächst ist sie latent, virtuell, die reine Möglichkeit, allerdings mit der Tendenz, mit der unentrinnbaren Bestimmung, die ihr gebührende Wirkung zu üben, aber noch nicht mit der ausgereiften Energie dazu. Als solche sind sie noch nicht näher erfaßbar, definierbar. Unmittelbar wahrzunehmen sind ja immer nur ihre aktuellen Äußerungen, von denen man dann rückwärts auf die Beschaffenheit der Samskâras schließen kann ... Wenn ihre Zeit gekommen ist, da tauchen sie auf, werden lebendig, um endlich – nicht zu vergehen, sondern – in die Ruhe des Gewesenen, der ewig stillen Vergangenheit einzutreten ... Diese Anlagen bleiben ein stetes Eigentum des Individuums,[332] nur in verschiedener Daseinsform, je nachdem sie ihren bestimmten Zweck schon erfüllt haben oder nicht. Erst als gebundene Kräfte, die der Lösung, des Umsatzes in lebendige Kraft harren, um entscheidend für das praktische Tun des Individuums zu werden; als ungeahnte schlummernde Triebe, die nur erst erweckt, erregt werden sollen, um zu mächtigem Einfluß auf uns zu gelangen ... Alle für das physische Leben unentbehrlichen Fertigkeiten, die Gewohnheiten und Anlagen, die wir, wie man sagt, mit auf die Welt bringen, sind das Erbteil früherer Geburten; sie sind Eindrücke, welche in der Zwischenzeit im Verborgenen fortbestehen und ihre latente Kraft bewahren, um sie einst zur passenden Stunde frisch und jung zu betätigen, – wie Samenkörner, welche jahrelang aufbewahrt worden sind, aber dann, wenn sie in die fürs Keimen günstigen Verhältnisse versetzt werden, ihre Keimkraft entwickeln, als wären sie erst jüngst geerntet. Daraus erklärt es sich im Grunde auch, daß wir uns unserer Schicksale im Himmel, in der Hölle, in früheren Geburten nicht erinnern; die Eindrücke davon sind eben für unsere gegenwärtige Existenz ohne Belang; verloren gehen können sie aber nicht.«

Unter allen Dispositionen ist die verhängnisvollste die einem jeden Wesen angeborene Anlage zum Nichtwissen (avidyâ-samskâra), d.h. zur Verwechslung von Geist und Materie. Sie ist die Wurzel alles Übels; denn da sie die Ursache des Verlangens nach weltlichen Freuden und mittelbar der Erwerbung von Verdienst und Schuld ist, verstrickt sie die Wesen immer aufs neue in das Weltdasein88.

71

Kârikâ 41, Sûtra III 12, 13. – Die ähnlichen Anschauungen des Vedânta über den feinen Leib (s. Deussen, System des Vedânta 399-404) scheinen im wesentlichen aus dem Sâmkhya-System herübergenommen zu sein. Die Vedânta-Lehrer gebrauchen das technische liṅga und dessen Zusammensetzungen nicht, wohl aber sûkṣma-śarîra, bhûtâśraya und Umschreibungen.

72

Der innere Körper ist also durch achtzehn Bestandteile gebildet, wie Aniruddha und Mahâdeva zu Sûtra III. 9 richtig zählen. Das Sûtra selbst rechnet nur siebzehn, was Vijñânabhikṣu dadurch zu erklären sucht, daß Buddhi und Ahamkâra als eins gedacht seien. – Einige Sâmkhya-Lehrer (Paramârtha zu Kârikâ 41, Gauḍapâda zu Kârikâ 40-42, Vijñânabhikṣu zu Sûtra III. 11, 12, V. 103) machen den für das System bedeutungslosen Unterschied, daß sie unter liṅga nur die dreizehn Organe, unter liṅga-śarîra die dreizehn Organe samt den fünf tanmâtras verstehen. Vgl. Colebrooke, Misc. Ess.2 I. 258; Wilson, Sânkhya Kârikâ S. 129, 132-135; Ellwood Austin Welden, The Sāmkhya term liṅga, AJP, XXXI. 445 fg.

73

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 40, Aniruddha zu Sûtra VI. 69. Das Substantiv li im Śabdârthakalpataru ist erst aus dieser falschen Etymologie entstanden.

74

An den in der vorvorigen Anm. angegebenen Stellen.

75

Am Schluß seiner Ausführungen zu III. 11.

76

Vgl. hierüber noch Vijñ. zu Sûtra III. 7. Über die (in der Kârikâ noch nicht vorgetragene) Lehre, daß es im Anbeginn der Schöpfung nur einen inneren Körper gegeben habe und daß erst später eine Spaltung in Individuen eingetreten sei (Sûtra III. 10), sowie über die bei dieser Anschauung herrschenden Unklarheiten siehe oben S. 298 fg. – Eine selbstverständliche Folge der über den inneren Körper gebildeten Vorstellungen ist, daß dieser im Gegensatz zur allgegenwärtigen Seele als in seiner Ausdehnung beschränkt betrachtet wird (vgl. Sûtra III. 13, 14).

77

Vijñ. zu Sûtra VI. 69.

78

Vgl. dazu Sûtra III. 3, 8, 16 und Vijñânabhikṣus Einleitung; zu III. 11.

79

Vijñ. zu Sûtra III. 6.

80

Die Attribute und Qualitäten, die den einzelnen Bestandteilen des inneren Körpers eigen sind, werden begreiflicherweise auch sonst dem ganzen Liṅgaśarîra zugeschrieben. Was z.B. in Kârikâ 20 über den inneren Körper gesagt ist, daß er nämlich wegen der Verbindung mit der Seele scheinbar geistig sei, bezieht sich nur auf das Innenorgan und die Sinne.

81

Kârikâ 52.

82

Kârikâ 42 und Sâmkhya-tattva-kaumudî dazu.

83

Kârikâ 55.

84

S. die Indices zu meinen Textausgaben unter den beiden Worten.

85

S. besonders Sûtra II. 42.

86

Auch in Vedânta-Schriften ist, wiewohl selten, von den Samskâras die Rede; und in modifizierter Form hat die Theorie in den Buddhismus (s. die Einleitung zu meiner Übersetzung der Sâmkhya-tattva-kaumudî S. 530) sowie in die Vaiśeṣika-Nyâya-Philosophie (vgl. hauptsächlich Ballantyne, Lectures on the Nyâya Philosophy, embracing the text of the Tarkasangraha, Allahabad 1849, S. 54, 55 und Suali, Introduzione 223, 274) Eingang gefunden.

87

In seiner Schrift über die Yoga-Philosophie 36-44. Auch (nach dem Index) von Poul Tuxen in seinem dänischen Yoga.

88

S. besonders Anir. zu Sûtra II. 1.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 327-333.
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