III. Die Materie als einheitlicher Begriff.

[345] Nachdem wir alle Entfaltungen, Funktionen und Zustände der Materie in kosmologischer und physiologischer Hinsicht betrachtet haben, liegt es uns ob, die Materie als Ganzes, als Einheit ins Auge zu fassen, wie sie oft in den Sâmkhya-Texten – gewöhnlich im Gegensatz zu den Seelen – behandelt wird. Die nachfolgenden Zeilen finden deshalb am zweckmäßigsten hier ihren Platz, weil sie alles in den beiden vorangehenden Kapiteln Erörterte als bekannt voraussetzen und zugleich eine Einleitung zu dem letzten Abschnitt unserer Betrachtungen, der Psychologie des Sâmkhya-Systems, bieten.

Für den Begriff der Materie im allgemeinen werden dieselben Bezeichnungen gebraucht, wie für den der Urmaterie, den sie nach ihrer etymologischen Geltung ursprünglich zum Ausdruck brachten: prakṛti und pradhâna1. Nicht selten[346] sind mit diesen Worten spezielle Entwicklungsformen der Materie bezeichnet; am häufigsten die inneren Organe, wenn nämlich diejenigen Funktionen oder Zustände, die wir als diesen angehörend kennen gelernt haben, Attribute der Materie (prakṛti-dharma)2 genannt werden; oder der gesamte innere Leib, wenn es heißt, daß die Materie wandere, gebunden sei und erlöst werde3, und daß der Schmerz wesentlich mit der Materie verbunden sei4. Mit solchen Stellen in unseren Texten haben wir es hier nicht zu tun, sondern nur mit denen, die von der Materie als dem großen Ganzen der stofflichen Welt handeln.

Zwei charakteristische Qualitäten der als Einheit betrachteten Materie (prakṛter guṇa-viśeṣau) sind Raum (diś) und Zeit (kâla); beide gelten im metaphysischen Sinne als ewig und allgegenwärtig5. In der empirischen Welt indessen[347] erscheinen Baum und Zeit als begrenzt und erfordern in dieser Eigenschaft nach unserem System eine andere Erklärung. Hier sind offenbar zwei unabhängig voneinander entstandene Auffassungen kombiniert worden. »Soweit Zeit und Baum begrenzt sind, entstehen sie aus dem Äther infolge seiner Verbindung mit diesem oder jenem Upâdhi,« oder – was dasselbe ist – »sie sind nichts anderes als der durch die Upâdhis bestimmte Äther«. Im Falle des Raumes sind die Upâdhis die körperlichen Dinge, im Falle der Zeit die Bewegungen der Himmelsgestirne6. Merkwürdigerweise wird das schwierige Problem in der Sâmkhya-Literatur – wie überhaupt in der indischen Philosophie – nur ganz beiläufig und nebensächlich behandelt.

Das Verhältnis der gesamten Materie zu den Seelen wird oftmals als das des Besitzes und des Besitzers (sva-svâmi-bhâva oder sva-svâmi-sambandha) bezeichnet, was nach den Kommentaren dem Verhältnis von Genossenem und Genießer (bhogya-bhoktṛ-bhâva) gleichkommt, oder – wie wir sagen würden – dem von Objekt und Subjekt. Obwohl dieses Verhältnis anfangslos ist, kann es doch gelöst werden, und seine Lösung ist nichts anderes als die Erlösung der Seele7. Die Frage, wodurch dieser von Ewigkeit her bestehende Zusammenhang zwischen den Seelen und der Materie bedingt sei, ist von den Autoritäten des Sâmkhya-Systems verschieden beantwortet worden; die einen sagen: durch das Werk, d.h. durch die ebenso anfangslose Ansammlung von Verdienst und Schuld; der berühmte Pañcaśikha geht der Sache tiefer auf den Grund und erklärt, da ja auch das Werk eine bestimmte Ursache haben muß: durch die Nichtunterscheidung; und schließlich lehrt Sanandanâcârya, daß das zwischen Seelen und Materie obwaltende Verhältnis von[348] Genossenem und Genießer durch den inneren Körper veranlaßt sei, weil man nur durch Vermittlung des inneren Körpers genieße8. Diese letzte Auslegung ist ganz oberflächlich und belanglos; denn der innere Körper gehört ja in allen seinen Bestandteilen der Materie an. Pañcaśikhas Erklärung dürfen wir als die maßgebende Sâmkhya-Lehre über diesen Punkt betrachten, da auch sonst das Nichtwissen oder die Nichtunterscheidung als die letzte Ursache des Weltdaseins der Seelen genannt wird.

Das besprochene Verhältnis äußert sich in der Weise, daß die Materie im Interesse ihrer Besitzer oder Herren, d.h. der noch nicht zur Erlösung gelangten Seelen, in der schon mehrfach besprochenen Weise tätig ist9. Wenn eine Seele in den Besitz der erlösenden Erkenntnis gekommen ist, so erleidet dadurch das Verhältnis der Materie zu allen übrigen Seelen keine Änderung. »Gleichwie die Schlange [d.h. der irrtümlich für eine Schlange gehaltene Strick], wenn sie auch aufgehört hat mit Bezug auf den erkennenden zu wirken, doch nicht davon absteht denjenigen, dem die wahre Natur des Strickes noch nicht klar geworden ist, durch das Schaffen von Furcht usw. zu beeinflussen, geradeso steht auch die Materie, obschon sie aufgehört hat für die Seele, die im Besitz der Erkenntnis ist, zu wirken, doch nicht von der Beeinflussung der Nicht-erkennenden durch das Schaffen der Buddhi und der übrigen Dinge ab«10.

Nun entsteht ja aber die unterscheidende Erkenntnis nicht etwa in der Seele, sondern in der Buddhi. Die Materie, deren feinste Entwicklungsform die Buddhi ist, wird mithin ganz folgerichtig nicht nur als die Feßlerin, sondern auch als die Befreierin der Seele bezeichnet und dafür verantwortlich gemacht, daß die gebundenen Seelen noch nicht erlöst sind, daß »sie ihnen noch nicht zur Erreichung ihres Zieles verholfen hat«11. Wenn durch die erlösende Erkenntnis[349] der Zusammenhang zwischen einer Seele und der Materie aufgehoben wird, so ist dies ebensowohl im Interesse der Materie wie der Seele; denn der Schmerz gehört wie alle Gefühle dem materiellen Innenorgan an, und nur ein Reflex von ihm fällt in den Spiegel der Seele. So heißt es in Sûtra II. 1: »[das Wirken] der Materie dient zum Zwecke der Erlösung der [tatsächlich] freien [Seele] oder zum Zwecke der eigenen«; und Vijñânabhikṣu bemerkt hierzu: »Die Urmaterie schafft die Welt zu dem Zwecke, um die ihrem wahren Wesen nach von den Banden des Schmerzes freie Seele von dem Schmerz in der Form des Reflexes zu erlösen oder [kann man sagen]: von dem Schmerz, der durch die Verbindung des Reflektierens [mit der Seele in Zusammenhang getreten ist]; oder [die Urmaterie schafft] zum Zwecke der eigenen [Erlösung], d.h. zu dem Zwecke, um sich selbst von dem wirklichen Schmerz zu lösen.«

Die Wesensverschiedenheit der Materie von der Seele ist der Ausgangs- und Angelpunkt des Sâmkhya-Systems. Nur in einer Hinsicht sind diese beiden Dinge einander gleich, nämlich darin, daß sie weder einen Anfang noch ein Ende haben; aber diese Ewigkeit begreift schon den hauptsächlichsten Unterschied in sich, der zwischen Materie und Seele besteht: die erstere ist ewig der Veränderung unterworfen (pariṇâ mi-nitya), die letztere ewig unveränderlich (kûṭastha-nitya). Jeder Wechsel und Wandel in der Welt gehört einzig und allein der Materie und ihren Modifikationen an12.

Die weiteren Unterschiede der Materie von der Seele sind in Kârikâ 11 aufgezählt13. Die Materie besteht nach der Sâmkhya-Lehre 1. aus den drei Guṇas, Sattva, Rajas- und Tamas, und besitzt demnach die charakteristischen: Eigenschaften der Freude, des Schmerzes und der Apathie;[350] 2. wirkt sie nur in der Gemeinschaft (avivekin, sambhûya-kârin, samhatya-kârin). »Nichts ist allein [für sich] zu seinem Geschäft befähigt, sondern [nur] in der Gemeinschaft [mit etwas anderem]; aus einem allein kann nichts auf irgendeine Weise entstehen«14. Die Materie ist 3. Objekt (viṣaya) oder – wie es gewöhnlich in unseren Texten heißt – sie ist zum Zwecke des anderen (d.h. der Seele) da (parârtha). Sie ist in dieser Eigenschaft 4. vielen Seelen gemeinsam zugehörig, d.h. ein einziges Objekt kann von vielen Personen zugleich erfaßt werden. Sie ist 5. ungeistig und 6. produktiv. In allen diesen Hinsichten ist die Seele das Gegenteil von der Materie.

1

S. oben S. 271. – Vor etwa achtzig Jahren wurde zwischen Colonel Vans Kennedy und Sir Graves Haughton ein Streit über die Frage geführt, ob das Sanskrit überhaupt ein dem philosophischen Terminus ›matter‹ entsprechendes Wort besitze. Man vergleiche über diesen Streit den interessanten Dialog in Ballantynes Christianity contrasted with Hindū philosophy 114-138. Der größere Teil der von Haughton als Äquivalente für ›Materie‹ aufgezählten Worte ist allerdings auszuscheiden, nämlich vastu, vasu, śarîra, mûrti, tattva und padârtha. Die beiden Sâmkhya-Ausdrücke prakṛti und pradhâna aber, mit denen alles Nichtgeistige bezeichnet wird, entsprechen dem Begriff ›Materie‹ bei unseren Dualisten so genau als möglich; nur, weil man nach Colebrookes und Wilsons Vorgang die beiden Worte mit ›Natur‹ zu übersetzen pflegte, konnte dies bestritten werden. Wer noch jetzt an der Übersetzung ›Materie‹ auf Grund der in den Sâmkhya-Texten gegebenen Beschreibung (s. besonders Kârikâ 11) Anstoß nimmt, sollte nicht übersehen, in wie verschiedener Weise die europäischen Philosophen je nach ihrer Weltanschauung die Materie definiert haben.

Anders steht es mit dem Worte dravya, das von Haughton auch als Äquivalent für ›Materie‹ angeführt wurde; denn dravya ist gegenüber prakṛti und pradhâna das Allgemeinere, das sowohl die Seelen wie die materiellen Dinge in sich begreift und deshalb als ›Substanz‹ übersetzt werden muß. Auch in den Sâmkhya-Texten ist gelegentlich von dem âtma-dravya, der seelischen, geistigen, immateriellen Substanz die Rede.

2

Z.B. bei Vijñ. zu Sûtra II. 9.

3

Kârikâ 62.

4

Vijñ. zu Sûtra I. 144, Mahâdeva zu II. 7.

5

Die Sâmkhya-Lehre steht also in dieser Frage auf einem höheren philosophischen Standpunkte als der Vedânta, der den Raum aus dem Âtman entstanden sein läßt (s. Deussen, System 250-254), und als die Vaiśeṣika-Nyâya-Philosophie, die Zeit und Raum für (allerdings ewige) Substanzen (dravya) erklärt. Auch bei den Jainas wird die Zeit, wenigstens teilweise, für eine Substanz gehalten; s. Umâsvâtis Tattvâr-thâdhigama Sûtra V. 38 bei Jacobi, ZDMG. 60, 517. Bei der Beurteilung der Vaiśeṣika-Nyâya-Anschauung darf man freilich nicht übersehen, worauf Max Müller, ZDMG. 6, 24 hinweist, daß dravya in diesen beiden Systemen »nichts weiter bedeutet als was Eigenschaft oder Bewegung besitzt und der innige, unmittelbare Grund der Erscheinung ist«. Jedenfalls aber leugnen die beiden Systeme, daß Zeit und Raum Qualitäten seien.

6

Sûtra II. 12 nebst den Kommentaren; vgl. auch den Schluß der Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 33.

7

Sûtra VI. 70.

8

Sûtra VI. 67-69.

9

S. oben S. 224 fg., 287 fg.

10

Vijñ. zu Sûtra III. 66.

11

Vijñ. zu Sûtra III. 64.

12

S.z.B. Vijñ. zu Sûtra I. 76, Einleitung zu III. 75.

13

Vgl. u.a. auch noch Vijñ. Einl. zu I. 82.

14

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 11.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 345-351.
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