1. Das Verhältnis der Seele zu den Organen und zum Leibe.

[367] Die an sich seiende Seele wird zur empirischen (jîva) durch die Verbindung mit den Upâdhis, d.h. mit dem Innenorgan, den Sinnen und dem Körper, durch die hierauf beruhende Verbindung mit den Fähigkeiten des Empfindens und Handelns, und durch die ebenfalls auf den Beziehungen zum Innenorgan beruhende Verbindung mit dem Atem, die das den Körper bildende und das animalische Leben hervorbringende Prinzip ist1. Dieser Zusammenhang einer jeden Seele mit ihren Upâdhis besteht in der Form einer anfangslosen Kontinuität2, die nur in den Perioden der Weltauflösung unterbrochen wird und bis zur Erreichung der unterscheidenden Erkenntnis währt. Vermöge dieses Zusammenhangs ist die Seele Herr (svâmin) und Leiter (adhiṣṭhâtṛ) ihrer Upâdhis. Aber sie übt keinen aktiven Einfluß auf die Organe aus und weist ihnen nicht an, was sie zu tun haben; denn sie ist, wie wir gesehen haben, willenlos und ihrem Wesen nach ewig unveränderlich. Die Organe andererseits arbeiten für die Seele, ohne zu wissen, was sie tun, und folgen dabei nur den blinden Trieben der Materie. Es ist mit hin ganz folgerichtig, wenn das Innenorgan wegen des[367] ihm angehörenden Willens als der eigentliche, wirkliche (anupacarita, mukhya) Leiter bezeichnet wird3.

Was also ist die Herrschaft und Leitung der Seele? Darauf erhalten wir die Antwort: Die Tatsache, daß die Seele durch ihr bloßes Dasein die Ursache einer Veränderung in den Organen ist auf Grund einer besonderen Verbindung (samyoga-viśeṣa)4. Diese ›besondere Verbindung‹ ist nun nicht etwa eine innige Vereinigung, ein Verschmelzen der Seele mit ihren Organen, sondern besteht lediglich darin, daß die Seele, die ihrer Natur nach Licht ist, die inneren Organe erleuchtet oder durchglüht. Wie die Sonne, wenn sie die Erde bescheint, oder das Feuer, wenn es das Eisen durchglüht, oder die rote Hibiscus-Blüte, wenn sie durch den Kristall hindurchschimmert, keine Veränderung erleidet, ebensowenig wird die Seele durch den Einfluß, den sie auf die Organe ausübt, selbst irgendwie alteriert5. Wenn demnach die vielbesprochene ›Verbindung‹ einzig und allein darin beruht, daß die Seele, ohne im geringsten aus ihrer Indifferenz herauszutreten, durch das von ihr ausstrahlende Licht den ganzen Organismus mit bewußtem Leben erfüllt – es wird darüber des näheren unten im Kapitel 3 zu handeln sein –, so ergibt sich, daß eine wirkliche Verbindung der Seele mit den Organen und dem Leibe gar nicht existiert, und daß nur derjenige von einer solchen Verbindung sprechen kann, der noch nicht zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt ist. Das ist in Sûtra I. 55 mit den Worten ausgedrückt: »Die Verbindung [der Seele] mit jener [d.h. der Materie] beruht auf der Nichtunterscheidung.« In Wahrheit also gibt es gar keine empirische Seele; und wenn in den Texten von einer empirischen Seele die Rede ist und dieser Attribute zugeschrieben werden, die dem Wesen der an sich seienden Seele widerstreiten – wie z.B. Begrenztheit6 oder[368] Gebundensein und Erlösung, Unterscheidung und Nichtunterscheidung –, so »ist das nur ein Ausdruck, aber keine Realität, da diese im Denkorgan ruhen«7. Das bedeutet, daß unter der ›empirischen Seele‹ einfach der von der Seele durchleuchtete Komplex von Upâdhis zu verstehen ist, oder – was, wie wir sehen werden, auf dasselbe hinauskommt – die Seele mit dem Spiegelbild des Innenorgans. Die Seele selbst aber ist immerdar unabhängig von ihren Upâdhis und deren Affektionen; und das Eintreten aus dem Zustand des Gebundenseins in den der Erlösung ist nichts anderes als die Erreichung der Erkenntnis, daß die Seele in Wirklichkeit niemals gebunden war und gebunden sein kann.

Dieser ganze Vorstellungskreis ist den entsprechenden Anschauungen des Vedânta-Systems so nahe verwandt, daß man sich kaum der Annahme einer gegenseitigen Beeinflussung verschließen kann. Ganz offenbar ist der vedântistische Einfluß auf die jüngeren Sâmkhya-Texte da, wo der Unterschied der an sich seienden und empirischen Seele durch die Bezeichnung ›das höhere (oder höchste, para, parama) und niedere (apara) Selbst‹ ausgedrückt wird8. Hier liegt die Entlehnung aus der Terminologie des Vedânta (para und apara brahman) auf der Hand.

1

Sûtra I. 97, V. 113-115, VI. 63; vgl. auch oben S. 319.

2

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 21, Vijñ. zu Sûtra I. 19.

3

Sûtra I. 99 nebst den Kommentaren.

4

S. besonders Mahâdeva zu Sûtra I. 142, V. 114.

5

Sûtra I. 99, 145, 146, VI. 50 nebst den Kommentaren.

6

Vijñ. zu Sûtra VI. 63.

7

Sûtra I. 58; vgl. auch I. 7.

8

Anir. zu Sûtra II. 1, Vijñ. zu VI. 63; s. auch schon Mbh. XII. 6921.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 367-369.
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