2. Das Verhältnis der Seele zum Handeln.

[369] Aus dem eben Gesagten geht auch hervor, daß diejenigen Stellen, die von dem Handeln der Seele oder von ihren Werken sprechen, nicht wörtlich zu verstehen sind9; denn die Seele ist immerdar unfähig zu jeglicher Tätigkeit10 und hat nicht die Macht, einen Grashalm zu krümmen (tṛṇasya kubjî-karaṇe 'py anîśvaraḥ)11. »Der Seele wird die[369] Tätigkeit auf Grund ihres Herrseins [nur] in uneigentlichem Sinne zugeschrieben, wie z.B. Sieg und Niederlage, die doch den Soldaten angehören, uneigentlich dem König zugeschrieben werden, weil dieser die Folgen des [Sieges oder der Niederlage], die Freude oder den Schmerz, empfindet und Herr über jene [Soldaten] ist«, sagt Vijñânabhikṣu zu Sûtra I. 7612. Das in Wirklichkeit handelnde Prinzip ist das zweite der inneren Organe, der Ahamkâra, wie wir schon oben S. 312 fg. erkannten. Wie kommt es dann aber, daß uns, bevor wir nicht den wahren Sachverhalt begriffen haben, die Seele als handelnd erscheint? Weil – antwortet Kârikâ 2013, in welcher Strophe die Quintessenz der Sâmkhya-Lehre beschlossen liegt, – »infolge der Verbindung mit der [Seele] der ungeistige innere Körper scheinbar geistig, und ebenso die am Handeln unbeteiligte [Seele] scheinbar handelnd wird.« Oder spezieller: weil der ungeistige Ahamkâra nur infolge des belebenden Lichtes wirkt, das die Seele auf ihn wirft, und weil es eine Funktion des Ahamkâra ist, den Wahn zu erzeugen, daß unser Ich, unsere Seele das handelnde und leidende Subjekt sei.

Wiewohl nun aber die Seele keinen Teil an dem Handeln hat und die Werke ihr nur durch die Nichtunterscheidung aufgebürdet werden, so genügt dieses Verhältnis für unser System doch zur Erklärung der Tatsache, daß nur ein bestimmtes Innenorgan Werkzeug für eine bestimmte Seele ist, und daß die Seele Maitras nicht genießen kann, was das Innenorgan Caitras zubereitet. Die Werke, die auf die eben beschriebene Art zu der Seele in Beziehung gesetzt werden, gelten als ihr Eigentum, durch das sie ein spezielles, nur für sie wirkendes Innenorgan ›erwirbt‹ (arj), »gleichwie im täglichen Leben, wenn von einem Manne durch das Werk etwa des Kaufens z.B. eine Axt erworben ist, die Tätigkeit dieser [Axt], das Spalten u. dgl., nur für diesen bestimmten Mann stattfindet ... Wenn [man uns darauf fragt]: ›Was[370] ist denn aber der bestimmende Faktor dafür, daß ein Werk zu einer [speziellen] Seele in Beziehung tritt?‹, so antworten wir: ein anderes [früheres] Werk von derselben Art. Wegen der Anfangslosigkeit [der Werke] aber bedeutet [in diesem Falle] der regressus in infinitum keinen Fehler«14.

Die Werke sind also zwar ein sich ewig durch sich selbst erneuerndes Eigentum der Seele, aber dieser Besitz wird ihr ohne eigenes Zutun zuteil. Wie die Seele deshalb keine Verantwortung für die Werke trägt, so ist sie auch über Lohn und Strafe erhaben15.

9

Sûtra I. 97 (Anir.), II. 8.

10

Kârikâ 19.

11

Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 43.

12

S. auch seinen Kommentar zu II. 5, 46.

13

Vgl. auch Sûtra I. 164.

14

Sûtra II. 46 und Vijñ.s Kommentar.

15

Vgl. oben S. 330.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 369-371.
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