III. Bd., XXII. Thls.

95. Suttaṃ.

»La vida es sueño«

[935] Life 's but a walking shadow.

Macbeth V., 5.


Zu einer Zeit weilte der Erhabene zu Ayojjhā15, am Ufer des Ganges. Da nun wandte sich der Erhabene an die Mönche:

»Gleichwie, ihr Jünger, wenn ein scharfsehender Mann die vielen Schaumblasen, welche dieser Ganges-Strom heranschwemmt, wahrnähme, betrachtete, gründlich untersuchte, und ihm, nach seiner gründlichen Untersuchung, dieselben als durchaus leer, nichtig, wesenlos erschienen – denn wie könnte, ihr Jünger, in der Schaumblase ein bleibender Kern vorhanden sein?! –:

ebenso auch, ihr Jünger, nimmt ein Mönch jede Gestalt der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, die fernen und die nahen, wahr, betrachtet sie, untersucht sie gründlich, und alle Gestalten erscheinen ihm, nach seiner gründlichen Untersuchung, als durchaus leer, nichtig, wesenlos; wie könnte auch, ihr Jünger, in der Gestalt ein bleibender Kern vorhanden sein?!

Gleichwie, ihr Jünger, wenn ein scharfsehender Mann im Herbste, zur Zeit der gewaltigen Gewitter, während die Wolken Regengüsse herabströmen, im Wasser den Gischt wahrnähme, wie er aufspritzt und wieder niederfällt, ihn betrachtete, gründlich untersuchte, und ihm, nach seiner gründlichen Untersuchung, derselbe als durchaus leer, nichtig, wesenlos erschiene – wie könnte auch, ihr Jünger, im Wassergischte ein bleibender Kern vorhanden sein?! –:

ebenso auch, ihr Jünger, nimmt ein Mönch jedes Gefühl der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, das ferne und das nahe, wahr, betrachtet, untersucht es gründlich, und alle Gefühle erscheinen ihm, nach seiner gründlichen Untersuchung, als durchaus leer, nichtig, wesenlos; wie könnte auch, ihr Jünger, im Gefühle ein bleibender Kern vorhanden sein?!

[936] Gleichwie, ihr Jünger, wenn ein scharfsehender Mann im letzten Monate des Sommers, zur Mittagszeit, eine Luftspiegelung wahrnähme, betrachtete, gründlich untersuchte, und ihm, nach seiner gründlichen Untersuchung, dieselbe als durchaus leer, nichtig, wesenlos erschiene – wie könnte auch, ihr Jünger, in der Luftspiegelung ein bleibender Kern vorhanden sein?! –:

ebenso auch, ihr Jünger, fasst ein Mönch jede Wahrnehmung der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, die fernen und die nahen, auf, betrachtet, untersucht sie gründlich, und alle Wahrnehmungen erscheinen ihm, nach seiner gründlichen Untersuchung, als durchaus leer, nichtig, wesenlos; wie könnte auch, ihr Jünger, in der Wahrnehmung ein bleibender Kern vorhanden sein?!

Gleichwie, ihr Jünger, wenn ein Mann, das Kernholz eines Baumes begehrend, suchend, darnach ausgehend, mit einem scharfen Beile versehn sich in den Wald begäbe; dort erblickte er eine grosse Menge gerader, junger, schöngewachsener Kadali-Bäume16; einen derselben fällte er an der Wurzel, schnitte die Krone ab und rollte hierauf den aus Blattscheiden gebildeten Stamm auf; nachdem er nun die Blattscheiden auseinander gerollt hätte, fände er in dieser nichtigen Hülle nirgendwo Kernholz. Diese Blattscheiden nähme ein scharfsehender Mann wahr, betrachtete, untersuchte sie gründlich: da erschienen ihm dieselben, nach gründlicher Untersuchung, als durchaus leer, hohl, kernlos; – wie könnte auch, ihr Jünger, im Blattscheiden-Stamme der Kadali-Bäume Kernholz enthalten sein?! –:

ebenso auch, ihr Jünger, nimmt ein Mönch jede Unterscheidung der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, die fernen und die nahen, wahr, betrachtet sie, untersucht sie gründlich, und alle Unterscheidungen erscheinen ihm, nach seiner gründlichen Untersuchung, als durchaus leer, nichtig, wesenlos; wie könnte auch, ihr Jünger, in den Unterscheidungen ein bleibender Kern vorhanden sein?!

Gleichwie, ihr Jünger, wenn ein scharfsehender Mann einen Taschenspieler oder Taschenspielergesellen, der in einer belebten Strasse seine trügende Kunst producirt, wahrnähme, betrachtete, ihn gründlich beobachtete, und ihm dieselbe, nach seiner gründlichen Untersuchung, als durchaus leer, nichtig, wesenlos erschiene – wie könnte auch, ihr Jünger, in einem Blendwerke ein bleibender Kern vorhanden sein?! –:

ebenso auch, ihr Jünger, nimmt ein Mönch jedes Bewusstsein der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, das ferne und das nahe, wahr, betrachtet es, untersucht es gründlich, und alles Bewusstsein erscheint ihm, nach gründlicher Untersuchung, als durchaus leer, nichtig, wesenlos; wie könnte auch, ihr Jünger, im Bewusstsein ein bleibender Kern vorhanden sein?!

Dies erkennend, ihr Mönche, ist der verstehende heilige Jünger der Körperlichkeit [937] satt und überdrüssig, er ist des Gefühls, der Wahrnehmung, der Unterscheidungen und des Bewusstseins satt und überdrüssig; satt empfindet er Ekel gegen alles Sein; durch seinen heiligen Wandel erlöst er sich; ›In dem Erlösten ist die Erlösung‹: diese Erkenntniss geht auf – ›Vernichtet ist die Geburt, vollendet das Asketenleben, gethan was zu thun war, nicht mehr ist ferner diese Welt‹: so erkennt er.«


Dies sprach der Erhabene; nachdem der Vollkommene Dies gesagt hatte, sprach nun fernerhin also der Meister:


»Der Schaumblase gleicht die Gestalt, dem Wassergischte das Gefühl,

Dem Luftgebild die Wahrnehmung, der Unterschied dem Kadali,

Und das Bewusstsein gleicht dem Spiel des Gauklers und des Zauberers.


Wenn man es ernst und recht besieht, wenn man es tief und klar erkennt,

Dann zeigt die ganze Nichtigkeit sich Dem, der bis zum Grunde schaut.«


Das Wesen dieses Körpers hat der Meister uns geoffenbart:

»Betrachtet wohl den todten Leib, wann alle Kraft aus ihm entfloh,


Wann er als Leichnam, kalt und starr, ohne Gefühl und unbewusst,

Am Leichenfeld verlassen liegt, ein Gastmahl nun für Andere.


Das ist seine Entwickelung, Trug ist, was er in Thorheit wähnt,

Zerstörung ist sein Element, nicht ist in ihm ein fester Kern.


Also betracht' dies Wechselsein ein Mönch, der Siegesmuth besitzt,

Ohn' Unterlass, bei Tag und Nacht, mit klarem Geist und festem Sinn.


Ein jedes Band durchschneide er, Zuflucht such' er nur in sich selbst.

So wandle er, als ob sein Haupt von Flammengluth umgeben wär',

Erstrebend nur ein einzig Ziel: das Reich der Unvergänglichkeit.«

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 3, Zürich/Wien 1957, S. 935-938.
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