II. Bd., XV. Thls.

1.-3. Suttas.

Das Unendliche

[923] So habe ich gehört: Zu einer Zeit weilte der Erhabene zu Sāvatthī, im Jeta-Waldhaine des Anāthapiṇḍiko. Da nun wandte sich der Erhabene an die Mönche: »Ihr Jünger!« – »Herr!« erwiderten jene Mönche, dem Erhabenen aufmerksam zuhörend. Der Erhabene sprach also:

»Ohne Anfang und Ende, ihr Jünger, ist dieser Saṃsāro (Welt), unerkennbar ist der Beginn der vom Nichtwissen umhüllten Wesen, der durch den Durst nach Dasein (taṇhā) immer und immer wieder zu erneuter Geburt geführten, der den endlosen Kreislauf der Wiedergeburten durcheilenden.

Gleichwie, ihr Jünger, wenn ein Mann die Gräser und Kräuter, Zweige und Blätter dieses ganzen indischen Kontinents abschnitte, einsammelte und eine Handvoll nach der anderen aufhäufte, sagend: ›Dies ist meine Mutter, Dies ist die Mutter meiner Mutter‹ u.s.w. – da wäre kein Ende der Mütter der Mutter dieses Mannes, ihr Jünger, abzusehn, wohl aber erreichte er den letzten Rest, das Ende aller Gräser und Kräuter, Zweige und Blätter dieses indischen Kontinents; was ist die Ursach hiervon? – Ohne Anfang und Ende, ihr Jünger, ist dieser Saṃsāro, unerkennbar ist der Beginn der vom Nichtwissen umhüllten Wesen, der durch den Durst nach Dasein immer und immer wieder zu erneuter Geburt geführten, der den endlosen Kreislauf der Wiedergeburten durcheilenden:

und so habt ihr, o Jünger, durch lange Zeit Leid erfahren, Quaal erfahren, Unglück erfahren und das Leichenfeld vergrössert – lange genug, wahrlich, ihr Jünger, um von jeder Existenz unbefriedigt zu sein, lange genug, um sich von allem Sein abzuwenden, lange genug, um sich von ihm zu erlösen.


Gleichwie, ihr Jünger, wenn ein Mann diese große Erde handvollweise zu einem Erdenball aufhäufen würde, sagend: ›Dies ist mein Vater, Dies ist der Vater meines Vaters‹ u.s.w. – da wäre kein Ende der Väter des Vaters dieses Mannes, ihr Jünger, abzusehn, aber diese grosse Erde würde aufgebraucht, würde zu Ende gehn; was ist [923] die Ursach hiervon? – Ohne Anfang und Ende, ihr Jünger, ist dieser Saṃsāro, unerkennbar ist der Beginn der vom Nichtwissen umhüllten Wesen, der durch den Durst nach Dasein immer und immer wieder zu erneuter Geburt geführten, der den endlosen Kreislauf der Wiedergeburten durcheilenden:

und so habt ihr, o Jünger, durch lange Zeit Leid er fahren, Quaal erfahren, Unglück erfahren und das Leichenfeld vergrössert – lange genug, wahrlich, ihr Jünger, um von jeder Existenz unbefriedigt zu sein, lange genug, um sich von allem Sein abzuwenden, lange genug, um sich von ihm zu erlösen.


Was denkt ihr, o Jünger: was ist wohl mehr, die Thränenfluth, die ihr auf diesem langen Wege, immer wieder zu neuer Geburt und neuem Tode eilend, mit Unerwünschtem vereint, von Erwünschtem getrennt, klagend und weinend vergossen habt – oder das Wasser der vier grossen Meere?«

»So wie, o Herr, wir die von dem Erhabenen gezeigte Lehre verstehn, sind, o Herr, von uns auf diesem langen Wege, während wir immer wieder zu neuer Geburt und neuem Tode eilten, mit Unerwünschtem vereint, von Erwünschtem getrennt, klagend und weinend wahrlich mehr Thränen vergossen worden, als Wasser in den vier grossen Meeren enthalten ist.«

»Gut, gut, ihr Jünger, gut, wahrlich, dass ihr Jünger die von mir gezeigte Lehre also verstehet: mehr Thränen, freilich, ihr Jünger, habt ihr auf diesem langen Wege, immer wieder zu neuer Geburt und neuem Tode eilend, mit Unerwünschtem vereint, von Erwünschtem getrennt, klagend und weinend vergossen, als Wasser in den vier grossen Meeren enthalten ist.

Lange Zeit hindurch habt ihr, o Jünger, den Tod der Mutter erfahren,

lange Zeit hindurch den Tod des Vaters,

lange Zeit hindurch den Tod des Sohnes,

lange Zeit hindurch den Tod der Tochter,

lange Zeit hindurch den Tod der Geschwister,

lange Zeit hindurch habt ihr den Verlust euerer Habe erlitten,

lange Zeit hindurch wart ihr von Krankheit bedrückt: und während euch der Tod der Mutter, der Tod des Vaters, der Tod des Sohnes, der Tod der Tochter, der Tod der Geschwister, der Verlust des Vermögens, die Quaal der Krankheit zutheil wurde, während ihr mit Unerwünschtem vereint, von Erwünschtem getrennt wart, da vergosset ihr, von Geburt zu Tod, von Tod zu Geburt eilend, auf diesem langen Wege wahrlich mehr Thränen, als Wasser in den vier grossen Meeren enthalten ist.

Wie aber ist Das möglich? – Ohne Anfang und Ende, ihr Jünger, ist dieser Saṃsāro, unerkennbar ist der Beginn der vom Nichtwissen umhüllten Wesen, der durch den Durst nach Dasein immer und immer wieder zu erneuter Geburt geführten, der den endlosen Kreislauf der Wiedergeburten durcheilenden: [924] und so habt ihr, o Jünger, durch lange Zeit Leid erfahren, Quaal erfahren, Unglück erfahren und das Leichenfeld vergrössert – lange genug, wahrlich, ihr Jünger, um von jeder Existenz unbefriedigt zu sein, lange genug, um sich von allem Sein abzuwenden, lange genug, um sich von ihm zu erlösen.«

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 3, Zürich/Wien 1957, S. 923-925.
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