II. Gehirn und Ganglien als Bedingung des thierischen Bewusstseins

[16] Fast alle Naturforscher, Physiologen und Aerzte sind Materialisten, und je mehr die Kenntniss und Denkweise der Naturwissenschaften und Physiologie sich unter das gebildete Publicum ausbreitet, desto mehr greift die materialistische Weltanschauung um sich. Woran liegt das? An der Einfachheit und schlagenden Evidenz der Thatsachen, auf die sich die materialistische Auffassung der Thier- und Menschenseele, des einzigen uns bekannten Geistes, stützt. Nur wer diese Thatsachen nicht kennt, wie die unwissenschaftliche Menge, oder die Gelehrtenwelt ohne naturwissenschaftliche und physiologische Kenntnisse, oder wer mit den vorgefassten Meinungen religiöser oder philosophischer Systeme an diese Thatsachen herantritt, nur der kann sich ihrem Einflusse entziehen; jeden unbefangenen denkenden Menschen aber müssen sie schlechterdings überzeugen, weil sie eben nur genommen zu werden brauchen, wie sie sind; sie sprechen ihre Bedeutung mit so naiver Klarheit von selber aus, dass man gar nicht nöthig hat, dieselbe zu suchen. Und diese naive Klarheit und Unmittelbarkeit des Resultates, diese drastische Evidenz desselben, die sich nur mit Gewalt verläugnen lässt, dies ist es, was der materialistischen Auffassung des Geistes ein so grosses Uebergewicht über die schwierigen und spitzfindigen Deductionen und Wahrscheinlichkeitsbeweise, über die willkürlichen Annahmen und oft schiefen Consequenzen der spiritualistischen Psychologie sichert, was alle klaren, den mystisch-philosophischen Speculationen abgeneigten Köpfe zur Fahne des Materialismus schwören lässt, der einfach ist wie die Natur, die ihn lehrt, und klar und zutreffend in allen seinen richtigen Consequenzen, wie diese seine hehre Mutter. Dass der Materialismus dabei die religiösen Systeme[16] vor den Kopf stösst, kann ihm in unserer Zeit nur um so mehr Anhänger gewinnen, dass er aber mit der speculativen Philosophie in Widerspruch geräth, daraus macht er sich erst gar nichts; denn wie wenig Menschen haben ein speculatives Bedürfniss, wie viel weniger noch philosophische Bildung? Darum hat der Materialismus weder das Bedürfniss, noch die Fähigkeit, die unverstandenen Abstractionen, wie Kraft, Stoff u.s.w., aus denen sein Gebäude besteht, zu untersuchen, und den höheren Fragen der Philosophie gegenüber verhält er sich theils skeptisch, indem er läugnet, dass ihre Lösung diesseits der Grenzen des menschlichen Verstandes liege, theils läugnet er die Berechtigung dieser Fragen überhaupt. So weiss er sich nach allen Richtungen hin in seiner Haut am wohlsten zu fühlen, und ist mit den täglich fortschreitenden Entdeckungen der Naturwissenschaften völlig befriedigt, in dem guten Glauben, dass Alles, was der Mensch erfahren kann, im Verfolge der speciellen Wissenschaften liegen müsse. Es ist mithin kein Wunder, dass der Materialismus Terrain gewinnt, während die Philosophie Terrain verliert, denn nur eine Philosophie, welche allen Resultaten der Naturwissenschaften volle Rechnung trägt, und den an sich berechtigten Ausgangspunct des Materialismus ohne Einschränkung in sich aufnimmt, nur eine solche Philosophie kann hoffen, dem Materialismus Stand zu halten, wenn sie zugleich die Bedingung erfüllt, gemeinverständlich zu sein, was die Identitätsphilosophie und der absolute Idealismus eben leider nicht ist.

Den ersten Versuch, den Materialismus in die Philosophie auf verständliche Weise aufzunehmen, machte Schopenhauer, und es liegt in diesem Versuche nicht der geringste Theil sowohl seines Verdienstes, als seiner seit einiger Zeit beginnenden Popularität. Aber sein Compromiss war ein halber, es liess dem Materialismus den Intellect, und reservirte der Speculation den Willen. Diese gewaltsame Zerreissung ist sein schwacher Punct, denn wenn dem Materialismus einmal das bewusste Vorstellen und Denken eingeräumt ist, so hat er volles Recht, auch das bewusste Fühlen und damit das bewusste Begehren und Wollen in Anspruch zu nehmen, da die physiologischen Erscheinungen für alle bewusste Geistesthätigkeiten das Gleiche aussagen. Es ist völlig inconsequent von Schopenhauer, den Gedächtnissschatz des Geistes sammt den intellectuellen Anlagen, Talenten und Fertigkeiten des Individuums auf die Constitution des Hirn zurückzuführen, und den Charakter des Individuums, der sich eben so leicht, wo nicht noch leichter dieser Erklärung unterwirft,[17] von derselben auszuschliessen und zu einer individuellen metaphysischen Essenz zu hypostasiren, welche seinem monistischen Grundprincip in's Gesicht schlägt.

In der That giebt es kein Mittel, als Ignoriren oder spitzfindiges Wegdeuteln, um den ersten Fundamentalsatz des Materialismus umzustossen: »alle bewusste Geistesthätigkeit kann nur durch normale Function des Gehirns zu Stande kommen«. So lange man nun aber keine andere als bewusste Geistesthätigkeit kennt oder kennen will, so sagt dieser Satz: »alle Geistesthätigkeit kann nur durch Function des Gehirns zu Stande kommen«; der Schluss liegt auf der Hand: »entweder ist alle Geistesthätigkeit blosse Function des Gehirnes, oder ein Product von Hirnfunction und einem anderen, welches für sich zu keiner Aeusserung kommen kann, sondern rein potentiell ist, und erst in und an der normalen Hirnfunction zur Aeusserung gelangt, welche sich nunmehr als Geistesthätigkeit darstellt.« Man sieht, dass die Entscheidung dieser Alternative auf Beseitigung jenes Anderen als eines nutzlosen, nichtssagenden Ballastes, kaum zu umgehen ist. Ganz anders stellt sich die Sache, sobald man die unbewusste Geistesthätigkeit bereits als ursprüngliche und erste Form derselben kennt, ohne deren Beihülfe die bewusste Geistesthätigkeit auf Schritt und Tritt gelähmt sein würde. Dann sagt der Satz nur: »die bewusste Geistesthätigkeit kann nur durch die Function des Gehirns zu Stande kommen«, über die unbewusste Geistesthätigkeit dagegen sagt er gar nichts aus, sie bleibt also, da alle Erscheinungen ihre Unabhängigkeit von den Hirnfunctionen beweisen, als etwas Selbstständiges bestehen, und nur die Form des Bewusstseins erscheint durch die Materie bedingt.

Wir gehen nun zu einer kurzen Darstellung der Thatsachen über, deren theoretischer Ausdruck jener Satz ist.

1) Das Gehirn ist in formeller und materieller Beziehung das höchste Product organischer Bildungsthätigkeit.

»Wir finden im Gehirne Berge und Thäler, Brücken und Wasserleitungen, Balken und Gewölbe, Zwingen und Hacken, Klauen und Ammonshörner, Bäume und Garben, Harten und Klangstäbe u.s.w. u.s.w. Niemand hat den Sinn dieser sonderbaren Gestalten erkannt.« (Huschke in »Schädel, Hirn und Seele des Menschen«.)

Es giebt kein thierisches Organ, das zartere, wunderbarere mannigfaltigere Formen, feinere und eigenthümlichere Structur hätte. Die Ganglienzellen des Gehirnes lassen theils Primitivfasern aus sich entspringen, theils sind sie durch solche mit einander verbunden,[18] theils von ihnen umgeben; diese Primitivfasern, hoble, mit einem öligen, gerinnbaren Inhalte versehene, etwa 1/1000 Linie starke Röhren, gehen mit einander wieder die eigenthümlichsten Verschlingungen und Durchkreuzungen ein. Leider ist die so schwierige Anatomie des Gehirnes noch ebenso weit zurück, wie seine chemische Untersuchung, aber auch aus letzterer wissen wir schon soviel, dass die chemische Zusammensetzung des Gehirnes keineswegs so einfach ist, als man früher wohl glaubte, dass sie namentlich an verschiedenen Stellen verschieden ist, dass in ihr die eigenthümlichen Gehirnfette mit ihrem Phosphorgehalte eine grosse Rolle spielen, und sich noch andere Stoffe daselbst finden, welche in keinem anderen Gebilde in derselben Weise wiederkehren, z.B. Cerebrin und Lecithin. Wie weit übrigens unsere Chemie für solche Untersuchungen noch zurück ist, das entnehme man aus dem Beispiele, dass sie Blut oder Eiter, welches mit einem Ansteckungsstoffe inficirt ist, nicht von gesundem zu unterscheiden vermag, dass die Unterschiede zwischen isomeren Stoffen (von gleicher Zusammensetzung, aber von ungleichen Eigenschaften in Folge verschiedener Atomlagerung, wie die verschiedene Lichtbrechung und Drehung sie zeigt) ihr bei der Analyse häufig verschwinden, sowie dass sie erst jetzt anfängt, eine Menge fein vertheilter Metalle durch Spectralanalyse zu entdecken, von denen Minimalquantitäten in organischen Stoffen von grösster Wichtigkeit sein können. Alle diese Sachen gewinnen um so mehr an Bedeutung, mit je höheren organischen Gebilden man zu thun hat.

2) Im Gehirne ist der Stoffwechsel schneller, als in jedem anderen Theile des Leibes, weshalb auch die Blutzufuhr unverhältnissmässig viel stärker. Dies deutet auf eine Concentration lebendiger Thätigkeit im Gehirne, wie sie in keinem anderen Theile des Körpers stattfindet.

3) Das Gehirn (worunter in diesem Abschnitte immer nur das grosse Gehirn verstanden ist) hat für die organischen Functionen des körperlichen Lebens keine unmittelbare Bedeutung. Dies beweisen die Versuche Flourens, der nachwies, dass Thiere, denen das Gehirn herausgenommen ist, Monate und Jahre lang leben und gedeihen können. Es gehört dazu freilich, dass die Operation selbst und der dabei stattfindende Blutverlust nicht zu heftig sei und die Kräfte des Thieres zu sehr herunterbringt, daher der Versuch nur bei solchen Thieren völlig gelingen kann, wo das Hirn ohne zu grosse Schwierigkeiten entfernt werden kann, z.B. bei Hühnern. Aus diesen drei ersten Puncten lässt sich schon schliessen, dass das[19] Hirn, die Blüthe des Organismus und der Herd der lebendigsten Thätigkeit, eine geistige Bestimmung haben müsse, da es keine leibliche hat.

4) Mit steigender Vollkommenheit des Gehirnes oder der es vertretenden Ganglienknoten steigt die geistige Befähigung im Thierreiche, während die leiblichen Functionen von allen Thieren, ob klug oder dumm, durchschnittlich gleich gut vollzogen werden. Schon bei den Insecten tritt es auffallend hervor, dass die Grösse der Kopfganglien im Verhältniss steht zu der Intelligenz der Ordnungen und Arten. Die Hymenopteren haben im Allgemeinen grössere Ganglien als die dummen Käfer, und besonders gross sind sie bei den klugen Ameisen. Bei den Wirbelthieren darf man nicht den inneren Schädelraum dem Vergleich zu Grunde legen, da dieser die Centralorgane der Bewegung mit umfasst, welche natürlich der Nerven- und Muskelmasse des Thieres an Grösse entsprechen muss, um die nöthige Energie auf seine Bewegungsimpulse verwenden zu können. Betrachtet man nun bloss das eigentliche Grosshirn, so stellt sich in Thieren von nicht zu verschiedener Körpergrösse eine deutliche Parallelität zwischen Hirnquantität und Intelligenz heraus; insoweit aber diese Parallelität bei Thieren von sehr verschiedener Körpergrösse (z.B. ganz kleine und ganz grosse Hunde, Canarienvogel und Strauss) gestört erscheint, ist eine Compensation durch die Qualität des Grosshirns, namentlich durch reichliche und tiefe Windungen und Furchungen, deutlich erkennbar.

5) Die geistigen Anlagen und Leistungsfähigkeit des Menschen stehen im Verhältnisse zur Quantität des Gehirnes, insoweit nicht die Qualität desselben Abweichungen herbeiführt. »Nach den genauen Messungen des Engländers Peacock nimmt das Gewicht des menschlichen Gehirnes stetig und sehr rasch bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahre zu, bleibt auf diesem Normalgewichte stehen bis zum fünfzigsten, und nimmt von da an stetig ab. Nach Sims erreicht das Gehirn welches an Masse bis zum dreissigsten oder vierzigsten Jahre wächst, erst zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahre das Maximum seines Volumens. Das Gehirn alter Leute wird atrophisch, d.h. kleiner, es schrumpft, und es entstehen Hohlräume zwischen den einzelnen Gehirnwindungen, welche vorher fest an einander lagen. Dabei wird die Substanz des Gehirnes zäher, die Farbe graulicher, der Blutgehalt geringer, die Windungen schmäler und die chemische Constitution des Greisengehirnes nähert sich nach Schlossberger wieder derjenigen der jüngsten Lebensperiode.« (Büchner,[20] Kraft und Stoff, 5te Aufl. S. 109.) Das Durchschnittsgewicht des Gehirnes beträgt nach Peacock beim Manne fünfzig, beim Weibe vierundvierzig Unzen; nach Hoffmann betrüge der Unterschied nur zwei Unzen; Lauret zog aus den Messungen von zweitausend Köpfen das Resultat, dass sowohl der Umfang, als an verschiedenen Stellen genommene Durchmesser bei Weibern stets geringer sind, als bei Männern. Während das Normalgewicht 3 – 3 1/2 Pfund beträgt, wog Cuviers Gehirn weit über vier Pfund. Angeborener Blödsinn zeigt immer ein auffallend kleines Gehirn, umgekehrt ist regelwidrige Kleinheit des Gehirnes immer mit Blödsinn verbunden. Panhappe beweist aus 782 Fällen die allmähliche Gewichtsverringerung des Gehirnes im Verhältnisse zur Verstandesabnahme beim Wahnsinne oder der Tiefe der geistigen Störung. Bei allen Cretins zeigt Gehirn und Schädel auffallende Kleinheit, letzterer Asymmetrie und Missgestalt; besonders verkümmert sind die Hemisphären. Das Gehirn des Negers ist viel kleiner, als das des Europäers, die Stirn zurückliegend, der Schädel minder umfangreich, überhaupt thierähnlicher; den Eingeborenen Neuhollands fehlen die höheren Theile des Gehirnes in auffallendem Maasse. Auch der Schädelbau der europäischen Menschheit hat in der historischen Zeit sich nicht unbedeutend vervollkommnet, namentlich tritt mit dem Fortschritt der Civilisation die vordere Kopfgegend auf Kosten der hinteren hervor, wie Ausgrabungen aus den verschiedensten Zeiten beweisen. Dasselbe Verhältniss findet auch zwischen den rohen und gebildeten Ständen der heutigen Zeit im Allgemeinen statt, wie unter anderen die Erfahrungen der Hutmacher erhärten. Dass hier nicht einzelne Fälle, sondern nur Durchschnittszahlen maassgebend sein können, versteht sich von selbst; die einzelnen Abweichungen, dass z.B. kluge Leute einen kleinen, dumme einen grossen Schädel haben können, kommen auf Rechnung theils der Schädeldicke, theils des Unterschiedes von Anlage und Ausbildung, theils der Gestalt der Windungen und der Qualität des Gehirnes.

Was wir von der Einwirkung der Qualität wissen, ist wenig, aber doch etwas. Z.B. ist das Kindergehirn breiiger, wasserreicher, fettärmer, als das des Erwachsenen; die Unterschiede zwischen grauer und weisser Substanz, die mikroskopischen Eigenthümlichkeiten bilden sich erst allmählich heraus; die an Erwachsenen sehr deutliche sogenannte Faserung des Gehirnes ist am Kindergehirne nicht zu erkennen; je deutlicher diese Faserung wird, um so bestimmter tritt auch die geistige Thätigkeit hervor; das Fötushirn[21] hat sehr wenig Fett (und damit Phosphor), und steigt der Fettgehalt bis zur Geburt und beim Neugeborenen ziemlich rasch mit vorrückendem Alter. Auch bei Thieren hat das Gehirn durchschnittlich um so mehr Fett, je höher sie stehen, und je kleiner das Gehirn im Verhältniss zum Verstande des Thieres ist, z.B. beim Pferd. Dieses Fett scheint sehr wichtig zu sein, denn bei Thieren, die man hungern lässt, verliert das Hirn nicht, wie andere Organe, einen Theil seines Fettgehaltes. – Von der Zahl, Tiefe und Gestalt der Hirnwirkungen hängt bei gleichem Volumen die Grösse seiner Oberfläche ab, – ein höchst wichtiger Factor, der ein geringeres Gewicht paralysiren kann. Im Durchschnitt sind auch die Windungen und Furchungen um so zahlreicher, tiefer und verworrener, je höher eine Thierart oder Menschenrace steht.

Es würde jetzt begreiflich sein, wenn das Gesetz des Verhältnisses von Hirnmasse und geistiger Begabung bei einigen wenigen Thieren, den grössten der Gegenwart, eine Ausnahme erlitte, indem sie das Menschenhirn an Masse übertreffen; gleichwohl beruht selbst diese scheinbare Abweichung nur in einem Ueberwiegen derjenigen Gehirntheile, welche dem Körpernervensystem als Centralorgan der willkürlichen Bewegung und Empfindung dienen, und welche theils wegen der grösseren Menge und Dicke der in ihnen zusammenlaufenden Nervenstränge, theils wegen der zur Bewegung einer grösseren Masse nothwendigen grösseren mechanischen Kraftentwickelung ein grösseres Volumen darbieten müssen. Dagegen erreichen die vorzugsweise den Denkfunctionen vorstehenden vorderen Theile des Hirnes bei keinem Thiere auch nur an Quantität die Ausbildung, wie beim Menschen.

6) Das bewusste Denken kräftigt das Gehirn, wie jede Thätigkeit ihr Organ, und ist die Kraftäusserung des Denkens stets von Stoffverbrauch begleitet. Wie jeder Muskel, wenn er vorzugsweise geübt wird, kräftiger wird und an Masse zunimmt (z.B. die Waden der Tänzerinnen), so wird auch das Gehirn durch Denkübung tüchtiger zum Denken und nimmt an Qualität und Quantität zu.

Albers in Bonn erzählt, er habe die Gehirne von mehreren Personen secirt, welche seit mehreren Jahren geistig sehr viel gearbeitet hatten; bei allen fand er die Gehirnsubstanz sehr fest, die graue Substanz und die Gehirnwindungen auffallend entwickelt. Die Zunahme an Masse wird theils durch den Unterschied bei den gebildeten und niederen Ständen, theils durch den Zuwachs in Folge der fortschreitenden Civilisation in Europa bewiesen, was beides freilich[22] nur mit Hülfe der Vererbung sich so weit summirt, dass es constatirt werden kann. – Dass alles Denken mit Stoffverbrauch im Gehirn verbunden ist, geht schon aus der einfachen Erscheinung der Ermüdung des Denkens hervor, die ohne dies gar nicht zu begreifen wäre. Geistige Arbeit vermehrt ebenso gut wie körperliche nicht nur die Esslust, um den Stoffverbrauch zu ersetzen, sondern nach Dary's Messungen sogar auch die thierische Wärme, was beschleunigte Athmung anzeigt, welche eintritt, um das durch den schnelleren Stoffwechsel schneller verkohlende Blut wieder zu entkohlen. Ferner sind bekanntlich die sitzenden Handwerke ohne körperliche Anstrengung, als Schneiderei, Schusterei, leichte Fabrikarbeit, diejenigen, welche die meisten Grübler, die religiös und politisch Verdrehten erzeugen, während die körperlich anstrengenden Handwerke dem Gehirne keine Kraft zum Denken übrig lassen, denn der Körper hat wie jede Maschine nur über eine gewisse Summe lebendiger Kraft zu verfügen, und wenn dieselbe in Muskelkraft umgesetzt wird, bleibt für das Spiel der Gehirnmolecüle zum Denken keine übrig. Dies kann auch Jeder an sich selbst sehen: Niemand wird im Stande sein, während eines tüchtigen Sprunges eine begonnene Gedankenreihe weiter zu denken, oder gleichzeitig schnell zu laufen und eine Ueberlegung anzustellen; schon im langsamen Geben bleibt man unwillkürlich stehen, wenn die Gedanken sich concentriren, und im tiefsten Nachdenken verfällt nicht selten der äussere Mensch in völlige Starrheit. Dies Alles deutet auf einen Verbrauch von lebendiger Kraft beim Denken, oder was dasselbe ist, einen chemischen Stoffverbrauch, denn dieser erzeugt die lebendige Kraft.

7) Jede Störung der Integrität des Gehirnes bringt eine Störung der bewussten Geistesthätigkeit hervor, es sei denn, dass die Function einer Hemisphäre von der entsprechenden Partie der anderen Hemisphäre ersetzt wird; denn wie jeder Mensch vorzugsweise mit einem Auge, Ohr, Nasenloch, sieht, hört und riecht, und nach Unbrauchbarwerden einer Seite der Sinnesorgane die Sinneswahrnehmung vermöge der anderen Seite noch fortbesteht, so denkt auch jeder Mensch vorzugsweise mit einer Hirnhälfte, wie oft schon die Physiognomie, namentlich die Stirn erkennen lässt, und ebenso kann nach theilweisem Unbrauchbarwerden einer Hirnhälfte die andere Hälfte die ganze Denkfunction übernehmen, wie eine Lungenhälfte die ganze Athemfunction. Immerhin ist diese Ersetzung beim Gehirne der seltenere Fall, und tritt nur dann ein, wenn erstens die kranke oder beschädigte Stelle die Functionen des übrigen Gehirnes[23] nicht mit beeinträchtigt, was aber auf die eine oder die andere Art, z.B. durch Fortpflanzung des Druckes, meistens stattfindet, und wenn zweitens die Schädigung derart ist, dass sie die Functionen der betreffenden Partie ganz aufhebt, aber nicht sie bestehen lässt und bloss abnorm macht, denn alsdann entwickelt sich in derselben eben die gestörte Geistesthätigkeit, welche die Resultate der gesunden Functionen der übrigen Theile werthlos macht. Wenn nun solche gestörte Functionen kranker Theile auf einmal ganz aufhören, oder das übrige Gehirn von dem Drucke, den sie bisher ausgeübt haben, entlasten, so tritt die normale Function der übrigen Gehirntheile wieder als klare Geistesthätigkeit auf, ein Fall, der sich namentlich bei fortschreitender Zerstörung der kranken Partien kurz vor dem Tode nicht selten ereignet, und dann die den Laien überraschende Erscheinung einer letzten geistigen Verklärung nach langem Wahnsinn darbietet.

Bei den schon erwähnten Flourens'schen Versuchen an Hühnern mit ausgenommenem Gehirne blieben die Thiere, wie in tiefem Schlafe, auf jeder Stelle sitzen, wo man sie hinsetzte, jede Fähigkeit, Sinneseindrücke zu erhalten, war vollkommen erloschen und sie mussten daher durch künstliche Fütterung erhalten werden; dagegen waren die vom Rückenmark ausgebenden Reflexbewegungen, z.B. das Schlingen, Fliegen, Laufen, erhalten. »Trägt man die beiden Hemisphären eines Säugethieres schichtweise ab, so sinkt die Geistesthätigkeit um so tiefer, je mehr der Massenverlust durchgegriffen hat. Ist man zu den Hirnhöhlen vorgedrungen, so pflegt sich vollkommene Bewusstlosigkeit einzufinden.« (Valentin.) »Welchen stärkeren Beweis für den nothwendigen Zusammenhang von Seele und Gehirn will man verlangen, als denjenigen, den das Messer des Anatomen liefert, indem es stückweise die Seele herunterschneidet?« (Büchner.)

Gehirnentzündung bewirkt Irrwahn und Tobsucht, ein Blutaustritt in das Gehirn Betäubung und vollkommene Bewusstlosigkeit, ein andauernder Druck auf das Gehirn (z.B. Gehirnwassersucht, Wasserkopf der Kinder) Verstandesschwäche und Blödsinn, eine Ueberfüllung, z.B. bei Ertrinkenden und schwer Betrunkenen, oder Entleerung der Blutgefässe des Hirnes erzeugen Ohnmachten und Bewusstlosigkeit, die schnellere Blutcirculation eines einfachen Fiebers bewirkt die Fieberphantasien, die doch auch ein zeitweiser Wahnsinn sind, der Blutandrang im Alkoholrausch führt die als betrunkener Zustand bekannte Geistesstörung, Opium, Haschich und[24] andere Narkotica jedes einen anderen ihm eigenthümlichen Zustand des Rausches herbei, deren jeder mit gewissen Zuständen des Wahnsinns identisch ist.

Parry vermochte Anfälle von Tobsucht durch eine Compression der Halsschlagader zu unterdrücken, und nach Flemming's Versuchen erzeugt dasselbe Verfahren bei Gesunden Schlaf und jagende Träume. Kurzhalsige Menschen und Thiere sind im Durchschnitt sanguinischer, als langhalsige, weil in Folge der geringeren Entfernung vom Herzen in ihrem Hirne eine lebhaftere Blutcirculation stattfindet Alle sogenannten Nachkrankheiten des Gehirnes in Folge stärkerer Verletzungen oder auch innerer Krankheiten, auch viele Apoplexien, betreffen ganz vorzugsweise das Gedächtniss, rauben es entweder ganz oder schwächen es im Allgemeinen, oder rauben das Gedächtniss für gewisse Kategorien des Wissens, z.B. bloss für die Sprache, ohne jede Lähmung der Sprachorgane bei sonst klarem Verstande (Aphasie), oder ausschliesslich für alle Eigennamen, oder eine bestimmte Landessprache, oder für die Erlebnisse gewisser Jahre oder Zeitabschnitte (besonders bei Zerstörung oder Ausserthätigkeitsetzen bestimmter Hirntheile). Mannigfache höchst frappante Beispiele hierüber und das Wiedererhalten des Verlorenen nach Entlastung des betreffenden Gehirntheiles sind nachzulesen in Jessen's Psychologie. – Stärkere Beweise, dass das Gedächtniss auf bleibenden Veränderungen gewisser Hirntheile beruht, welche auf gewisse Anregungen zur leichteren Reproduction der früheren Schwingungen beitragen, kann man doch wahrlich nicht verlangen, als dass gewisse Erinnerungsgebiete die Fähigkeit, im Gedächtniss aufzutauchen, mit Unbrauchbarwerden gewisser Hirntheile verlieren, und mit deren Rückkehr in den normalen Zustand wieder gewinnen.

Die bekannte Erfahrung, dass keine Gattung von Krankheiten zu einem so hohen Procentsatz auf Vererbung beruht als die der Geisteskrankheiten, weist allein schon deutlich genug darauf hin, dass alle Geistesstörungen auf (directer oder indirecter) Störung der Hirnfunctionen beruhen; denn es sind wohl Anomalien der Centralorgane des Nervensystems auf dem Wege der materiellen Zeugung (ähnlich wie Tuberculose, Scropheln, Krebs u. a. Krankheiten) als erblich zu denken, aber nimmermehr immateriell psychische Anomalien, von deren Möglichkeit wir uns überhaupt keinen Begriff machen können (vgl. Bd. I, S. 141-142).

8) Es giebt keine bewusste Geistesthätigkeit ausserhalb oder hinter der Hirnfunction; denn wenn wir mit[25] Obigem als bewiesen annehmen dürfen, dass jede Störung der normalen Hirnfunctionen die Thätigkeit des Bewusstseins stört, so dürfen wir wohl als gewiss annehmen, dass mit der völligen Aufhebung der Hirnfunction die Bewusstseinsthätigkeit ebenfalls wirklich aufgehoben und nicht bloss ihr zur Erscheinung Kommen verhindert wird.

Wäre nicht diese stetig fortschreitende Stufenfolge der Bewusstseinsstörung vorhanden, die stets der Tiefe der Hirnfunctionsstörung parallel geht, und durch alle Stufen des Blödsinns ganz allmählich in die Aufhebung alles Bewusstseins (ausser dem in den reflectorischen Instincten des Rückenmarkes sich äussernden) übergeht, so wäre allerdings die Vermuthung möglich, dass eine Zurückziehung des Bewusstseins auf sich selber stattfinden könne, wo bloss jede Aeusserung desselben unterdrückt sei, aber so hat diese Möglichkeit, auf welche man überhaupt nur durch einen Rettungsversuch von Vorurtheilen eines vorgefassten Systemes kommen kann, zu sehr alle Wahrscheinlichkeit gegen sich, als dass sie vor dem unbefangenen Forscher Berücksichtigung verdiente. Ausser der erwähnten Stufenreihe und dem Umstand, dass der ganze Naturapparat zur Herstellung des Hirnbewusstseins überflüssig wäre, wenn auch ohne denselben das Bewusstsein existiren könnte, spricht noch der Mangel der Erinnerung dagegen, denn wenn das Bewusstsein sich während der Unthätigkeit des Hirnes auf sich selber zurückzöge, so müsste doch eine Erinnerung für später daran zurückbleiben. Diesen Umstand glauben Andere zu beseitigen, wenn sie ein doppeltes individuelles Bewusstsein (also auch doppelte Persönlichkeit [!] in Jedem) annehmen, nämlich ein leibfreies und ein Hirnbewusstsein, wobei ersteres für letzteres unbewusst sein soll. Was für diese Doppelseitigkeit des Geistes Triftiges angeführt wird, bezieht sich Alles auf den von uns als das Unbewusste erkannten geistigen Hintergrund des Hirnbewusstseins, den freilich diejenigen, welche nur bewusste Geistesthätigkeit kennen, für ein zweites Bewusstsein halten müssen; was aber ausdrücklich für die Zweiheit des Bewusstseins beigebracht wird, ist sehr unglücklich gewählt. Zunächst wird das Bewusstsein des magnetischen Schlafes als leibfreies Bewusstsein in Anspruch genommen, welches sich doch vom Bewusstsein des Traumes im gewöhnlichen Schlafe nur dadurch unterscheidet, dass die Communication mit den äusseren Sinnen etwas weniger behindert und der functionirende Theil des Gehirnes sich in einem Zustande künstlicher Hyperästhesie (Ueberreizung, Ueberempfindlichkeit) befindet, welcher zur Folge hat, dass erstens die Einwirkungen des[26] Unbewussten leichter in's Bewusstsein treten können, und dass zweitens die Ausschlagsweite der Hirnschwingungen bei gleicher Lebhaftigkeit der Vorstellung geringer als sonst ist, und folglich geringere Gedächtnisseindrücke hinterlässt, welche wie bei den meisten gewöhnlichen Träumen nach Verschwinden der Hirnhyperästhesie zwar vorhanden bleiben, aber zu schwach sind, um auf die gewöhnlichen Reize in die bewusste Erinnerung zurückzukehren.

Demnach ist es kein Wunder, dass das Traumbewusstsein sowohl die Erinnerungen des wachen, als seine eigenen in sich fassen kann, aber nicht umgekehrt. Ueberhaupt ist der somnambüle Traum mit dem gewöhnlichen durch die Schlafbewegungen und die verschiedenen Stufen des Nachtwandelns und des spontanen Somnambulismus so stetig verknüpft, dass es ganz unmöglich ist, in ihm ein leibfreies Bewusstsein erkennen zu wollen; und dann ist es auch mit dem Bewusstsein dieser Zustände nicht weit her, sie sind eher ein träumerisches Halbbewusstsein, als ein gesteigertes Bewusstsein zu nennen, und die bisweilen beobachteten, stets nur kurzen Lichtblitzen gleichenden erhöhten geistigen Leistungen kommen theils auf Rechnung der erleichterten Eingebung des Unbewussten, theils auf Rechnung der Hirnhyperästhesie an sich, welche ein leichteres Auftauchen der Erinnerungen zur Folge hat, wie denn in solchen Zuständen Erinnerungen aus frühen Zeiten von scheinbar längst vergessenen Dingen zum Vorscheine kommen, die so schwach waren, dass im normalen Hirnzustande keine zu ihrer Erweckung genügenden Reize vorgekommen waren. So erklärt sich Alles natürlich aus bekannten Gesetzen, ohne dass irgendwo jene geschraubte Hypothese nutzbar würde.

Eine noch unglücklichere Anführung für das leibfreie Bewusstsein ist das schon erwähnte bisweilen stattfindende Wiederkehrendes Bewusstseins vor dem Tode. Auch hier spielt wieder eine innere Hyperästhesie des Hirnes bei äusserer Anästhesie mit, welche mitunter jene Verklärung des Geistes hervorbringt, die ihre Wahrsagungen und Gedächtnissschärfe mit dem somnambülen Zustande, ihre freudige Ruhe und stille, schmerzlose Heiterkeit mit dem gleichen Nervenzustande (Analgesie) bei den höchsten Graden der Tortur oder gewissen narkotischen Rauschen gemein hat. Die Anästhesie nach Aussen ist dabei nur das natürliche Gegengewicht gegen die innere Hyperästhesie, wir finden dieselbe ebenfalls bei der Entrückung der mystischen Asketiker, bei den Somnambülen, bei schwachen Graden des Chloroformirens und bei vielen anderen Narkosen, z.B. Haschisch;[27] auch bei manchen Zuständen des Wahnsinns zeigt sie sich bisweilen; so beweist also dieses Gefühl der Leibfreiheit keineswegs eine Minderung, sondern vielmehr eine Steigerung des Gehirnreizes, und nichts weniger als die Leibfreiheit des Bewusstseins. Ganz ähnliche Umstände führen die ähnlichen Erscheinungen kurz vor dem Ertrinken herbei. Wenn endlich als Kriterium des leibfreien Bewusstseins die Aufhebung der Zeit in der Gedankenfolge behauptet wird, so wäre dies gleichbedeutend mit dem intuitiven, zeitlosen, momentanen, impliciten Denken, welches jedem discursiven Bewusstsein, als welches Vergleichen expliciter Vorstellungen verlangt, widerspricht. Es wird aber auch in den Beispielen nur der schnellere Gedankenlauf angeführt, wie er eben bei Zuständen der höchsten Gehirnreizung, bei narkotischen Vergiftungen, vor dem Ertrinken u. dgl. vorkommt, und seit jeher als »Ideenflucht« bei gewissen Formen des Wahnsinnes bekannt ist Was Wunder, dass in einem überreizten Gehirne die Vorstellungen schneller als gewöhnlich auf einander folgen? So lange überhaupt noch die Vorstellungen zeitlich auf einander folgen, beweisen sie die Einwirkung der Materie, durch deren Schwingungen erst die Zeit in's Denken kommt, so wie aber das Denken leibfrei ist, ist es zeitlos und damit unbewusst.A2

Was wir in diesem Capitel vom menschlichen, als dem höchsten uns bekannten Bewusstsein, bei welchem man am ehesten eine Selbstständigkeit vom Leibe vermuthen könnte, nachgewiesen haben, gilt selbstredend auch von den Ganglien der niederen Thiere, welche das Gehirn der Wirbelthiere ersetzen, und es gilt ebenso von dem speciellen Bewusstsein jedes selbstständigen Ganglienknotens in Menschen, höheren und niederen Thieren, es gilt endlich auch von den Substanzen, welche bei den niedrigsten Thieren das Centralnervensystem ersetzen, und sollte sich bei Pflanzen oder anorganischen Stoffen ebenfalls ein Bewusstsein herausstellen, so gilt es auch für dieses.

Zum Schluss dieses Capitels finde eine Stelle von Schelling Platz (Werke I. 3, 497), welche den Inhalt desselben in wenigen Worten enthält, wenn auch die Behauptung in Schelling's Munde durch den Hintergrund des transcendentalen Idealismus einen etwas anderen Sinn erhält: »Nicht die Vorstellung selbst, wohl aber das Bewusstsein derselben ist durch die Affection des Organismus bedingt, und wenn der Empirismus seine Behauptung auf das letztere einschränkt, so ist nichts gegen ihn einzuwenden.«[28]

A2

S. 28 Z. 20. Die Ausführungen von Seite 26-28 waren seiner Zeit hauptsächlich gegen J. H. Fichte's »Anthropologie« gerichtet, passen aber ebenso gut auf Hellenbach's »Individualismus« und du Prel's »Philosophie der Mystik«. Alle drei stimmen darin überein, dass sie einerseits keinen Versuch machen, die Bedenken zu entkräften, welche die physiologische Psychologie gegen die Annahme der Leibfreiheit des zweiten (sonnambülen) Bewusstseins erheben muss, und dass sie andrereists doch wieder der behaupteten Leibfreiheit zum Trotz das Bedürfniss haben, das zweite Bewusstsein auf eine Leiblichkeit, wenn auch nur von anderer Art, zu stützen. So wird denn zu dem »geistlichen Leibe« (sôma pneumatikon) des Paulus, zu dem »Astralleib« der mittelalterlichen Theosophen zurückgegriffen und in diesem »Aetherleib« eine Hypothese völlig phantastischer und haltloser Art aufgestellt, welche wesentlich dem Zwecke dient, den Unsterblichkeitsglauben von den ihm anhaftenden Undenkbarkeiten zu befreien. Auch Hellenbach, der zuerst die Ausdrücke »Seele« oder »Metaorganismus« für diesen hypothetischen »geistlichen Leib« gebraucht hatte, ist am Schlüsse seines Lebens zu der Bezeichnung J. H. Fichte's, zum »Aetherleib« zurückgekehrt. Es wird von diesen Vertretern eines »leibfreien Bewusstseins im Aetherleibe« übersehen, dass die mittleren Hirntheile, das Rückenmark und die Ganglien, eine mehr als ausreichende materielle Unterlage nicht nur für ein zweites, sondern auch für ein drittes, viertes, fünftes u.s.w. Bewusstsein in sonnambülen und irrsinnigen Zuständen bieten, dass die bisher constatirte Beschleunigung des Vorstellungsablaufs oder der Bilderflucht in solchen Zuständen durchaus nicht die Leistungsfähigkeit der Gehirnsubstanz übersteigt, und dass jeder Versuch, das Gedächtniss durch ein leibfreies »transcendentales« Bewusstsein zu erklären, sich in unlösliche Widersprüche verstrickt. (Vgl. hierzu meinen Aufsatz »der Sonnambulismus« in den »Modernen Problemen« 2. Aufl. Nr. XV S. 207-277, speciell S. 254-276, 224-225). Der einfachste positive Beweis dafür, dass das sonnambüle Bewusstsein kein leibfreies Bewusstsein ist, liegt schon darin, dass es ebenso wie das wache Bewusstsein mit der Zeit ermüdet und dass bei lang andauernden sonnambülen Zuständen das Schlafbedürfniss sich mit Regelmässigkeit einstellt.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 16-29.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
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Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

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