II. Kosmologische Ideen

[209] (Krit., S. 405 u. f.)


§ 50

Dieses Produkt der reinen Vernunft in ihrem transzendenten Gebrauch ist das merkwürdigste Phänomen derselben, welches auch unter allen am kräftigsten wirkt, die[209] Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken, und sie zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft selbst zu bewegen.

Ich nenne diese Idee deswegen kosmologisch, weil sie ihr Objekt jederzeit nur in der Sinnenwelt nimmt, auch keine andere als die, deren Gegenstand ein Objekt der Sinne ist, braucht, mithin so fern einheimisch und nicht transzendent, folglich bis dahin noch keine Idee ist; dahingegen, die Seele sich als eine einfache Substanz denken, schon so viel heißt, als sich einen Gegenstand denken (das Einfache), dergleichen den Sinnen gar nicht vorgestellt werden können. Demungeachtet erweitert doch die kosmologische Idee die Verknüpfung des Bedingten mit seiner Bedingung (diese mag mathematisch oder dynamisch sein) so sehr, daß Erfahrung ihr niemals gleichkommen kann, und ist also in Ansehung dieses Punkts immer eine Idee, deren Gegenstand niemals adäquat in irgend einer Erfahrung gegeben werden kann.


§ 51

Zuerst zeigt sich hier der Nutzen eines Systems der Kategorien so deutlich und unverkennbar, daß, wenn es auch nicht mehrere Beweistümer desselben gäbe, dieser allein ihre Unentbehrlichkeit im System der reinen Vernunft hinreichend dartun würde. Es sind solcher transzendenten Ideen nicht mehr als vier, so viel als Klassen der Kategorien; in jeder derselben aber gehen sie nur auf die absolute Vollständigkeit der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Diesen kosmologischen Ideen gemäß gibt es auch nur viererlei dialektische Behauptungen der reinen Vernunft, die, da sie dialektisch sind, dadurch selbst beweisen, daß einer jeden, nach ebenso scheinbaren Grundsätzen der reinen Vernunft, ein ihm widersprechender entgegensteht, welchen Widerstreit keine metaphysische Kunst der subtilsten Distinktion verhüten kann, sondern die den Philosophen nötigt, zu den ersten Quellen der reinen Vernunft selbst zurück zu gehen. Diese nicht etwa beliebig erdachte, sondern in der Natur der menschlichen Vernunft[210] gegründete, mithin unvermeidliche und niemals ein Ende nehmende Antinomie enthält nun folgende vier Sätze samt ihren Gegensätzen.


1.

Satz

Die Welt hat der Zeit und dem Raum nach einen Anfang (Grenze)


Gegensatz

Die Welt ist der Zeit und dem Raum nach unendlich


2.

Satz

Alles in der Welt besteht aus dem Einfachen


Gegensatz

Es ist nichts Einfaches, sondern alles ist zusammengesetzt


3.

Satz

Es gibt in der Welt Ursachen durch Freiheit


Gegensatz

Es ist keine Freiheit, sondern alles ist Natur


4.

Satz.

In der Reihe der Weltursachen ist irgend ein notwendig Wesen


Gegensatz

Es ist in ihr nichts notwendig, sondern in dieser Reihe ist alles zufällig


§ 52

Hier ist nun das seltsamste Phänomen der menschlichen Vernunft, wovon sonst kein Beispiel in irgend einem andern Gebrauch derselben gezeigt werden kann. Wenn wir, wie es gewöhnlich geschieht, uns die Erscheinungen der Sinnenwelt als Dinge an sich selbst denken, wenn wir die Grundsätze[211] ihrer Verbindung als allgemein von Dingen an sich selbst und nicht bloß von der Erfahrung geltende Grundsätze annehmen, wie denn dieses eben so gewöhnlich, ja ohne unsre Kritik unvermeidlich ist: so tut sich ein nicht vermuteter Widerstreit hervor, der niemals auf dem gewöhnlichen dogmatischen Wege beigelegt werden kann, weil sowohl Satz als Gegensatz durch gleich einleuchtende klare und unwiderstehliche Beweise dargetan werden können – denn vor die Richtigkeit aller dieser Beweise verbürge ich mich –, und die Vernunft sich also mit sich selbst entzweit sieht, ein Zustand, über den der Skeptiker frohlockt, der kritische Philosoph aber in Nachdenken und Unruhe versetzt werden muß.


§ 52 b

Man kann in der Metaphysik auf mancherlei Weise herumpfuschen, ohne eben zu besorgen, daß man auf Unwahrheit werde betreten werden. Denn, wenn man sich nur nicht selbst widerspricht, welches in synthetischen, obgleich gänzlich erdichteten Sätzen gar wohl möglich ist: so können wir in allen solchen Fällen, wo die Begriffe, die wir verknüpfen, bloße Ideen sind, die gar nicht (ihrem ganzen Inhalte nach) in der Erfahrung gegeben werden können, niemals durch Erfahrung widerlegt werden. Denn wie wollten wir es durch Erfahrung ausmachen: ob die Welt von Ewigkeit her sei, oder einen Anfang habe, ob Materie ins Unendliche teilbar sei, oder aus einfachen Teilen bestehe; der gleichen Begriffe lassen sich in keiner, auch der größtmöglichen Erfahrung geben, mithin die Unrichtigkeit des behauptenden oder verneinenden Satzes durch diesen Probierstein nicht entdecken.

Der einzige mögliche Fall, da die Vernunft ihre geheime Dialektik, die sie fälschlich vor Dogmatik ausgibt, wider ihren Willen offenbarete, wäre der, wenn sie auf einen allgemeinen zugestandnen Grundsatz eine Behauptung gründete, und aus einem andern eben so beglaubigten, mit der größten Richtigkeit der Schlußart, gerade das Gegenteil folgerte. Dieser Fall ist hier nun wirklich, und zwar in Ansehung vier natürlicher Vernunftideen, woraus vier Behauptungen[212] einerseits, und eben so viel Gegenbehauptungen anderer Seits, jede mit richtiger Konsequenz aus allgemein zugestandnen Grundsätzen, entspringen, und dadurch den dialektischen Schein der reinen Vernunft im Gebrauch dieser Grundsätze offenbaren, der sonst auf ewig verborgen sein müßte.

Hier ist also ein entscheidender Versuch, der uns notwendig eine Unrichtigkeit entdecken muß, die in den Voraussetzungen der Vernunft verborgen liegt.21 Von zwei einander widersprechenden Sätzen können nicht alle beide falsch sein, außer, wenn der Begriff selbst widersprechend ist, der beiden zum Grunde liegt; z.B. die zwei Sätze: ein viereckichter Zirkel ist rund, und ein viereckichter Zirkel ist nicht rund, sind beide falsch. Denn, was den ersten betrifft, so ist es falsch, daß der genannte Zirkel rund sei, weil er viereckicht ist; es ist aber auch falsch, daß er nicht rund, d.i. eckicht sei, weil er ein Zirkel ist. Denn darin besteht eben das logische Merkmal der Unmöglichkeit eines Begriffs, daß unter desselben Voraussetzung zwei widersprechende Sätze zugleich falsch sein würden, mithin, weil kein Drittes zwischen ihnen gedacht werden kann, durch jenen Begriff gar nichts gedacht wird.


§ 52 c

Nun liegt den zwei ersteren Antinomien, die ich mathematische nenne, weil sie sich mit der Hinzusetzung oder Teilung des Gleichartigen beschäftigen, ein solcher widersprechender Begriff zum Grunde; und daraus erkläre ich,[213] wie es zugehe: daß Thesis so wohl als Antithesis bei beiden falsch sind.

Wenn ich von Gegenständen in Zeit und Raum rede, so rede ich nicht von Dingen an sich selbst, darum, weil ich von diesen nichts weiß, sondern nur von Dingen in der Erscheinung, d.i. von der Erfahrung, als einer besondern Erkenntnisart der Objekte, die dem Menschen allein vergönnet ist. Was ich nun im Raume oder in der Zeit denke, von dem muß ich nicht sagen: daß es an sich selbst, auch ohne diesen meinen Gedanken, im Raume und der Zeit sei; denn da würde ich mir selbst widersprechen; weil Raum und Zeit, samt den Erscheinungen in ihnen, nichts an sich selbst und außer meinen Vorstellungen Existierendes, sondern selbst nur Vorstellungsarten sind, und es offenbar widersprechend ist, zu sagen, daß eine bloße Vorstellungsart auch außer unserer Vorstellung existiere. Die Gegenstände also der Sinne existieren nur in der Erfahrung; dagegen auch ohne dieselbe, oder vor ihr, ihnen eine eigene vor sich bestehende Existenz zu geben, heißt, so viel, als sich vorstellen, Erfahrung sei auch ohne Erfahrung, oder vor derselben wirklich.

Wenn ich nun nach der Weltgröße, dem Raume und der Zeit nach, frage, so ist es vor alle meine Begriffe eben so unmöglich zu sagen, sie sei unendlich, als sie sei endlich. Denn keines von beiden kann in der Erfahrung enthalten sein, weil weder von einem unendlichen Raume, oder unendlicher verflossener Zeit, nach der Begrenzung der Welt durch einen leeren Raum, oder eine vorhergehende leere Zeit, Erfahrung möglich ist; das sind nur Ideen. Also müßte diese, auf die eine oder die andre Art bestimmte Größe der Welt in ihr selbst liegen, abgesondert von aller Erfahrung. Dieses widerspricht aber dem Begriffe einer Sinnenwelt, die nur ein Inbegriff der Erscheinung ist, deren Dasein und Verknüpfung nur in der Vorstellung, nämlich der Erfahrung, stattfindet, weil sie nicht Sache an sich, sondern selbst nichts als Vorstellungsart ist. Hieraus folgt, daß, da der Begriff einer vor sich existierenden Sinnenwelt in sich selbst widersprechend ist, die Auflösung des Problems, wegen ihrer[214] Größe, auch jederzeit falsch sein werde, man mag sie nun bejahend oder verneinend versuchen.

Eben dieses gilt von der zweiten Antinomie, die die Teilung der Erscheinungen betrifft. Denn diese sind bloße Vorstellungen, und die Teile existieren bloß in der Vorstellung derselben, mithin in der Teilung, d.i. in einer möglichen Erfahrung, darin sie gegeben werden, und jene geht daher nur so weit, als diese reicht. Anzunehmen, daß eine Erscheinung, z.B. die des Körpers, alle Teile vor aller Erfahrung an sich selbst enthalte, zu denen nur immer mögliche Erfahrung gelangen kann, heißt: einer bloßen Erscheinung, die nur in der Erfahrung existieren kann, doch zugleich eine eigene vor Erfahrung vorhergehende Existenz geben, oder zu sagen, daß bloße Vorstellungen da sind, ehe sie in der Vorstellungskraft angetroffen werden, welches sich widerspricht, und mithin auch jede Auflösung der mißverstandnen Aufgabe, man mag darinne behaupten, die Körper bestehen an sich aus unendlich viel Teilen oder einer endlichen Zahl einfacher Teile.


§ 53

In der ersten Klasse der Antinomie (der mathematischen) bestand die Falschheit der Voraussetzung darin: daß, was sich widerspricht (nämlich Erscheinung als Sache an sich selbst), als vereinbar in einem Begriffe vorgestellt würde. Was aber die zweite, nämlich dynamische Klasse der Antinomie betrifft, so besteht die Falschheit der Voraussetzung darin: daß, was vereinbar ist, als widersprechend vorgestellt wird, folglich, da im ersteren Falle alle beide einander entgegengesetzte Behauptungen falsch waren, hier wiederum solche, die durch bloßen Mißverstand einander entgegengesetzt werden, alle beide wahr sein können.

Die mathematische Verknüpfung nämlich setzt notwendig Gleichartigkeit des Verknüpften (im Begriffe der Größe) voraus, die dynamische erfordert dieses keinesweges. Wenn es auf die Größe des Ausgedehnten ankommt, so müssen[215] alle Teile unter sich, und mit dem Ganzen gleichartig sein; dagegen in der Verknüpfung der Ursache und Wirkung kann zwar auch Gleichartigkeit angetroffen werden, aber sie ist nicht notwendig; denn der Begriff der Kausalität (vermittelst dessen durch etwas etwas ganz davon Verschiedenes gesetzt wird) erfordert sie wenigstens nicht.

Würden die Gegenstände der Sinnenwelt vor Dinge an sich selbst genommen, und die oben angeführte Naturgesetze vor Gesetze der Dinge an sich selbst, so wäre der Widerspruch unvermeidlich. Eben so, wenn das Subjekt der Freiheit gleich den übrigen Gegenständen als bloße Erscheinung vorgestellt würde, so könnte eben so wohl der Widerspruch nicht vermieden werden, denn es würde eben dasselbe von einerlei Gegenstande in derselben Bedeutung zugleich bejahet und verneinet werden. Ist aber Naturnotwendigkeit bloß auf Erscheinungen bezogen, und Freiheit bloß auf Dinge an sich selbst, so entspringt kein Widerspruch, wenn man gleich beide Arten von Kausalität annimmt, oder zugibt, so schwer oder unmöglich es auch sein möchte, die von der letzteren Art begreiflich zu machen.

In der Erscheinung ist jede Wirkung eine Begebenheit, oder etwas, das in der Zeit geschieht; vor ihr muß, nach dem allgemeinen Naturgesetze, eine Bestimmung der Kausalität ihrer Ursache (ein Zustand derselben) vorhergehen, worauf sie nach einem beständigen Gesetze folgt. Aber diese Bestimmung der Ursache zur Kausalität muß auch etwas sein, was sich eräugnet oder geschieht; die Ursache muß angefangen haben zu handeln, denn sonst ließe sich zwischen ihr und der Wirkung keine Zeitfolge denken. Die Wirkung wäre immer gewesen, so wie die Kausalität der Ursache, Also muß unter Erscheinungen die Bestimmung der Ursache zum Wirken auch entstanden, und mithin eben so wohl, als ihre Wirkung, eine Begebenheit sein, die wiederum ihre Ursache haben muß, u.s.w. und folglich Naturnotwendigkeit die Bedingung sein, nach welcher die wirkende Ursachen bestimmt werden. Soll dagegen Freiheit eine Eigenschaft gewisser Ursachen der Erscheinungen sein, so muß sie, respective auf die letztere, als Begebenheiten,[216] ein Vermögen sein, sie von selbst (sponte) anzufangen, d.i. ohne daß die Kausalität der Ursache selbst anfangen dürfte, und daher keines andern ihren Anfang bestimmenden Grundes benötiget wäre. Alsdenn aber müßte die Ursache, ihrer Kausalität nach, nicht unter Zeitbestimmungen ihres Zustandes stehen, d.i. gar nicht Erscheinung sein, d.i. sie müßte als ein Ding an sich selbst, die Wirkungen aber allein als Erscheinungen angenommen werden.22 Kann man einen solchen Einfluß der Verstandeswesen auf Erscheinungen ohne Widerspruch denken, so wird zwar aller Verknüpfung der Ursache und Wirkung in der Sinnenwelt Naturnotwendigkeit anhangen, dagegen doch derjenigen Ursache, die selbst keine Erscheinung ist (obzwar ihr zum Grunde liegt), Freiheit zugestanden, Natur also und Freiheit eben demselben Dinge, aber in verschiedener Beziehung, einmal als Erscheinung, das andremal als einem Dinge an sich selbst ohne Widerspruch beigelegt werden können.

Wir haben in uns ein Vermögen, welches nicht bloß mit seinen subjektiv bestimmenden Gründen, welche die Naturursachen seiner Handlungen sind, in Verknüpfung steht, und so fern das Vermögen eines Wesens ist, das selbst zu den[217] Erscheinungen gehört, sondern auch auf objektive Gründe, die bloß Ideen sind, bezogen wird, so fern sie dieses Vermögen bestimmen können, welche Verknüpfung durch Sollen ausgedruckt wird. Dieses Vermögen heißt Vernunft, und so fern wir ein Wesen (den Menschen) lediglich nach dieser objektiv bestimmbaren Vernunft betrachten, kann es nicht als ein Sinnenwesen betrachtet werden, sondern die gedachte Eigenschaft ist die Eigenschaft eines Dinges an sich selbst, deren Möglichkeit, wie nämlich das Sollen, was doch noch nie geschehen ist, die Tätigkeit desselben bestimme, und Ursache von Handlungen sein könne, deren Wirkung Erscheinung in der Sinnenwelt ist, wir gar nicht begreifen können. Indessen würde doch die Kausalität der Vernunft in Ansehung der Wirkungen in der Sinnenwelt Freiheit sein, so fern objektive Gründe, die selbst Ideen sind, in Ansehung ihrer als bestimmend angesehen werden. Denn ihre Handlung hinge alsdann nicht an subjektiven, mithin auch keinen Zeitbedingungen und also auch nicht vom Naturgesetze ab, das diese zu bestimmen dient, weil Gründe der Vernunft allgemein, aus Prinzipien, ohne Einfluß der Umstände der Zeit oder des Orts, Handlungen die Regel geben.

Was ich hier anführe, gilt nur als Beispiel zur Verständlichkeit, und gehört nicht notwendig zu unserer Frage, welche, unabhängig von Eigenschaften, die wir in der wirklichen Welt antreffen, aus bloßen Begriffen entschieden werden muß.

Nun kann ich ohne Widerspruch sagen: alle Handlungen vernünftiger Wesen, so fern sie Erscheinungen sind (in irgend einer Erfahrung angetroffen werden), stehen unter der Naturnotwendigkeit; eben dieselbe Handlungen aber, bloß respective auf das vernünftige Subjekt, und dessen Vermögen, nach bloßer Vernunft zu handeln, sind frei. Denn was wird zur Naturnotwendigkeit erfodert? Nichts weiter als die Bestimmbarkeit jeder Begebenheit der Sinnenwelt, nach beständigen Gesetzen, mithin eine Beziehung auf Ursache in der Erscheinung, wobei das Ding an sich selbst, was zum Grunde liegt, und dessen Kausalität unbekannt bleibt. Ich sage aber: das Naturgesetz bleibt, es mag nun das[218] vernünftige Wesen aus Vernunft, mithin durch Freiheit, Ursache der Wirkungen der Sinnenwelt sein, oder es mag diese auch nicht aus Vernunftgründen bestimmen. Denn, ist das erste, so geschieht die Handlung nach Maximen, deren Wirkung in der Erscheinung jederzeit beständigen Gesetzen gemäß sein wird; ist das zweite, und die Handlung geschieht nicht nach Prinzipien der Vernunft, so ist sie den empirischen Gesetzen der Sinnlichkeit unterworfen, und in beiden Fällen hängen die Wirkungen nach beständigen Gesetzen zusammen; mehr verlangen wir aber nicht zur Naturnotwendigkeit, ja mehr kennen wir an ihr auch nicht. Aber im ersten Falle ist Vernunft die Ursache dieser Naturgesetze, und ist also frei, im zweiten Falle laufen die Wirkungen nach bloßen Naturgesetzen der Sinnlichkeit, darum, weil die Vernunft keinen Einfluß auf sie ausübt: sie, die Vernunft, wird aber darum nicht selbst durch die Sinnlichkeit bestimmt (welches unmöglich ist), und ist daher auch in diesem Falle frei. Die Freiheit hindert also nicht das Naturgesetz der Erscheinungen, so wenig, wie dieses der Freiheit des praktischen Vernunftgebrauchs, der mit Dingen an sich selbst, als bestimmenden Gründen, in Verbindung steht, Abbruch tut.

Hiedurch wird also die praktische Freiheit, nämlich diejenige, in welcher die Vernunft nach objektiv-bestimmenden Gründen Kausalität hat, gerettet, ohne daß der Naturnotwendigkeit in Ansehung eben derselben. Wirkungen, als Erscheinungen, der mindeste Eintrag geschieht. Eben dieses kann auch zur Erläuterung desjenigen, was wir wegen der transzendentalen Freiheit und deren Vereinbarung mit Naturnotwendigkeit (in demselben Subjekte, aber nicht in einer und derselben Beziehung genommen) zu sagen hatten, dienlich sein. Denn was diese betrifft, so ist ein jeder Anfang der Handlung eines Wesens aus objektiven Ursachen, respective auf diese bestimmende Gründe, immer ein erster Anfang, obgleich dieselbe Handlung in der Reihe der Erscheinungen nur ein subalterner Anfang ist, vor welchem ein Zustand der Ursache vorhergehen muß, der sie bestimmt, und selbst eben so von einer nah vorhergehenden[219] bestimmt wird: so daß man sich an vernünftigen Wesen, oder überhaupt an Wesen, so fern ihre Kausalität in ihnen als Dingen an sich selbst bestimmt wird, ohne in Widerspruch mit Naturgesetzen zu geraten, ein Vermögen denken kann, eine Reihe von Zuständen von selbst anzufangen. Denn das Verhältnis der Handlung zu objektiven Vernunftgründen ist kein Zeitverhältnis: hier geht das, was die Kausalität bestimmt, nicht der Zeit nach vor der Handlung vorher, weil solche bestimmende Gründe nicht Beziehung der Gegenstände auf Sinne, mithin nicht auf Ursachen in der Erscheinung, sondern bestimmende Ursachen, als Dinge an sich selbst, die nicht unter Zeitbedingungen stehen, vorstellen. So kann die Handlung in Ansehung der Kausalität der Vernunft als ein erster Anfang, in Ansehung der Reihe der Erscheinungen aber doch zugleich als ein bloß subordinierter Anfang angesehen, und ohne Widerspruch in jenem Betracht als frei, in diesem (da sie bloß Erscheinung ist) als der Naturnotwendigkeit unterworfen, angesehen werden.

Was die vierte Antinomie betrifft, so wird sie auf die ähnliche Art gehoben, wie der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst in der dritten. Denn, wenn die Ursache in der Erscheinung, nur von der Ursache der Erscheinungen, so fern sie als Ding an sich selbst gedacht werden kann, unterschieden wird, so können beide Sätze wohl neben einander bestehen, nämlich, daß von der Sinnenwelt überall keine Ursache (nach ähnlichen Gesetzen der Kausalität) stattfinde, deren Existenz schlechthin notwendig sei, imgleichen anderer Seits, daß diese Welt dennoch mit einem notwendigen Wesen als ihrer Ursache (aber von anderer Art und nach einem andern Gesetze) verbunden sei; welcher zween Sätze Unverträglichkeit lediglich auf dem Mißverstande beruht, das, was bloß von Erscheinungen gilt, über Dinge an sich selbst, auszudehnen, und überhaupt beide in einem Begriffe zu vermengen.
[220]



§ 54

Dies ist nun die Aufstellung und Auflösung der ganzen Antinomie, darin sich die Vernunft bei der Anwendung ihrer Prinzipien auf die Sinnenwelt verwickelt findet, und wovon auch jene (die bloße Aufstellung) so gar allein schon ein beträchtliches Verdienst um die Kenntnis der menschlichen Vernunft sein würde, wenn gleich die Auflösung dieses Widerstreits den Leser, der hier einen natürlichen Schein zu bekämpfen hat, welcher ihm nur neuerlich als ein solcher vorgestellet worden, nachdem er ihn bisher immer vor wahr gehalten, hiedurch noch nicht völlig befriedigt werden sollte. Denn eine Folge hievon ist doch unausbleiblich, nämlich daß, weil es ganz unmöglich ist, aus diesem Widerstreit der Vernunft mit sich selbst herauszukommen, so lange man die Gegenstände der Sinnenwelt vor Sachen an sich selbst nimmt, und nicht vor das, was sie in der Tat sind, nämlich bloße Erscheinungen, der Leser dadurch genötigt werde, die Deduktion aller unsrer Erkenntnis a priori und die Prüfung derjenigen, die ich davon gegeben habe, nochmals vorzunehmen, um darüber zur Entscheidung zu kommen. Mehr verlange ich jetzt nicht; denn wenn er sich bei dieser Beschäftigung nur allererst tief gnug in die Natur der reinen Vernunft hinein gedacht hat, so werden die Begriffe, durch welche die Auflösung des Widerstreits der Vernunft allein möglich ist, ihm schon geläufig sein, ohne welchen Umstand ich selbst von dem aufmerksamsten Leser völligen Beifall nicht erwarten kann.

21

Ich wünsche daher, daß der kritische Leser sich mit dieser Antinomie hauptsächlich beschäftige, weil die Natur selbst sie aufgestellt zu haben scheint, um die Vernunft in ihren dreisten Anmaßungen stutzig zu machen, und zur Selbstprüfung zu nötigen. Jeden Beweis, den ich für die Thesis so wohl als Antithesis gegeben habe, mache ich mich anheischig zu verantworten, und dadurch die Gewißheit der unvermeidlichen Antinomie der Vernunft darzutun. Wenn der Leser nun durch diese seltsame Erscheinung dahin gebracht wird, zu der Prüfung der dabei zum Grunde liegenden Voraussetzung zurückzugehen, so wird er sich gezwungen fühlen, die erste Grundlage aller Erkenntnis der reinen Vernunft mit mir tiefer zu untersuchen.

22

Die Idee der Freiheit findet lediglich in dem Verhältnisse des Intellektuellen, als Ursache, zur Erscheinung, als Wirkung, statt. Daher können wir der Materie in Ansehung ihrer unaufhörlichen Handlung, dadurch sie ihren Raum erfüllt, nicht Freiheit beilegen, obschon diese Handlung aus innerem Prinzip geschieht. Eben so wenig können wir vor reine Verstandeswesen, z. B, Gott, so fern seine Handlung immanent ist, keinen Begriff von Freiheit angemessen finden. Denn seine Handlung, obzwar unabhängig von äußeren bestimmenden Ursachen, ist dennoch in seiner ewigen Vernunft, mithin der göttlichen Natur, bestimmt. Nur wenn durch eine Handlung etwas anfangen soll, mithin die Wirkung in der Zeitreihe, folglich der Sinnenwelt anzutreffen sein soll (z.B. Anfang der Welt), da erhebt sich die Frage, ob die Kausalität der Ursache selbst auch anfangen müsse, oder, ob die Ursache eine Wirkung anheben könne, ohne daß ihre Kausalität selbst anfängt. Im ersteren Falle ist der Begriff dieser Kausalität ein Begriff der Naturnotwendigkeit, im zweiten der Freiheit. Hieraus wird der Leser ersehen, daß, da ich Freiheit als das Vermögen, eine Begebenheit von selbst anzufangen, erklärete, ich genau den Begriff traf, der das Problem der Metaphysik ist.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 209-221.
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