2. Über Lieder, Musik und die Sitte

[114] Dsï Hia saß vor dem Meister Kung und sprach: »Im Buche der Lieder heißt es:


Ein freundlich mildgesinnter Fürst

Ist Vater, Mutter seinen Leuten5.


Darf ich fragen, wie ein Fürst sein muß, damit er seiner Leute Vater und Mutter genannt werden kann?«

Meister Kung sprach: »Der Vater seines Volkes muß notwendig zu der Quelle der Sitte und der Musik durchgedrungen sein, damit er die fünf höchsten Dinge herbeiführen und die drei unnötigen Dinge vermeiden kann, damit sein Einfluß sich über die ganze Welt erstreckt. Wenn irgendwo ein Unheil droht, so fühlt er es selber zuerst: Ein solcher Mann ist der wahre Vater seines Volkes.«

Dsï Hia sprach: »Darf ich fragen, was die fünf höchsten Dinge sind?«

Meister Kung sprach: »Das höchste Ideal des Willens ist auch zugleich das höchste Ideal der Poesie; das höchste Ideal der Poesie ist auch zugleich das höchste Ideal der Sitte; das höchste Ideal der Sitte ist auch zugleich das höchste Ideal der Musik; das höchste Ideal der Musik ist auch zugleich das höchste Ideal des Schmerzes. Poesie und Sitte ergänzen einander, Freude6 und Schmerz erzeugen einander. Dies kann, auch wenn man mit klaren Augen danach späht, nicht erblickt werden; auch wenn man mit[114] zugewandtem Ohre lauscht, nicht gehört werden. Und doch durchdringt die Kraft des Willens Himmel und Erde und erfüllt bei ihrer Äußerung die ganze Welt; das sind die fünf höchsten Dinge.«

Dsï Hia sprach: »Darf ich fragen, was die drei unnötigen Dinge sind?«

Meister Kung sprach: »Es ist die Musik ohne Töne, die Sitte ohne äußere Gestalt, die Trauer ohne Gewand; das sind die drei unnötigen Dinge.«

Dsï Hia sprach: »Darf ich fragen, welche Liederstellen passen darauf?«

Meister Kung sprach:


»Hat Tag und Nacht das Amt begründet, tief und still7.


Das ist die Musik ohne Töne.


Stets übt ich Ehrbarkeit und Zucht,

Nichts, dem man Tadel zollen kann8.


Das ist die Sitte ohne äußere Gestalt.


Traf irgendwen ein Trauerfall,

Ich kroch hinzu, um ihm zu helfen9.


Das ist Trauer ohne Gewand.«

Dsï Hia sprach: »Diese Worte sind schön und groß, ist nun damit alles erschöpft?«

Meister Kung sprach: »Weit entfernt. Ich sage dir, die Ausübung dieser Pflichten kennt noch fünf Stücke.«

Dsï Hia sprach: »Wieso?«

Meister Kung sprach: »Die Musik ohne Töne bewirkt, daß die Kraft des Willens nirgends auf Widerstand stößt; die Sitte ohne äußere Gestalt bewirkt, daß das ganze Benehmen eine selbstverständliche Leichtigkeit bekommt; die Trauer ohne Gewänder ist innerliches Mitleid von großer Innigkeit. Die Musik ohne Töne bewirkt bei anderen, daß sie unserem Willen folgen; die Sitte ohne äußere Gestalt bewirkt, daß[115] Vorgesetzte und Untergebene in einträchtiger Übereinstimmung leben; die Trauer ohne Gewänder vermag sich auf alle Menschen zu erstrecken. Wenn das erreicht ist, dann muß man es noch den drei Dingen ohne Vorliebe nachtun, um der Welt seine Mühen zugute kommen zu lassen. Dies sind die fünf Stücke bei der Ausübung.«

Dsï Hia sprach: »Was ist das, die drei Dinge ohne Vorliebe?«

Meister Kung sprach: »Der Himmel beschirmt ohne Vorliebe alle Wesen, die Erde trägt sie alle ohne Vorliebe, Sonne und Mond scheinen auf alle ohne Vorliebe. Es ist, wie es im Buch der Lieder heißt:


Der Wille Gottes, unabänderlich,

Berief den Tang, der seiner wert.

Tang kam zur rechten Zeit zur Erde,

Und täglich mehrt sich seine Heiligkeit,

Sein Licht strahlt sieghaft, selbstverständlich,

Und Gott erkannte selbst ihn an,

Der Wille Gottes gab ihm die neun Länder10.


Also war die Geistesart des Tang.«

Dsï Hia stand unvermittelt auf, blieb aufrecht an der Wand stehen und sprach: »Darf ich mir das nicht aufschreiben?«

5

Schï Ging 251; Strauß S. 423.

6

Das chinesische Wort für Musik und Freude ist dasselbe.

7

Schï Ging 271; Strauß S. 472.

8

Schï Ging 26, 3; Strauß S. 93.

9

Schï Ging 35, 4; Strauß S. 105.

10

Schï Ging 304, 3; Strauß S. 515.

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 114-116.
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