6. Kapitel
Arbeit an sich selbst / Schen Yän

[194] Daß einem großer Erfolg und Ruhm beschieden wird, ist Schicksal. Wollte man aber aus diesem Grunde auf das, was man als Mensch zu tun hat, nicht achten, so wäre das nicht recht54. Daß Schun dem Yau begegnete, war Schicksal. Daß er aber am Lischan pflügte, am Ufer des Gelben Flusses Tongefäße formte, im Donnersee fischte, daß alle Welt an ihm seine Freude hatte und die besten Männer ihm zufielen, das war seine Leistung als Mensch.

Daß Yü dem Schun begegnete, war Schicksal. Daß er aber die ganze Welt durchzog, um tüchtige Leute zu finden, daß er dem allgemeinen Besten seine Dienste weihte, daß er die sämtlichen Wasserläufe, die Untiefen hatten oder verstopft waren, so weit sie sich regulieren ließen, in Ordnung brachte, das war seine Leistung als Mensch.

Daß Tang einem Giä, Wu einem Dschou Sin begegnete, war Schicksal. Daß aber Tang und Wu sich persönlich bildeten, gute Handlungen anhäuften, Gerechtigkeit übten, und ihre Mühe und Arbeit dem Volke weihten, waren ihre Leistungen als Menschen.

Als Schun pflügte und fischte, war er in seinen Vorzügen und Schwächen gerade so wie später als Großkönig. Nur daß die Zeit noch nicht erfüllt war, war der Grund, daß er mit seinen Gesellen die Erde umgraben mußte und die Schätze des Wassers sich aneignen, daß er Schilf und Rohr flocht und Netze und Reusen knüpfte,[194] daß er an Händen und Füßen unaufhörlich mit Schwielen bedeckt war und nur auf diese Weise dem Übel des Hungers und der Kälte vorbeugen konnte. Als dann seine Zeit erfüllt war, da bestieg er den Thron des Großkönigs, die tüchtigen Staatsmänner fielen ihm zu, alle Menschen rühmten ihn, Männer und Frauen kamen jubelnd und freuten sich seiner. Schun selbst machte ein Lied, das hieß:


Alles unter dem Himmel

Ist des Königs Land,

Alle die darauf wohnen,

Sind des Königs Knechte55.


Daraus sieht man, daß er alles besaß. Aber als er alles hatte, war er darum nicht tüchtiger. Als er nichts hatte, war er darum nicht weniger weise. Die Zeit war an allem Schuld.

Ehe Bai Li Hi die rechte Zeit getroffen, da mußte er aus Go56 fliehen und war in Dsin gefangen. Er fütterte Rinder in Tsin, wohin er um fünf Schaffelle verkauft worden war. Gung Sun Dschï fand ihn und war erfreut darüber. Er stellte ihn dem Herzog Mu vor und nach drei Tagen bat er, ihn mit der Leitung des Staates zu betrauen.

Herzog Mu sprach: »Wenn wir einen, den wir für fünf Schaffelle gekauft haben, mit der Leitung des Staates betrauen, werden wir uns da nicht dem Gelächter der Welt aussetzen?«

Gung Sun Dschï sprach: »Wenn einer wirklich tüchtig ist, so ist es ein Zeichen von Scharfblick, wenn ihn der Fürst anstellt. Einem tüchtigen Mann den Vorrang zu lassen, ist ein Zeichen von Treue des Beamten. Wenn Eure Hoheit ein scharfblickender Fürst ist und ich ein treuer Beamter und jener wirklich tüchtig, so werden unsere eigenen Untertanen und die feindlichen Staaten in Furcht geraten. Wer hätte da noch Muße zu lachen?«

Darauf stellte ihn der Herzog an. Seine Ratschläge trafen alle das Rechte, und was er anfing, hatte Erfolg. Aber darum war er nicht tüchtiger als zuvor. Wenn Bai Li Hi trotz seiner Tüchtigkeit keinen Herzog Mu gefunden hätte, so hätte er sicher nicht diesen Ruhm erlangt. Wer weiß, ob nicht heutzutage auch irgendwo ein[195] Bai Li Hi lebt? Darum muß ein Fürst, der Staatsmänner sucht, umfassende Nachforschungen anstellen.

Als Kung Dsï in Not kam zwischen Tschen und Tsi57, hat er sieben Tage keine Suppe mehr gegessen. Infolge des Nahrungsmangels war Dsai Yü erschöpft. Kung Dsï spielte und sang in seinem Zimmer, Yän Hui suchte vor dem Hause Gemüse. Dsï Lu und Dsï Gung sprachen untereinander: »Unser Meister wurde vertrieben aus Lu, er mußte den Staub von seinen Füßen schütteln in We, ein Baum wurde hinter ihm gefällt in Sung, und er kam in Not zwischen Tschen und Tsai, wer ihn tötet wird nicht bestraft, wer ihn beschimpft wird nicht verhindert. Und dabei spielt, singt und tanzt er noch unaufhörlich. Hat wohl ein Edler so wenig Schamgefühl?« Yän Hui wußte nicht, was er erwidern sollte, er ging hinein und sagte es Meister Kung. Meister Kung legte stirnrunzelnd die Zither weg und sagte seufzend: »Yu und Sï58 sind unverständige Menschen! Rufe sie, ich will mit ihnen reden.« Dsï Lu und Dsï Gung traten ein. Dsï Gung sprach: »Eine solche Lage ist doch wirklich ein Mißerfolg.« Meister Kung sprach: »Was ist das für eine Rede! Der Edle nennt das Erfolg, wenn er erfolgreich die Wahrheit sucht, und nennt das Mißerfolg, wenn er der Wahrheit gegenüber Mißerfolg hat. Nun habe ich die Lehre der Liebe und Pflicht in der Hand und bin damit in ein von Unglück verwirrtes Zeitalter gekommen. Das ist etwas ganz Gewöhnliches. Warum sollte man da über Mißerfolg klagen! Darum, wer sich innerlich prüft und keinen Fehler der Wahrheit gegenüber hat, wer in schwierigen Verhältnissen nicht seine Tugend preisgibt, wie sollte man den des Mißerfolges beschuldigen59! Wenn die große Kälte kommt, wenn Reif und Schnee fällt, dann erkennen wir erst recht, daß die Kiefern und Zypressen immergrün sind60. Die Erfolge des Fürsten Huan von Tsi beruhen auf dem, was er in Gü zu leiden hatte, die des Herzogs Wen von Dsin auf seiner Not in Tsau, die des Königs von Yüo61 auf seiner Not auf dem Kuai Gi-Berg. Wer weiß ob diese Not zwischen Tschen und Tsai nicht mein Glück ist?« Darauf nahm er eifrig seine Laute wieder auf und spielte. Dsï Lu nahm entschlossen den Schild und tanzte dazu. Dsï Gung sprach aber:[196] »O, ich habe bisher noch nicht die ganze Höhe des Himmels, die ganze Tiefe der Erde gekannt. Die Alten, wenn sie die Wahrheit gefunden, waren fröhlich, einerlei ob sie Erfolg oder Mißerfolg hatten. Denn wer die Wahrheit hat, für den ist Erfolg und Mißerfolg dasselbe. Sie folgen einander wie Hitze und Kälte, Regen und Wind. So hat Hü Yu sich ergötzt im Norden des Ying-Flusses, und der Graf von Gung62 am Gung Schou-Berg sein Ziel erreicht.«

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 194-197.
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