38. Über das Leben[43] 1

Das hohe LEBEN sucht nicht sein LEBEN,

also hat es LEBEN.

Das niedere LEBEN sucht sein LEBEN nicht zu verlieren,

also hat es kein LEBEN.

Das hohe LEBEN ist ohne Handeln und ohne Absicht,

Das niedere LEBEN handelt und hat Absichten:

Die Liebe handelt und hat nicht Absichten.

Die Gerechtigkeit handelt und hat Absichten.

Die Moral handelt, und wenn man ihr entgegenkommt –

so fuchtelt sie mit den Armen und zieht einen herbei.

Darum: Ist der SINN abhanden, dann das LEBEN.

Ist das LEBEN abhanden, dann die Liebe.

Ist die Liebe abhanden, dann die Gerechtigkeit.

Ist die Gerechtigkeit abhanden, dann die Moral.

Diese Moral ist Treu und Glaubens Dürftigkeit

und der Verwirrung Beginn.

Vorbedacht ist des SINNES Schein

und der Torheit Anfang.

Also auch der rechte Mann:

Er weilt beim Völligen und nicht beim Dürftigen.

Er bleibt beim Sein und nicht beim Schein.

Darum tut er ab das Ferne und hält sich ans Nahe.


Erklärung

1 Das »hohe LEBEN« ist dasjenige, das durch seine Einheit mit dem SINN Leben in sich selber hat, nicht wie das »niedere LEBEN« nur abgeleiteter Weise. Vgl. dazu Joh. 5, 26: »Wie der Vater das Leben hat in ihm selber, also hat er dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in ihm selber« und zu dem »niederen LEBEN« Marc. 8, 35: »Wer sein Leben will behalten, der wird es verlieren.«

Die Stufenleiter des Handelns macht einige Schwierigkeiten, weil dieselbe Stufe (»handeln und Absichten haben«) zweimal vorkommt: beim niedern LEBEN und bei der Gerechtigkeit. Man beseitigt die Schwierigkeit am besten, wenn man das »niedere LEBEN« als zusammenfassenden Ausdruck für Liebe (Sittlichkeit), Gerechtigkeit und Moral (Riten) auffaßt. Das »Handeln und Absichten haben« wäre danach der Durchschnitt jener drei, über den die Liebe noch etwas hervorragt, während die Moral ihn noch nicht einmal erreicht.

Die Liebe handelt und hat nicht Absichten, d.h. sucht nicht das Ihre. Entsprechend die andern Stufen.

Bei Liebe, Gerechtigkeit, Moral haben wir den Zusatz »die hohe«, der im Chinesischen dasteht, weggelassen, weil ja bei diesen gar kein Gegensatz zwischen hoch und nieder mehr erwähnt ist. Sehr drastisch ist die Schilderung des »moralischen« Benehmens, das durch seine »Anstandsregeln« unerträglich knechten kann.

Der nächste Passus »Ist der SINN abhanden, dann das LEBEN« usw. ist im Urtext ebenso zweideutig wie in der Übersetzung. Entweder kann es bedeuten: Geht der SINN verloren, dann gibt es LEBEN usw. nach Analogie von No. 18. Aber diese Auffassung gibt gerade in dem ersten Glied keinen befriedigenden Sinn. Daher ist es wohl eher so zu nehmen: »Geht der SINN verloren, dann geht mit ihm zugleich auch das LEBEN verloren« usw.

Das Ganze steht im schroffsten Gegensatz zum Konfuzianismus, dessen höchste Begriffe: Liebe, Gerechtigkeit, Moral (Anstand) hier in ihrem Wert verneint sind. Der Glaube, die vierte jener konfuzianischen Kardinaltugenden, wird zwar anerkannt, aber als mit dem Anstand unvereinbar bezeichnet, während die fünfte, das Wissen (hier Vorbedacht), als des SINNES Schein bezeichnet wird. Der »rechte Mann«, obwohl im Ausdruck verschieden, dennoch sachlich identisch mit dem »Berufenen«.

Die letzte Zeile findet sich an mehreren Stellen wiederholt.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 43.