39. Die Wurzel des Gesetzes[43] 1

Die im Anfang das Eine erlangten:


Der Himmel erlangte das Eine und ist rein.

Die Erde erlangte das Eine und ist fest.

Die Geister erlangten das Eine und sind wirkend.

Die Tiefe erlangte das Eine und erfüllt sich.

(Alle Geschöpfe erlangten das Eine und leben.)

Die Herrscher erlangten das Eine und sind das Richtmaß der Welt.

In diesen allen wirkt das Eine.

Wäre der Himmel nicht rein dadurch, so müßte er bersten.

Wäre die Erde nicht fest dadurch, so müßte sie wanken.

Wären die Geister nicht wirkend dadurch, so müßten sie erstarren.

Wäre die Tiefe nicht erfüllt dadurch, so müßte sie sich erschöpfen.

(Wären die Geschöpfe nicht lebendig dadurch, so müßten sie erlöschen.)

Wären die Herrscher nicht erhaben dadurch, so müßten sie stürzen.

Darum: Das Edle hat das Geringe zur Wurzel.

Das Hohe hat das Niedrige zur Grundlage.

Also auch die Fürsten und Könige:

Sie nennen sich: »Einsam«, »Verwaist«, »Wenigkeit«.

Dadurch bezeichnen sie das Geringe als ihre Wurzel.

Oder ist es nicht so?

Denn: Ohne die einzelnen Bestandteile eines Wagens

gibt es keinen Wagen.

Wünsche nicht das glänzende Gleißen des Juwels

sondern die rohe Rauheit des Steins.


Erklärung

1 Das Eine ist eben der SINN.

Die Zusammenstellung der »Geister« und der »Tiefe« (der »Materie«) erinnert an Abschnitt 6.

Der Passus über die Geschöpfe im allgemeinen fehlt in manchen Ausgaben. Zu dem Ausspruch über die Herrscher vgl. No. 22. Der Ausdruck, der mit »Richtmaß« übersetzt ist, schwankt in den verschiedenen Ausgaben. Statt »Richtmaß« steht auch »Reinheit, Keuschheit«.

Statt »wären die Herrscher nicht erhaben dadurch« haben andere Ausgaben die Wiederholung des Ausdrucks »Richtmaß«.

Die Ausdrücke Einsam, Verwaist, Wenigkeit sind offizielle Selbstbezeichnungen der Herrscher gegenüber vom Himmel. Die Stelle kehrt wieder in No. 42, kann daher hier u.E. gestrichen werden. Das Bild von dem Wagen, dessen Text ebenfalls recht unsicher ist, so daß sogar Komm. II Korruption des Textes annimmt, ist wohl so zu deuten, daß, wie der Wagen nicht ohne seine einzelnen Teile bestehen kann, so auch der Fürst nicht ohne die Untertanen. Die umgekehrte Auffassung, daß der Begriff »Wagen« noch mehr sei als seine Bestandteile, erinnert sehr stark an buddhistische Anschauungen, die dem Einzelmenschen das Atman, das »Ich«, abstreiten.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 43-44.