27. Weisheit im Üben[28] 1

Guter Wandrer läßt keine Spur zurück.

Guter Sprecher gibt sich keine Blöße.

Guter Rechner braucht keine Rechenstäbchen.

Guter Schließer schließt nicht mit Schloß und Riegel,

und doch kann niemand auftun.

Guter Binder bindet nicht mit Band und Strick,

und doch kann niemand lösen.

Also auch der Berufene:

Er ist allzeit ein guter Retter der Menschen,

darum gibt es keine verworfenen Menschen.

Er ist allzeit ein guter Retter der Geschöpfe,

darum gibt es keine verworfenen Geschöpfe.

Das ist seine zweifache Erleuchtung.

Er macht die guten Menschen zu Lehrern der Nichtguten,

und macht die nichtguten Menschen zum Stoff für die Guten.

Wer nicht ehren wollte seine Lehrer

und nicht lieben wollte seinen Stoff,

der wäre trotz aller Erkenntnis in großer Verblendung.

Das ist das wichtigste Geheimnis.


Erklärung

1 Auch dieser Abschnitt beginnt mit einer Reihe sprichwörtlicher Reime.

Die ersten 4 Zeilen der Anwendung, die heute in allen Ausgaben stehen, finden sich nach einer Bemerkung eines Herausgebers des Wang Bi'schen Kommentars nur bei Ho Shang Gung, während sie in den alten Ausgaben gefehlt hätten.

Der Ausdruck »zweifache Erleuchtung« kann auch übersetzt werden »innere Erleuchtung«; er würde wohl in moderner Sprache am besten übersetzt mit »Reflexion«.

Zu den Sätzen über die guten Menschen als Lehrer der Nichtguten und die Nichtguten als Stoff (soviel wie Schülermaterial) der Guten vgl. Kungfutse, Gespräche Buch II, 20 (pag. 15).

Die Hochschätzung der Lehrer und die Liebe zum Schülermaterial wird von manchen als gegenseitige Pflicht aufgefaßt. Das gibt jedoch keinen guten Sinn. Es ist besser, anzunehmen, daß der Berufene alle seine Leute liebt, sowohl die, die er zu Lehrern gesetzt hat, als auch die, die er ihnen als Material der Beeinflussung anvertraut hat. Nur so ergeben die Schlußbemerkungen einen zusammenhängenden Sinn.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 28-29.