[61] 13. Der Zauberer und der Weise

Es war einmal ein göttlicher Zauberer, der kam von Tsi und ließ sich in Dscheng nieder. Sein Name hieß: Gi Hiän. Er wußte Tod und Leben, Sein und Nichtsein, Glück und Unglück, langes und kurzes Leben auf Jahr, Monat, Woche und Tag hinaus genau zu bestimmen wie ein Gott. Wenn die Leute von Dscheng seiner ansichtig wurden, so gingen sie ihm alle aus dem Wege.

Liä Dsï besuchte ihn, und sein Herz ward betört. Er kehrte zurück, um es dem Meister Hu Kiu anzusagen und sprach: »Anfangs hielt ich des Meisters Sinn und Lehre für vollkommen, nun aber gibt es eine, die doch wohl noch vollkommener ist.« Meister Hu sprach: »Ich kam mit dir nur bis zum Buchstaben, nicht bis zum Wesen selbst, und nun hast du wirklich den geheimen SINN erlangt? Was für Eier legen denn die Hennen ohne Hahn? Daß du über den geheimen SINN mit der Welt streitest, zeigt deine Arglosigkeit, darum hat der Mensch dich in die Hand bekommen und aus deinen Mienen gelesen. Versuche es einmal, ihn mit hierher zu bringen, damit ich es ihm zeige.«

Andern Tags kam Liä Dsï mit ihm vor den Meister Hu. Beim Hinausgehen sprach er zu Liä Dsï: »Wehe, dein Lehrer wird sterben und nicht am Leben bleiben, er kann es höchstens noch eine Woche lang treiben. Ich habe Wunderliches gesehen, ich habe feuchte Asche gesehen.«

Liä Dsï ging wieder hinein und weinte bitterlich, also daß[61] die Tränen seine Kleider feuchteten, und sagte es dem Meister Hu. Meister Hu sprach: »Ich habe ihm soeben im Geiste die äußere Form der Erde gezeigt, wenn die Keime sich noch nicht regen und noch nicht da sind. So sah er wohl die Wirkung meiner Lebenskraft in verhaltenem Zustand. Komm noch einmal mit ihm.«

Tags darauf kam er wieder mit ihm vor den Meister Hu. Beim Hinausgehen sprach er zu Liä Dsï: »Zum Glück hat dein Lehrer mich getroffen. Er ist geheilt. Er hat völliges Leben. Ich sah eine gleichstehende Waage.«

Liä Dsï ging hinein und sagte es dem Meister Hu. Meister Hu sprach: »Ich habe ihm soeben im Geiste den vom Himmel befruchteten Boden gezeigt. Ohne daß von außen her ein Begriff oder etwas Wirkliches in ihn eingeht, regte sich zu meinen Füßen der Kreislauf des Lebens. Das war die gleichstehende Waage. So sah er mich wohl im Zustand meiner Güte. Komm noch einmal mit ihm.«

Tags darauf kam er wieder mit ihm vor den Meister. Beim Hinausgehen sagte er zu Liä Dsï: »Dein Lehrer ist nicht gesammelt, darum kann ich nicht in seinen Mienen lesen. Er soll versuchen sich zu sammeln, dann will ich wieder seine Mienen deuten.«

Liä Dsï ging hinein und sagte es dem Meister Hu. Meister Hu sagte: »Eben zeigte ich ihm im Geiste die große unergründliche Tiefe. So hat er wohl etwas von den Wirkungen meiner Beharrungskraft verspürt. Aber komm wieder mit ihm.«

Tags darauf kam er wieder mit ihm vor den Meister. Aber noch ehe er sich richtig hingestellt hatte, verlor er die Fassung und lief weg. Meister Hu sprach: »Lauf ihm nach!« Liä Dsï lief ihm nach, holte ihn aber nicht ein. Er kam zurück, meldete es dem Meister Hu und sprach: »Er ist verschwunden, er hat sich verloren, ich konnte seiner nicht habhaft werden.«

Meister Hu sprach: »Eben habe ich ihm im Geiste gezeigt, wie vor aller Dinge Anfang mein Vater (der SINN) hervortrat. Ich bot ihm das Wesenlose und war unpersönlich. Er[62] wußte nicht, was er daraus machen sollte. Es war ihm wie stürmender Wirbel, es war ihm wie fließende Wogen, darum lief er weg.«

Danach meinte Liä Dsï, daß er noch nicht die ersten Anfänge gelernt habe. Er ging heim und kam drei Jahre lang nicht wieder hervor. Er kochte für sein Weib und brachte den Schweinen das Futter, gleich als ob es Menschen wären. Um andere Geschäfte kümmerte er sich nicht. Allerhand Schmuck und Zier schaffte er ab. Nur die einfache Form ließ er bestehen. Alles Zerstreuende beseitigte er. Und das Eine dadurch erlangte er.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 61-63.
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