[111] 12. Die Macht der Töne II.

Gesang

Süo Tan lernte den Gesang bei Tsin Tsing. Noch ehe er dessen Kunst erschöpft, hielt er dafür, daß er fertig sei; so nahm er Abschied und wollte heimkehren. Tsin Tsing hielt ihn nicht zurück. Beim Abschiedsmahl am Scheideweg schlug er den Takt und sang eine Elegie. Von deren Klang erzitterten die Bäume des Waldes, und von dem Echo wurden die ziehenden Wolken aufgehalten. Süo Tan bat da um Verzeihung und flehte wieder zurück zu dürfen. Sein Leben lang wagte er nicht mehr von Heimkehr zu reden.

Tsin Tsing wandte sich an seinen Freund und sprach: »Vor alters lebte in Han ein Mädchen namens Wo. Die kam einst nach Osten bis Tsi. Da mangelte es ihr an Brot. Sie kam durch Yung Men und sang für Geld, um Nahrung zu bekommen. Nachdem sie weg war, umgab der Nachklang noch die[111] Dachbalken drei Tage lang, ohne zu verklingen, so daß die Anwesenden dachten, sie sei noch nicht gegangen.

Sie kam an einer Straßenherberge vorbei. Die Leute der Herberge beschimpften sie. Da erhob sie ihre Stimme, klagte und weinte, daß meilenweit die Alten und die Jungen vor Wehmut Tränen vergossen und sich ansahen und drei Tage lang nicht essen konnten. Dann liefen sie ihr nach und holten sie ein. Da erhob sie abermals die Stimme und sang ein Lied, daß meilenweit die Alten und die Jungen vor Freude hüpften und sprangen, ohne sich halten zu können. Und sie vergaßen ihre frühere Trauer und entließen sie reich beschenkt.

Darum sind die Leute von Yung Men noch bis auf den heutigen Tag geschickt im Singen und Klagen; denn sie ahmen die Nachklänge Wo's nach.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 111-112.
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