Vererbungsfragen

[165] Wenn sich der Same nun mischt und das Weib durch die Stärke der Inbrunst

Überwältigt die männliche Kraft und im Schöße sie aufnimmt,

Gleichen der Mutter sodann die Sprossen vom Samen der Mutter,

Wie sie dem Vater gleichen, wenn er siegt. Zeigen sich beider

Formen und Züge der Eltern vereint und vermischt in den Kindern,

Dann erwachsen sie so aus Vater- und Muttergeblüte,

Wenn sich vom Stachel der Liebe gereizt in den Gliedern ihr Samen

Trifft und zusammenschlagen die gegenseitigen Flammen,

Ohne daß einer von beiden hier Sieger sei oder Besiegter.

Auch kommt's häufiger vor, daß die Kinder den Eltern der Eltern

Gleichen und oft an die Ahnen in ihrer Gestaltung erinnern.

Dies kommt daher, daß häufig die Eltern im Körper verborgen

Mit sich führen so viele und vielfach gemischte Atome,

Welche vom Urstamm her die Väter den Vätern vererben.

Draus bringt Venus hervor gar mannigfach wechselnde Formen,

Und nun bildet sie neu Haar, Stimme und Züge der Ahnen.

Denn auch dies nicht minder als Antlitz, Körper und Glieder

Muß bei uns allen entstehn aus bestimmtem Samen der Sippe.

Und wie aus Vaters Samen ein weiblich Geschlecht sich entwickelt,

Also gehen auch Knaben hervor aus dem weiblichen Stoffe,

Denn aus dem doppelten Samen muß jede Geburt sich entwickeln.

Und wenn mit einem von beiden das Kind mehr Ähnlichkeit aufweist,

Dann hat es ungleich mehr von diesem, wie deutlich zu sehn ist,

Mag es nun männlichen Sproß, mag weiblich Geschlecht es betreffen.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 165.
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