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[51] Früh, wenn's Dir Leid thut schon aufgewacht zu sein, sage Dir gleich, Du seist erwacht Dich menschlich[51] zu bethätigen. Um der Thätigkeit willen bist Du geboren und in die Welt gekommen, und Du wolltest verdriesslich sein, dass Du an's Werk gehen musst? Oder bist Du bereitet worden, in den Federn liegend Dich zu pflegen? Freilich ist dies angenehmer; aber bist Du um des Vergnügens willen da, nicht vielmehr um Etwas zu schaffen und Dich anzustrengen? Siehe alle Kreaturen, die Sperlinge, die Ameisen, die Spinnen, die Bienen, wie jedes sein Werk vollbringt und jedes in seiner Weise an der Aufgabe des Universums arbeitet! Und Du wolltest das Deinige nicht thun? nicht laufen den Weg, den die menschliche Natur Dir vorschreibt? – Man muss doch auch ausruhen, sagst Du. Freilich muss man. Nur in dem Masse eben, das die Natur Dir selbst an die Hand giebt, ebenso wie für das Essen und Trinken. Darin aber willst Du die Grenze überschreiten und Mehr thun als nöthig ist, nur in der Thätigkeit dahinten bleiben? Da sieht man, dass Du Dich selbst nicht lieb hast, sonst würdest Du die menschliche Natur und deren Willen lieb haben. Andere, die mit Liebe die Kunst betreiben, die sie gelernt haben, sind oft so versessen darauf, dass sie darüber vergessen sich zu waschen oder zu frühstücken. Du aber ehrst die Menschheit in Dir nicht einmal so hoch wie jene ihre Kunst, wie der Drechsler seine Drechselei, der Tänzer seine Sprünge, der Geizhals sein Geld, der Ehrgeizige seinen Ruhm. Denn sobald solche Leute ihrem Beruf mit Eifer hingegeben sind, liegt ihnen am Essen und Schlafen weit weniger, als daran, dass sie's weiter bringen[52] in dem, was ihres Amtes ist. Und Du bist im Stande, das für Andere Thätigsein niedriger zu stellen und eines solchen Eifers nicht für werth zu halten?
Es ist wahrlich nicht so schwer, jeden beunruhigenden und unziemlichen Gedanken, der sich aufdrängt, wieder loszuwerden und hinwegzutilgen, so dass die vollkommene Stille und Heiterkeit des Gemüths gleich wieder hergestellt ist.
Erkenne, dass Du jeder echt menschlichen Aeusserung in Wort und Werk würdig bist, und lass Dich von keinem Tadel oder Stichelrede, die Andere Dir nachsenden, beschwatzen. Was edel ist zu sagen und zu thun, dessen bist Du niemals unwürdig. Jene haben ihre eigenen Grundsätze, denen sie folgen, und ihren eigenen Sinn. Darauf darfst Du keine Rücksicht nehmen, sondern musst den geraden Weg gehen, den Deine und die allgemein menschliche Natur Dir vorschreibt. Und es ist in der That nur ein Weg, den diese beiden Dir weisen.
So lass uns durch's Leben gehen, bis wir verfallen und uns zur Ruhe begeben, den Geist dahin aushauchend, von wo wir ihn tagtäglich eingesogen, dahin zurücksinkend, woher der Keim zu unserm Dasein stammt, woher wir durch so viele Jahre Speise und Trank nahmen,[53] was uns durch's Leben trug und wovon wir oft genug einen schlechten Gebrauch gemacht haben.
Dein Scharfsinn ist es nicht, weswegen man Dich bewundern muss. Aber gesetzt auch, er könnte Dir nicht abgesprochen werden, so wirst Du doch gestehen müssen, dass vieles Andere mehr in Deiner Natur liegt. Und dies ist es nun, was Du vor Allem pflegen und kundgeben musst, z.B. Deine Lauterkeit und Deinen Ernst, Deine Standhaftigkeit und Deine Abneigung gegen sinnlichen Genuss, Deine Zufriedenheit mit Deinem Schicksal, Deine Mässigkeit, Güte, Freisinnigkeit, Einfachheit, Dein gesetztes würdevolles Wesen. Und fühlst Du nicht, was Du Alles hättest sein können? was Deine Natur und angeborenes Geschick so wohl zugelassen hätten, und bist es dennoch schuldig geblichen? Oder war es die Mangelhaftigkeit Deiner Naturanlage, was Dich zwang, mürrisch zu sein und knickerig und ein Schmeichler, ein Feind oder Sklave Deines eigenen Leibes, ein eitler und ehrgeiziger Mensch? Wahrlich, nein. Du könntest laugst von diesen Fehlern frei sein. Ist es aber wahr, dass Du von Natur etwas schwerfällig bist und langsam von Begriffen, so gilt es auch darin sich anzustrengen und zu üben, nicht, diese Schwäche unberücksichtigt zu lassen oder gar sich darin zu gefallen.
Es giebt Menschen, die, wenn sie Jemand einen Gefallen gethan haben, dies gleich als eine Gunstbezeugung[54] angesehen wissen wollen; ferner solche, die wenn sie auch nicht gerade solche Ansprüche erheben, doch sehr genau wissen wollen, was sie gethan haben, und den, dem sie wohl gethan, bei sich selbst wenigstens als ihren Schuldner betrachten; endlich solche, die gewissermassen nicht wissen, was sie thaten – dem Weinstock gleich, der seine Trauben trägt und Nichts weiter will, nachdem er die ihm eigenthümliche Frucht einmal hervorgebracht hat. Das Pferd, das seinen Weg gelaufen ist, der Hund, der das Wild erjagt, und die Biene, die ihren Honig bereitet hat, erhebt kein Geschrei, ruft Niemand zu: seht, das hab' ich gethan, sondern geht gleich zu etwas Anderem über, wie der Baum wieder neue Früchte ansetzt zu seiner Zeit. Und so soll's auch beim Menschen sein, wenn er ein gutes Werk vollbracht hat. – Also wirklich, zu denen soll man gehören, die, was sie thun, gleichsam auf unbegreifliche Weise thun? Ja; aber dass wir zu ihnen gehören, soll man begreifen! Du sagst: ein Wesen, das zur Gemeinschaft geboren ist, müsse doch wissen, wenn es seiner Bestimmung gemäss, d. i. wenn es für Andere handelt, und wahrlich doch auch wollen, dass dies der Andere merke. Wohl wahr, aber Du machst davon nicht die richtige Anwendung, und darum bist Du nun einmal Einer von denen, die ich eben beschrieben habe, denn auch bei jenen ist es der Schein von Wahrheit, der sie irre leitet. Jedenfalls aber würdest Du mich missverstehen, wenn Du aus irgend einem Grunde es unterlassen wolltest, Etwas zum Wohle Anderer zu thun.
[55] Die Athener beteten: »regne, regne, lieber Zeus, auf die Aecker und Wiesen der Athener!« Und man bete entweder gar nicht oder nur in dieser Weise, einfältig und geradezu!
Gerade, wie man sagt, dass Aeskulap dem Einen das Reiten, dem Andern kalte Bäder, dem Dritten barfuss zu gehen verordnete, ebenso muss man auch sagen, dass die Natur bald Krankheit, bald Verletzung, bald schmerzliche Verluste zu verordnen pflegt. Dort wendet man den Ausdruck an, um zu bezeichnen, dass er den Menschen jene Mittel als der Gesundheit entsprechend gegeben habe, und hier gilt es ja auch, dass alles das, was Einem widerfährt, ihm als dem allgemeinen Schicksal entsprechend gegeben wird. Ebenso brauchen wir von unsern Schicksalen den Ausdruck »sich fügen«, wie ihn die Baumeister brauchen von den Quadern, die bei Mauer- oder Pyramidenbauten sich schönstens zusammenordnen. Denn durch Alles geht eine grosse Harmonie, und wie im Reiche der Natur die Natur eines Einzelwesens nicht begriffen werden kann ausser im Zusammenhange aller andern Einzelwesen, so auch auf dem Gebiete des Geschehens kein einzelner Umstand und Grund abgesehen von allen übrigen: was denn auch der Sinn jener vulgären Ausdrucksweise ist, wenn man sagt; es »trug sich zu«, oder,[56] es war ihm »beschieden«. Lasset uns also dergleichen hinnehmen, gleichwie jene nahmen, was Aeskulap ihnen verordnet; denn auch davon war Manches bitter und wurde süss nur durch die Hoffnung auf Genesung. Dieselbe Bedeutung aber, welche für Dich Deine Gesundheit hat, muss auch die Erfüllung und Vollendung dessen für Dich haben, was im Sinne des Universums liegt, und Du musst Alles, was geschieht, und wäre es auch noch so wenig freundlich, willkommen heissen, weil seine Tendenz ja nichts Anderes ist als die Gesundheit der Welt, das Glück und Wohlbefinden des höchsten Gottes. Hätte es sich doch gar nicht zugetragen, wenn es nicht für das Ganze zuträglich gewesen wäre; hätte es doch kein Zufall so gefügt, fügte es sich nicht harmonisch in die Verwaltung aller Dinge. Also zwei Gründe sind, weshalb Dir Dein Schicksal gefallen muss. Der eine; weil es Dein Schicksal ist, weil es Dir verordnet ward mit Rücksicht auf Dich – von Oben her in ursächlicher Verkettung mit dem ersten Grunde. Der andere: weil es der Grund des vollkommenen Glückes, ja fürwahr auch des Bestehens dessen ist, der Alles regiert. Denn es ist eine Verletzung des Ganzen in seiner Vollständigkeit, wenn Du den geringsten seiner Bestandtheile – – und seine Bestandtheile sind immer auch zugleich Ursachen – aus seiner Verbindung und seinem Zusammenhange reissest. Und – so weit das in Deiner Hand steht, reissest Du wirklich los und trennst das Zusammengehörige, sobald Du murrst über Dein Schicksal.
[57] Du darfst nicht unwillig werden, den Muth nicht sinken lassen oder gar verzweifeln, wenn es Dir nicht vollständig gelingt, immer nach richtigen Grundsätzen zu handeln. Bist Du von Deiner Höhe heruntergefallen, erhebe Dich wieder, sei zufrieden, wenn nur wenigstens das Meiste an Dir nach achter Menschen Art ist, und lass Dich beglücken von dem, was Dir von Neuem gelang. Meine nicht, dass die Philosophie ein Zuchtmeister sei. Greife zu ihr nur so wie die Augenkranken zum Schwamm oder zum Ei, wie Andere zum Pflaster oder zur Begiessung. Denn Nichts wird Dich zwingen der Vernunft zu gehorchen. Man muss sich ihr vielmehr vertrauensvoll hingeben. Du weisst die Philosophie will nichts Anderes, als was Deine Natur auch will. Du aber hast etwas Anderes gewollt, etwas ihr Widerstreitendes, weil es Dir angenehmer schien. Die Lust macht uns solche Vorspiegelungen. Aber besinne Dich, ob Hochherzigkeit, Freiheit des Geistes, Einfalt, Gleichmuth, Sittenreinheit nicht doch das Angenehmere sind. Oder was ist angenehmer als Weisheit, wenn man darunter das nie Anstossende, glatt Hinfliessende der geistigen Kraft versteht?
Das Wesen und die Bedeutung der Verhältnisse dieses Lebens sind im Allgemeinen in ein solches Dunkel gehüllt, dass sie nicht wenig Philosophen und nicht blos den gewöhnlichen als völlig unbegreiflich erscheinen.[58] Auch die Stoiker bekennen, dass sie sie kaum verstehen. Dann sind auch unsere Ansichten so höchst veränderlich. Es giebt ja keinen Menschen, der sich in seinen Ansichten gleichbliebe. Ferner was nun die »Güter« dieses Lebens anlangt, wie vergänglich und nichtig sind sie! Können sie doch das Eigenthum jedes Nichtswürdigen werden! Aber nicht minder elend steht es mit dem Geist der Zeit. Selbst die beste seiner Aeusserungen, welche Mühe hat man sie zu ertragen, ja es kostet nicht Wenig, sich selber zu ertragen. Bei solcher Taubheit und Verkommenheit der Zustände, bei diesem ewigen Wechsel des Wesens und der Form, bei dieser Unberechenbarkeit der Richtung, die die Dinge nehmen – was da der Liebe und des Strebens noch werth sein soll, vermag ich nicht zu sehen. Im Gegentheil, es ist der einzige Trost, dass man der allgemeinen Auflösung entgegengeht. – Drum trage geduldig die Zeit, die noch dazwischen liegt, und beherzige nur das, dass Nichts Dir widerfahren kann, was nicht in der Natur des Ganzen begründet liegt, und dann: dass Du die Freiheit hast, Alles zu unterlassen, was wider die Stimme Deines Genius ist. Denn die zu überhören kann Dich Niemand zwingen.
Wozu gebrauchst Du jetzt Deine Seele? So muss man sich bei jeder Gelegenheit fragen. Oder, was gellt jetzt vor in dem Theile Deines Wesens, den man den vornehmsten nennt? Oder was für eine Seele hast Du jetzt, die eines Kindes oder eines Jünglings, eines[59] Weibes, eines Tyrannen, eines zahmen oder eines wilden Thieres?
Wie es im Grunde damit steht, was bei der Menge als das Gute gilt, kann man auch daraus erkennen, dass jenes Wort eines alten Komikers: »denn für den Edlen ziemt sich Solches nicht« auf alle diese Scheingüter, wie Reichthum, Luxus, Ehre, anwendbar ist (wiewohl die Leute das allerdings nicht gelten lassen werden), während es auf wahre Güter, wie Klugheit, Mässigkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, angewendet vollkommen widersinnig wäre.
Woraus wir bestehen, ist Form und Materie. Keins von Beiden aber wird in's Nichts verschwinden, so wenig wie es aus dem Nichts hervorgegangen ist. Sondern jeder Theil unseres Wesens wird durch Verwandlung übergeführt in irgend einen Theil des Weltganzen; dieser geht dann wieder in einen andern über und so in's Unendliche. Durch diesen Verwandlungsprozess erhalte ich meine Existenz, durch ihn erhielten sie auch die, die mich erzeugten, und so wieder rückwärts in's Unendliche. Denn »in's Unendliche« darf man wirklich sagen, wenn auch der Weltlauf seine fest begrenzten Zeiträume hat.
Die Vernunft und ihre Praxis sind Kräfte, die sich selbst genügen und die keinen andern Richter über ihre Aeusserungen haben als sich selbst. Sie haben ihr Princip[60] und ihre Tendenz in sich, und richtig heissen ihre Handlungen, weil durch sie der rechte Weg offenbar wird.
Nichts ist Sache des Menschen, was ihn als Menschen Nichts angeht, was von der menschlichen Natur weder gefordert noch verheissen wird, und was zu ihrer Vollendung Nichts beiträgt – was also auch kein Ziel menschlichen Strebens sein oder ein Gut d. i. ein Mittel zu diesem Ziele zu gelangen genannt werden kann. Wäre dies nicht, so hätten wir Unrecht, es als eine Pflicht des Menschen anzusehen, dergleichen Dinge zu verachten und sich ihnen zu widersetzen, und dürften den nicht loben, der ihrer nicht bedarf. Auch könnte, wenn dies Güter wären, der nicht gut sein, der freiwillig dem Genüsse solcher Dinge entsagt. Nun aber sind wir in der That um so viel besser, je mehr wir solcher Dinge uns enthalten, und je leichter wir ihren Mangel ertragen.
Wie die Gedanken sind, die Du am häufigsten denkst, ganz so ist auch Deine Gesinnung. Denn von den Gedanken wird die Seele gesättigt. Sättige sie also mit solchen wie die: dass man, wo man auch leben muss, glücklich sein könne; dass Alles um irgend einer Sache willen gemacht sei, und wozu es gemacht sei, dahin werde es auch getragen, und wohin es getragen werde, da liege auch der Zweck seines Daseins, wo aber dieser, da auch das ihm Zuträgliche und Heilsame. Das den[61] vernünftigen Wesen Heilsame aber ist die Gemeinschaft. Denn zur Gemeinschaft sind wir geboren. Oder liegt es nicht auf der Hand, dass das Geringere um des Besseren willen, die besseren Dinge aber für einander da seien? Besser aber als das Unbeseelte ist das Beseelte, und besser als dieses das Vernünftige.
Nach dem Unmöglichen streben ist wahnsinnig; unmöglich aber, dass der gemeine Mensch nicht Solches tuhn sollte.
Nichts geschieht uns, was zu ertragen uns nicht natürlich wäre. Bei manchen Schicksalen sind wir freilich nur aus Stumpfsinn oder aus Prahlerei standhaft und unverwundbar. Und das ist eben das Traurige, dass Gefühllosigkeit und Gefallsucht stärker sein sollen, als die Besinnung!
Die Umstände sind es nun einmal durchaus nicht, wodurch die Seele berührt wird; sie haben keinen Zugang zu ihr und können sie weder umstimmen, noch irgend bewegen. Die Seele stimmt und bewegt sich einzig selber, und je nach dem Urtheil und der Auffassung, zu der sie's bringen kann, gestaltet sie die Dinge, die vor ihr liegen.
Das Gesetz, das uns vorschreibt, den Menschen wohl zu thun und sie zu tragen, macht sie uns zu den befreundetsten[62] Wesen. Insofern sie uns aber hinderlich werden können, das uns Gebührende zu thun, Ist mir der Mensch etwas ebenso Gleichgültiges wie die Sonne, der Wind, das Thier. Nur dass sich ihrem verderblichen Einflusse ja eben entgegentreten lässt. Man entziehe sich ihnen oder suche sie umzuwandeln, so geschieht unserm Streben und unserer Neigung kein Eintrag. Auf diese Weise verwandelt und bildet die Seele ein Hinderniss unseres Wirkens um in sein Gegentheil: was unser Werk aufhalten sollte, gestaltet sich selbst zum guten Werke, und ein Weg eröffnet sich eben da, wo uns der Weg versperrt ward.
Dem, was das Beste in der Welt ist, dem Wesen nämlich, das Alles hat und Alles verwaltet, gebührt unsere Ehrfurcht. Nicht minder aber auch dem, was das Beste in uns ist. Es ist jenem verwandt, da ja auch in uns Etwas ist, was alles Andere hat und wovon Dein ganzes Leben regiert wird.
Was dem Staate nicht schadet, schadet auch dem Bürger nicht. Diese Regel halte fest, so oft Du Dir einbildest, dass Dir ein Schaden geschieht. Ist's keiner für die Gemeinschaft, der Du angehörst, dann auch keiner für Dich. Und wenn's für jene keiner ist – kannst Du dem Menschen zürnen, der Nichts gethan hat, was dem Ganzen schadet?
[63]
Denke recht oft daran, wie Alles, was ist und was geschieht, so schnell wieder hinweggeführt wird und entschlüpft. Die ganze Materie ist ein ewig bewegter Strom, alles Gewirkte und alles Wirkende ein tausendfacher Wechsel, eine Kette ewiger Verwandlungen. Nichts steht fest. Vorwärts und rückwärts eine Unendlichkeit, in der Alles verschwindet. Wie thöricht also Jeder, der mit irgend Etwas gross thut, oder von irgend einer Sache sich hin- und herreissen lässt oder darüber jammert, als ob der Kummer nicht nur kurze Zeit währte.
Denke, welch' ein winziges Stück des ganzen Weltwesens Du bist, wie klein und verschwindend der Punkt in der ganzen Ewigkeit, auf den Du gestellt bist, und Dein Schicksal – welch' ein Bruchtheil des gesammten!
Hat mich Jemand beleidigt – mag er selbst zusehen. Es ist seine Neigung, seine Art zu handeln, der erfolgte. Ich habe die meinige, so wie die Natur des Alls sie mir gegeben, und ich handle so, wie meine Natur will, dass ich handeln soll.
Der die Herrschaft führende Theil Deines Wesens bleibe stets ungerührt von den leisen oder heftigen Regungen in Deinem Fleische. Er mische sich nicht hinein, beschränke sich auf sein Gebiet und umgrenze[64] jene Reize in den Gliedern. Steigen sie aber auf einem anderen Wege der Mitleidenschaft zur Seele auf, die ja doch immer mit dem Leibe in Verbindung bleibt, dann ist die Empfindung eine naturgemässe, und man darf ihr nicht entgegen sein, nur dass die Vernunft nicht komme und ihr Urtheil, ob hier etwas Gutes oder Böses, hinzufüge.
Lebe mit den Göttern! d.h. zeige ihnen, dass Deine Seele zufrieden sei mit dem, was sie Dir beschieden, dass sie thue, was der Genius will, den uns der höchste Gott als ein Stück von ihm selbst zum Leiter und Führer gegeben hat. Dieser Genius aber ist der Geist, die Vernunft eines Jeden.
Kannst Du Jemand zürnen, der ein körperliches Gebrechen hat? Er kann Nichts dafür, wenn seine Nähe Dir widerwärtig ist. Ebenso betrachte nun auch die sittlichen Mängel. Allein der Mensch, sagst Du, hat seine Vernunft, und kann erkennen, was ihm fehlt. Sehr richtig. Folglich hast Du Deine Vernunft auch und kannst durch Dein vernünftiges Verhalten Deinen Nächsten zur Vernunft bringen, kannst Dich ihm offenbaren, ihn erinnern, und so, wenn er Dich hört, ihn heilen, ohne dass Du nöthig hättest zu zürnen oder zu seufzen oder hoffährtig zu sein.
Wie Du beim Abschiede vom Leben über das Leben denken wirst, so darfst Du schon jetzt darüber denken[65] und danach leben. Hindert man Dich, dann scheide freiwillig, doch so, als erführst Du dabei nichts Uebles. »Ein Rauch ist Alles; lasst mich gehen!« Warum scheint Dir das so schwer? So lange mich jedoch Nichts dergleichen wirklich zwingt, die Welt zu verlassen, will ich auch frei bleiben und mich von Niemand hindern lassen zu thun, was ich will. Denn was ich will, ist entsprechend der Natur eines vernünftigen, für das Leben in der Gemeinschaft bestimmten Wesens.
Der Geist des Alls ist ein Gemeinschaft bildender. Er hat die Wesen niederer Gattung um der höheren willen erzeugt und die der höheren zu einander gefügt. Man kann es deutlich sehen, wie all' sein Thun besteht im Unterordnen und im Beiordnen, wie er einem Jeglichen die Stellung gab, die seinem Wesen entspricht, und die Wesen der höchsten Ordnung durch gleichen Sinn einander einte.
Prüfe Dich, wie Du bis dahin Dich verhalten hast gegen Götter, Eltern, Brüder, Weib, Kinder, Lehrer, Erzieher, Freunde, Genossen und Diener; ob Du bis dahin keinem unter ihnen auf ungebührliche Weise begegnet bist mit Wort und Werk. Erinnere Dich, was Du schon durchgemacht, und was Du im Stande gewesen bist zu tragen. Wie leicht ist's möglich, dass die Geschichte Deines Lebens bereits vollendet, Dein Dienst vollbracht ist; und wie viel Schönes hast Du schon gesehen,[66] wie oft ist's Dir vergönnt gewesen, Freud und Leid gering zu achten, Deinen Ehrgeiz zu unterdrücken, und gegen Unverständige verständig zu sein!
Warum betrüben rohe unerfahrene Gemüther die gebildeten und erfahrenen? Aber welche Seele nennst Du gebildet und erfahren? Die, welche den Ursprung und das Ziel der Dinge und die Vernunft kennt, die das ganze Universum durchdringt und durch die ganze Ewigkeit in bestimmten Perioden Alles verwaltet.
Wie lange noch, und Du bist Staub und Asche! und nur der Name lebt noch, ja nicht einmal der Name; denn was ist er? – ein blosser Schall und Nachklang. Und was im Leben am Meisten geschätzt wird, ist nichtig, faul, von grösserer Bedeutung nicht, als wenn sich ein Paar Hunde herumbeissen oder ein Paar Kinder sich zanken, jetzt lachend und dann wieder weinend. Glaube aber und Ehrfurcht, Gerechtigkeit und Wahrheit –
– »zum Olymp, der weitstrassigen Erde entflohen!«
Was also hält Dich hier noch fest? Alles sinnlich Wahrnehmbare ist unbeständig und fort und fort der Verwandlung unterworfen, die Sinne selbst sind trüb und leicht zu täuschen, und was man Seele nennt ein Aufdampfen des Bluts. Ein Berühmtsein in solcher Welt, wie eitel! So bleibt nur übrig, geduldig zu warten bis wir verlöschen und unsere Stelle wechseln, und bis das[67] geschieht, die Götter zu ehren und zu preisen, den Menschen wohl zu thun, sie zu ertragen oder sich ihnen zu entziehen. Was aber ausserhalb der Grenzen Deines Körper- und Seelenwesens liegt, kann weder Dein werden, noch Dich irgend angehen.
Stets kann es Dir gut gehen, wenn Du richtig wandelst, rechtschaffen denkst und thust. Denn von jedem denkenden Wesen, sei es Gott oder Mensch, gilt dieses Zwiefache: einmal, dass es in seinem Laufe von einem Andern nicht aufgehalten werden kann, und zweitens, dass sein grösstes Gut in der gerechten Sinnes- und Handlungsweise besteht, und sein Streben darüber nicht hinausgeht.
Wenn Dies oder Jenes, das sich ereignet, nicht meine Schlechtigkeit noch die Folge meiner Schlechtigkeit ist, noch ein Schaden, der das Ganze trifft, was kann es mir verschlagen? Nur muss man darüber im Klaren sein, in welchem Falle das Ganze betroffen wird.
Nie darfst Du Dich mit Deinen Gedanken von den Andern losmachen, sondern musst ihnen helfen nach besten Kräften und in dem rechten Masse. Sind sie freilich nur in unwesentlichen Dingen heruntergekommen, so dürfen sie das nicht für einen wirklichen Schaden halten. Es ist nur ein böses Ding, wie man zu[68] sagen pflegt. Du für Deine Person mache es also immer wie jener Greis, der beim Weggehen von einem spielenden Kinde sich dessen Spielzeug geben liess, obwohl er recht gut wusste, dass es nur ein Spielzeug war. Oder wolltest Du, ständest Du vor dem Richterstuhl und hörtest die Frage, ob Du nicht wüsstest, was es mit diesen Dingen auf sich habe, antworten: »ja, aber sie schienen doch Dem und Jenem so wünschenswerth?« und dann den wohlverdienten Spruch empfangen: »also, darum musstest auch Du ein Narr sein!« – So sei denn endlich einmal, und gerade wenn Du recht verlassen bist, ein glücklicher Mensch, d. i. ein Mensch, der sich das Glück selbst zu bereiten weiss, d. i. die guten Regungen der Seele, die guten Vorsätze und die guten Handlungen.
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