Karl Marx

[Brief an den Vater]

Berlin, den 10ten November [1837]


Teurer Vater!

Es gibt Lebensmomente, die wie Grenzmarken vor eine abgelaufene Zeit sich stellen, aber zugleich auf eine neue Richtung mit Bestimmtheit hinweisen.

In solch einem Übergangspunkte fühlen wir uns gedrungen, mit dem Adlerauge des Gedankens das Vergangene und Gegenwärtige zu betrachten, um so zum Bewußtsein unserer wirklichen Stellung zu gelangen. Ja, die Weltgeschichte selbst liebt solches Rückschaun und besieht sich, was ihr dann oft den Schein des Rückgehns und Stillstandes aufdrückt, während sie doch nur in den Lehnstuhl sich wirft, sich zu begreifen, ihre eigne, des Geistes Tat geistig zu durchdringen.

Der einzelne aber wird in solchen Augenblicken lyrisch, denn jede Metamorphose ist teils Schwanensang, teils Ouvertüre eines großen neuen Gedichtes, das in noch verschwimmenden, glanzreichen Farben Haltung zu gewinnen strebt; und dennoch möchten wir ein Denkmal setzen dem einmal Durchlebten, es soll in der Empfindung den Platz wiedergewinnen, den es für das Handlen verloren, und wo fände es eine heiligere Stätte als an dem Herzen von Eltern, dem mildesten Richter, dem innigsten Teilnehmer, der Sonne der Liebe, deren Feuer das innerste Zentrum unserer Bestrebungen erwärmt! Wie könnte besser manches Mißliebige, Tadelnswerte seine Ausgleichung und Verzeihung erhalten, als wenn es zur Erscheinung eines wesentlich notwendigen Zustandes wird, wie könnte wenigstens das oft widrige Spiel der Zufälligkeit, der Verirrung des Geistes dem Vorwurfe mißgestalteten Herzens entzogen werden?

Wenn ich also jetzt am Schlusse eines hier verlebten Jahres einen Blick auf die Zustände desselben zurückwerfe und so, mein teurer Vater, Deinen so lieben, lieben Brief von Ems beantworte, so sei es mir erlaubt, meine[3] Verhältnisse zu beschauen, wie ich das Leben überhaupt betrachte, als den Ausdruck eines geistigen Tuns, das nach allen Seiten hin, in Wissen, Kunst, Privatlagen dann Gestalt ausschlägt.

Als ich Euch verließ, war eine neue Welt für mich erstanden, die der Liebe, und zwar im Beginne sehnsuchtstrunkner, hoffnungsleerer Liebe. Selbst die Reise nach Berlin, die mich sonst im höchsten Grade entzückt, zu Naturanschauung aufgeregt, zur Lebenslust entflammt hätte, ließ mich kalt, ja sie verstimmte mich auffallend, denn die Felsen, die ich sah, waren nicht schroffer, nicht kecker als die Empfindungen meiner Seele, die breiten Städte nicht lebendiger als mein Blut, die Wirtshaustafeln nicht überladener, unverdaulicher als die Phantasiepakete, die ich trug, und endlich die Kunst nicht so schön als Jenny.

In Berlin angekommen, brach ich alle bis dahin bestandenen Verbindungen ab, machte mit Unlust seltene Besuche und suchte in Wissenschaft und Kunst zu versinken.

Nach der damaligen Geisteslage mußte notwendig lyrische Poesie der erste Vorwurf, wenigstens der angenehmste, nächstliegende sein, aber, wie meine Stellung und ganze bisherige Entwickelung es mit sich brachten, war sie rein idealistisch. Ein ebenso fernliegendes Jenseits, wie meine Liebe, wurde mein Himmel, meine Kunst. Alles Wirkliche verschwimmt, und alles Verschwimmende findet keine Grenze, Angriffe auf die Gegenwart, breit und formlos geschlagenes Gefühl, nichts Naturhaftes, alles aus dem Mond konstruiert, der völlige Gegensatz von dem, was da ist und dem, was sein soll, rhetorische Reflexionen statt poetischer Gedanken, aber vielleicht auch eine gewisse Wärme der Empfindung und Ringen nach Schwung bezeichnen alle Gedichte der ersten drei Bände, die Jenny von mir zugesandt erhielt. Die ganze Breite eines Sehnens, das keine Grenze sieht, schlägt sich in mancherlei Form und macht aus dem »Dichten« ein »Breiten«.

Nun durfte und sollte die Poesie nur Begleitung sein; ich mußte Jurisprudenz studieren und fühlte vor allem Drang, mit der Philosophie zu ringen. Beides wurde so verbunden, daß ich teils Heineccius, Thibaut und die Quellen rein unkritisch, nur schülerhaft durchnahm, so z.B. die zwei ersten Pandektenbücher ins Deutsche übersetzte, teils eine Rechtsphilosophie durch das Gebiet des Rechts durchzuführen suchte. Als Einleitung schickte ich einige metaphysische Sätze voran und führte dieses unglückliche Opus bis zum öffentlichen Rechte, eine Arbeit von beinahe 300 Bogen.

Vor allem trat hier derselbe Gegensatz des Wirklichen und Sollenden,[4] der dem Idealismus eigen, sehr störend hervor und war die Mutter folgender unbehülflich unrichtiger Einteilung. Zuerst kam die von mir gnädig so getaufte Metaphysik des Rechts, d.h. Grundsätze, Reflexionen, Begriffsbestimmungen, getrennt von allem wirklichen Rechte und jeder wirklichen Form des Rechtes, wie es bei Fichte vorkömmt, nur bei mir moderner und gehaltloser. Dabei war die unwissenschaftliche Form des mathematischen Dogmatismus, wo das Subjekt an der Sache umherläuft, hin und her räsoniert, ohne daß die Sache selbst als reich Entfaltendes, Lebendiges sich gestaltete, von vornherein Hindernis, das Wahre zu begreifen. Das Dreieck läßt den Mathematiker konstruieren und beweisen, es bleibt bloße Vorstellung im Raume, es entwickelt sich zu nichts Weiterem, man muß es neben anderes bringen, dann nimmt es andere Stellungen ein, und dieses verschieden an dasselbe Gebrachte gibt ihm verschiedene Verhältnisse und Wahrheiten. Dagegen im konkreten Ausdruck lebendiger Gedankenwelt, wie es das Recht, der Staat, die Natur, die ganze Philosophie ist, hier muß das Objekt selbst in seiner Entwicklung belauscht, willkürliche Einteilungen dürfen nicht hineingetragen, die Vernunft des Dinges selbst muß als in sich Widerstreitendes fortrollen und in sich seine Einheit finden.

Als zweiter Teil folgte nun die Rechtsphilosophie, d.h. nach meiner damaligen Ansicht die Betrachtung der Gedankenentwicklung im positiven römischen Rechte, als wenn das positive Recht in seiner Gedankenentwicklung (ich meine nicht in seinen rein endlichen Bestimmungen) überhaupt irgend etwas sein könnte, verschieden von der Gestaltung des Rechtsbegriffes, den doch der erste Teil umfassen sollte.

Diesen Teil hatte ich nun noch obendrein informelle und materielle Rechtslehre geteilt, wovon die erste die reine Form des Systems in seiner Aufeinanderfolge und seinem Zusammenhang, die Einteilung und den Umfang, die zweite hingegen den Inhalt, das Sichverdichten der Form in ihren Inhalt beschreiben sollte. Einen Irrtum, den ich mit dem Herrn v. Savigny gemein habe, wie ich später in seinem gelehrten Werke vom Besitz gefunden, nur mit dem Unter schied, daß er formelle Begriffsbestimmung nennt, »die Stelle zu finden, welche die und die Lehre im (fingierten) römischen System einnimmt«, und materielle, »die Lehre von dem Positiven, was die Römer einem so fixierten Begriff beigelegt«, während ich unter Form die notwendige Architektonik der Gestaltungen des Begriffs, unter Materie die notwendige Qualität dieser Gestaltungen verstanden. Der Fehler lag darin, daß ich glaubte, das eine könne und müsse getrennt von dem anderen sich entwickeln, und so keine wirkliche Form, sondern einen Sekretär mit Schubfächern erhielt, in die ich nachher Sand streute.[5]

Der Begriff ist ja das Vermittelnde zwischen Form und Inhalt. In einer philosophischen Entwicklung des Rechts muß also eins in dem andern hervorspringen; ja die Form darf nur der Fortgang des Inhaltes sein. So kam ich denn zu einer Einteilung, wie das Subjekt sie höchstens zur leichten und seichten Klassifizierung entwerfen kann, aber der Geist des Rechtes und seine Wahrheit ging unter. Alles Recht zerfiel in vertrags- und unvertragsmäßiges. Ich bin so frei, bis zur Einteilung des jus publicum, das auch im formellen Teil bearbeitet ist, das Schema zu besserer Versinnlichung herzusetzen.


I. II.

jus privatum. jus publicum.


I. jus privatum.

a) Vom bedingten vertragsmäßigen Privatrecht,

b) vom unbedingten unvertragsmäßigen Privatrecht.


A. Vom bedingten vert[ragsmäßigen] Privatrecht.

a) Persönliches Recht. b) Sachenrecht. c) Persönlich dingliches Recht.


a) Persönliches Recht.

I. Aus belästigtem Vertrag, II. aus Zusicherungsvertrag, III. aus wohltätigem Vertrag.


I. Aus belästigtem Vertrag.

2. Gesellschaftsvertrag (societas). 3. Verdingungsvertrag (locatio conductio).


3. Locatio conductio.

1. Soweit er sich auf operae bezieht.

a) Eigentliche locatio conductio (weder das römische Vermieten noch Verpachten gemeint!),

b) mandatum.

2. Soweit er sich auf usus rei bezieht.

a) Auf Boden: ususfructus (auch nicht im bloß römischen Sinn),

b) auf Häuser: habitatio.


[6] II. Aus Zusicherungsvertrag.

1. Schieds- oder Vergleichungsvertrag. 2. Assekuranzvertrag.


III. Aus wohltätigem Vertrag.

2. Gutheißungsvertrag.

1. fidejussio. 2. negotiorum gestio.


3. Schenkungsvertrag.

1. donatio. 2. gratiae promissum.


b) Sachenrecht.

I. Aus belästigtem Vertrag.

2. permutatio stricte sic dicta.

1. Eigentliche permutatio. 2. mutuum (usurae). 3. emtio venditio.


II. Aus Zusicherungsvertrag.

pignus.


III. Aus wohltätigem Vertrag.

2. commodatum. 3. depositum.


Doch was soll ich weiter die Blätter füllen mit Sachen, die ich selbst verworfen? Trichotomische Einteilungen gehn durch das Ganze durch, es ist mit ermüdender Weitläufigkeit geschrieben und die römischen Vorstellungen auf das barbarischste mißbraucht, um sie in mein System zu zwängen. Von der anderen Seite gewann ich so Liebe und Überblick zum Stoffe wenigstens auf gewisse Weise.

Am Schlusse des materiellen Privatrechtes sah ich die Falschheit des Ganzen, das im Grundschema an das Kantische grenzt, in der Ausführung gänzlich davon abweicht, und wiederum war es mir klargeworden, ohne Philosophie sei nicht durchzudringen. So durfte ich mit gutem Gewissen mich abermals in ihre Arme werfen und schrieb ein neues metaphysisches Grundsystem, an dessen Schluß ich abermals seine und meiner ganzen früheren Bestrebungen Verkehrtheit einzusehn gezwungen wurde.[7]

Dabei hatte ich die Gewohnheit mir eigen gemacht, aus allen Büchern, die ich las, Exzerpte zu machen, so aus Lessings »Laokoon«, Solgers »Erwin«, Winckelmanns Kunstgeschichte, Ludens deutscher Geschichte, und so nebenbei Reflexionen niederzukritzeln. Zugleich übersetzte ich Tacitus' Germania, Ovids libri tristium und fing privatim, d. h. aus Grammatiken, Englisch und Italienisch an, worin ich bis jetzt nichts erreicht, las Kleins Kriminalrecht und seine Annalen und alles Neueste der Literatur, doch nebenhin das letztere.

Am Ende des Semesters suchte ich wieder Musentänze und Satyrmusik, und schon in diesem letzten Heft, das ich Euch zugeschickt, spielt der Idealismus durch erzwungnen Humor (»Scorpion und Felix«), durch ein mißlungenes, phantastisches Drama (»Oulanem«) hindurch, bis er endlich gänzlich umschlägt und in reine Formkunst, meistenteils ohne begeisternde Objekte, ohne schwunghaften Ideengang, übergeht.

Und dennoch sind diese letzten Gedichte die einzigen, in denen mir plötzlich wie durch einen Zauberschlag – ach! der Schlag war im Beginn zerschmetternd – das Reich der wahren Poesie wie ein ferner Feenpalast entgegenblitzte und alle meine Schöpfungen in nichts zerfielen.

Daß bei diesen mancherlei Beschäftigungen das erste Semester hindurch viele Nächte durchwacht, viele Kämpfe durchstritten, viele innere und äußere Anregung erduldet werden mußte, daß ich am Schlusse doch nicht sehr bereichert hinaustrat und dabei Natur, Kunst, Welt vernachlässigt, Freunde abgestoßen hatte, diese Reflexion schien mein Körper zu machen, ein Arzt riet mir das Land, und so geriet ich zum ersten Mal durch die ganze lange Stadt vor das Tor nach Stralow. Daß ich dort aus einem bleichsüchtigen Schmächtling zu einer robusten Festigkeit des Körpers heranreifen würde, ahnte ich nicht.

Ein Vorhang war gefallen, mein Allerheiligstes zerrissen, und es mußten neue Götter hineingesetzt werden.

Von dem Idealismus, den ich, beiläufig gesagt, mit Kantischem und Fichteschem verglichen und genährt, geriet ich dazu, im Wirklichen selbst die Idee zu suchen. Hatten die Götter früher über der Erde gewohnt, so waren sie jetzt das Zentrum derselben geworden.

Ich hatte Fragmente der Hegelschen Philosophie gelesen, deren groteske Felsenmelodie mir nicht behagte. Noch einmal wollte ich hinabtauchen in das Meer, aber mit der bestimmten Absicht, die geistige Natur ebenso notwendig, konkret und festgerundet zu finden wie die körperliche, nicht[8] mehr Fechterkünste zu üben, sondern die reine Perle ans Sonnenlicht zu halten.

Ich schrieb einen Dialog von ungefähr 24 Bogen: »Kleanthes, oder vom Ausgangspunkt und notwendigen Fortgang der Philosophie«. Hier vereinte sich einigermaßen Kunst und Wissen, die ganz auseinandergegangen waren, und ein rüstiger Wandrer schritt ich ans Werk selbst, an eine philosophisch-dialektische Entwicklung der Gottheit, wie sie als Begriff an sich, als Religion, als Natur, als Geschichte sich manifestiert. Mein letzter Satz war der Anfang des Hegelschen Systems, und diese Arbeit, wozu ich mit Naturwissenschaft, Schelling, Geschichte einigermaßen mich bekannt gemacht, die mir unendliches Kopfbrechen verursacht und so [...] geschrieben ist (da sie eigentlich eine neue Logik sein sollte), daß ich jetzt selbst mich kaum wieder hineindenken kann, dies mein liebstes Kind, beim Mondschein gehegt, trägt mich wie eine falsche Sirene dem Feind in den Arm.

Vor Ärger konnte ich einige Tage gar nichts denken, lief wie toll im Garten an der Spree schmutzigem Wasser, »das Seelen wäscht und Tee verdünnt« , umher, machte sogar eine Jagdpartie mit meinem Wirte mit, rannte nach Berlin und wollte jeden Eckensteher umarmen.

Kurz darauf trieb ich nur positive Studien, Studium des »Besitzes« von Savigny, Feuerbachs und Grolmanns Kriminalrecht, de verborum significatione von Cramer, Wening-Ingenheims Pandektensystem und Mühlenbruch: doctrina Pandectarum, woran ich noch immer durcharbeite, endlich einzelne Titel nach Lauterbach, Zivilprozeß und vor allem Kirchenrecht, wovon ich den ersten Teil, die concordia discordantium canonum von Gratian fast ganz im corpus durchgelesen und exzerpiert habe, wie auch den Anhang, des Lancelotti Institutiones. Dann übersetzte ich Aristoteles' Rhetorik teilweise, las des berühmten Baco v. Verulam: de augmentis scientiarum, beschäftigte mich sehr mit Reimarus, dessen Buch »Von den Kunsttrieben der Tiere« ich mit Wollust durchgedacht, verfiel auch auf deutsches Recht, doch hauptsächlich nur, insofern ich die Kapitulare der fränkischen Könige und der Päpste Briefe an sie durchnahm. Aus Verdruß über Jennys Krankheit und meine vergeblichen, untergegangenen Geistesarbeiten, aus zehrendem Arger, eine mir verhaßte Ansicht zu meinem Idol machen zu müssen, wurde ich krank, wie ich schon früher Dir, teurer Vater, geschrieben. Wiederhergestellt, verbrannte ich alle Gedichte und Anlagen zu Novellen etc. in dem Wahn, ich könne ganz davon ablassen, wovon ich bis jetzt allerdings noch keine Gegenbeweise geliefert.[9]

Während meines Unwohlseins hatte ich Hegel von Anfang bis Ende, samt den meisten seiner Schüler, kennengelernt. Durch mehre Zusammenkünfte mit Freunden in Stralow geriet ich in einen Doktorklub, worunter einige Privatdozenten und mein intimster der Berliner Freunde, Dr. Rutenberg. Hier im Streite offenbarte sich manche widerstrebende Ansicht, und immer fester kettete ich mich selbst an die jetzige Weltphilosophie, der ich zu entrinnen gedacht, aber alles Klangreiche war verstummt, eine wahre Ironiewut befiel mich, wie es wohl leicht nach so viel Negiertem geschehn konnte. Hinzu kam Jennys Stillschweigen, und ich konnte nicht ruhn, bis ich die Modernität und den Standpunkt der heutigen Wissenschaftsansicht durch einige schlechte Produktionen wie »Den Besuch« etc. erkauft hatte.

Wenn ich hier vielleicht Dir dies ganze letzte Semester weder klar dargestellt noch in alle Einzelnheiten eingegangen, auch alle Schattierungen verwischt, so verzeihe es meiner Sehnsucht, von der Gegenwart zu reden, teurer Vater.

H. v. Chamisso hat mir einen höchst unbedeutenden Zettel zugeschickt, worin er mir meldet, »er bedaure, daß der Almanach meine Beiträge nicht brauchen könne, weil er schon lange gedruckt ist«. Ich verschluckte ihn aus Ärger. Buchhändler Wigand hat meinen Plan dem Dr. Schmidt, Verleger des Wunderschen Kaufhauses von gutem Käse und schlechter Literatur, zugeschickt. Seinen Brief lege ich bei; der letztere hat noch nicht geantwortet. Indessen gebe ich keinenfalls diesen Plan auf, besonders da sämtliche ästhetischen Berühmtheiten der Hegelschen Schule durch Vermittlung des Dozenten Bauer der eine große Rolle unter ihnen spielt, und meines Koadjutors Dr. Rutenberg, ihre Mitwirkung zugesagt.

Was nun die Frage hinsichtlich der kameralistischen Karriere betrifft, mein teurer Vater, so habe ich kürzlich die Bekanntschaft eines Assessors Schmidthänner gemacht, der mir geraten, nach dem dritten juristischen Examen als Justitiarus dazu überzugehn, was mir um so eher zusagen würde, als ich wirklich die Jurisprudenz aller Verwaltungswissenschaft vorziehe. Dieser Herr sagte mir, daß vom Münsterschen Oberlandesgericht in Westfalen er selber und viele andere in drei Jahren es bis zum Assessor gebracht, was nicht schwer sei, es versteht sich bei vielem Arbeiten, da hier die Stadien nicht wie in Berlin und anderswo fest bestimmt sind. Wenn man später als Assessor promoviert zum Dr., sind auch viel leichter Aussichten vorhanden, sogleich als außerordentlicher Professor eintreten zu können, wie[10] es dem H. Gärtner in Bonn gegangen, der ein mittelmäßiges Werk über Provinzialgesetzbücher schrieb und sonst nur darin bekannt ist, daß er sich zur Hegelschen Juristenschule bekennt. Doch, mein teurer, bester Vater, wäre es nicht möglich, dies alles persönlich mit Dir zu besprechen! Eduards Zustand, des lieben Mütterchens Leiden, Dein Unwohlsein, obgleich ich hoffe, daß es nicht stark ist, alles ließ mich wünschen, ja macht es fast zur Notwendigkeit, zu Euch zu eilen. Ich würde schon da sein, wenn ich nicht bestimmt Deine Erlaubnis, Zustimmung bezweifelt.

Glaube mir, mein teurer, lieber Vater, keine eigennützige Absicht drängt mich (obgleich ich selig sein würde, Jenny wiederzusehn), aber es ist ein Gedanke, der mich treibt, und den darf ich nicht aussprechen. Es wäre mir sogar in mancher Hinsicht ein harter Schritt, aber wie meine einzige, süße Jenny schreibt, diese Rücksichten fallen alle zusammen vor der Erfüllung von Pflichten, die heilig sind.

Ich bitte Dich, teurer Vater, wie Du auch entscheiden magst, diesen Brief, wenigstens dies Blatt der Engelsmutter nicht zu zeigen. Meine plötzliche Ankunft könnte vielleicht die große, herrliche Frau aufrichten.

Der Brief, den ich an Mütterchen geschrieben, ist lange vor der Ankunft von Jennys liebem Schreiben abgefaßt, und so habe ich unbewußt vielleicht zuviel von Sachen geschrieben, die nicht ganz oder gar sehr wenig passend sind.

In der Hoffnung, daß nach und nach die Wolken sich verziehn, die um unsere Familie sich lagern, daß es mir selbst vergönnt sei, mit Euch zu leiden und zu weinen und vielleicht in Eurer Nähe den tiefen, innigen Anteil, die unermeßliche Liebe zu beweisen, die ich oft so schlecht nur auszudrücken vermag, in der Hoffnung, daß auch Du, teurer, ewig geliebter Vater, die vielfach hin- und hergeworfene Gestaltung meines Gemütes erwägend, verzeihst, wo oft das Herz geirrt zu haben scheint, während der kämpfende Geist es übertäubte, daß Du bald wieder ganz völlig hergestellt werdest, so daß ich selbst Dich an mein Herz pressen und mich ganz aussprechen kann

Dein Dich ewig liebender Sohn

Karl


Verzeihe, teurer Vater, die unleserliche Schrift und den schlechten Stil; es ist beinahe 4 Uhr, die Kerze ist gänzlich abgebrannt und die Augen[11] trüb; eine wahre Unruhe hat sich meiner bemeistert, ich werde nicht eher die aufgeregten Gespenster besänftigen können, bis ich in Eurer lieben Nähe bin.

Grüße gefällig meine süße, herrliche Jenny. Ihr Brief ist schon 12mal durchlesen von mir, und stets entdecke ich neue Reize. Es ist in jeder, auch in stilistischer Hinsicht der schönste Brief, den ich von Damen denken kann.[12]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1968, Band 40.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon