Saint-Simònimus

[480] Von der ganzen saint-simonistischen Literatur hat Herr Grün kein einziges Buch in der Hand gehabt. Seine Hauptquellen sind: vor Allem der vielverachtete Lorenz Stein, ferner die Hauptquelle Steins, L. Reybaud (wofür er p. 260 an Herrn Reybaud ein Exempel statuieren will und ihn einen Philister nennt; er stellt sich auf derselben Seite, als sei ihm Reybaud erst lange, nachdem er die Saint-Simonisten abgefertigt, ganz zufällig in die Hände geraten) und stellenweise L. Blanc. Wir werden den Beweis ganz direkt liefern.

Vergleichen wir zuerst, was Herr Grün über das Leben Saint-Simons selbst sagt.[480]

Die Hauptquellen für das Leben Saint-Simons sind die Fragmente seiner Selbstbiographie in den Œuvres de Saint-Simon, publiziert von Olinde Rodrigues, und dem »Organisateur« vom 19. Mai 1830. Wir haben hier also sämtliche Aktenstücke vor uns: 1. die Originalquellen, 2. Reybaud, der sie auszog, 3. Stein, der Reybaud benutzte, 4. die belletristische Ausgabe von Herrn Grün.

Herr Grün:

»Saint-Simon kämpft den Befreiungskampf der Amerikaner mit, ohne ein besondres Interesse am Kriege selbst zu haben; es fällt ihm ein, man könne die beiden großen Weltmeere verbinden.« p. 84.

Stein, p. 143:

»Zuerst trat er in den militärischen Dienst... und ging mit Bouillé nach Amerika... In diesem Krieg, dessen Bedeutung er übrigens wohl begriff... der Krieg als solcher, sagte er, interessierte mich nicht, nur der Zweck dieses Kriegs etc.«... »Nachdem er vergebens versucht, den Vizekönig von Mexiko für einen großen Kanalbau zur Verbindung der beiden Weltmeere zu interessieren.«

Reybaud, p. 77:

»Soldat de l'indépendance américaine, il servait sous Washington... la guerre, en elle-même, ne m'intéressait pas, dit-il; mais le seul but de la guerre m'intéressait vivement, et cet intérêt m'en faisait supporter les travaux sans répugnance.«

Herr Grün schreibt nur ab, daß Saint-Simon »kein besondres Interesse am Kriege selbst« hatte, läßt aber die Pointe aus, nämlich sein Interesse für den Zweck dieses Kriegs.

Herr Grün läßt ferner weg, daß Saint-Simon seinen Plan beim Vizekönig habe durchsetzen wollen, und reduziert ihn dadurch auf einen bloßen »Einfall«. Er läßt ebenfalls fort, weil Stein dies nur durch die Jahreszahl andeutet, daß Saint-Simon dies erst »à la paix« tat.

Herr Grün fährt unmittelbar fort:

»Später« (wann?) »entwirft er den Plan zu einer französisch-holländischen Expedition nach dem englischen Indien.« (ibid).

Stein:

»Er reiste 1785 nach Holland, um eine vereinigte französisch-holländische Expedition gegen die englischen Kolonien in Indien zu entwerfen.« p. 143.[481]

Stein erzählt hier falsch und Grün kopiert getreu. Nach Saint-Simon selbst hatte der Herzog von La Vauguyon die Generalstaaten bestimmt, eine vereinigte Expedition mit Frankreich nach den englischen Kolonien in Indien zu unternehmen. Von sich selbst sagt er nur, daß er, »während eines Jahres die Ausführung dieses Plans betrieben« (poursuivi) habe.

Herr Grün:

»In Spanien will er einen Kanal von Madrid ins Meer graben« (ibid.)

Saint-Simon will einen Kanal groben, welcher Unsinn! Vorhin fiel ihm ein, jetzt will er. Grün verfälscht hier das Faktum, nicht weil er, wie oben, den Stein zu getreu, sondern weil er ihn zu oberflächlich abschreibt.

Stein, p. 144:

»1786 nach Frankreich zurückgekehrt, ging er schon im folgenden Jahr nach Spanien, um dem Gouvernement einen Plan zur Vollendung eines Kanals von Madrid bis zum Meere vorzulegen.«

Herr Grün konnte bei raschem Lesen sich seinen obigen Satz aus dem Steinschen abstrahieren, weil es bei Stein wenigstens den Schein hat, als sei der Bauplan und die Idee des ganzen Projekts von Saint-Simon ausgegangen, während dieser nur einen Plan zur Beseitigung der bei dem längstbegonnenen Kanalbau eingetretenen finanziellen Schwierigkeiten entwarf.

Reybaud:

»Six ans plus tard il proposa au gouvernement espagnol un plan de canal qui devait établir une ligne navigable de Madrid à la mer.« p. 78.

Derselbe Irrtum wie bei Stein.

Saint-Simon, p. XVII:

»Le gouvernement espagnol avait entrepris un canal qui devait faire communiquer Madrid à la mer; cette entreprise languissait parce que ce gouvernement manquait d'ouvriers et d'argent; je me concertai avec M. le comte de Cabarrus, aujourd'hui ministre des finances, et nous présentâmes au gouvernement le projet suivant« etc.

Herr Grün:

»In Frankreich spekuliert er auf Nationalgüter.«

[482] Stein schildert erst Saint-Simons Stellung während der Revolution und kommt dann auf seine Spekulation in Nationalgütern, p. 144 seqq. Woher aber Herr Grün den unsinnigen Ausdruck hat: »auf Nationalgüter spekulieren«, statt in Nationalgütern, auch hierüber können wir dem Leser durch Vorlage des Originals Aufklärung geben:

Reybaud, p. 78:

»Revenu à Paris, il tourna son activité vers des spéculations, et trafiqua sur les domaines nationaux.«

Herr Grün stellt seinen obigen Satz ohne alle Motivierung hin. Man erfährt gar nicht, weshalb Saint-Simon in Nationalgütern spekulierte und weshalb dies an sich triviale Faktum von Bedeutung in seinem Leben ist. Herr Grün findet nämlich überflüssig, aus Stein und Reybaud abzuschreiben, daß Saint-Simon eine wissenschaftliche Schule und ein großes industrielles Etablissement als Experimente gründen und sich das dazu nötige Kapital durch diese Spekulationen verschaffen wollte. Saint-Simon motiviert selbst seine Spekulationen hierdurch. (Œuvres, p. XIX.)

Herr Grün:

»Er heiratet, um die Wissenschaft bewirten zu können, um das Leben der Menschen zu erproben, um sie psychologisch auszusaugen.« (ibid.)

Herr Grün überspringt hier plötzlich eine der wichtigsten Perioden Saint-Simons, die seiner naturwissenschaftlichen Studien und Reisen. Was heißt das, heiraten, um die Wissenschaft zu bewirten, heiraten, um die Menschen (die man nicht heiratet) psychologisch auszusaugen pp. ? Die ganze Sache Ist die: Saint-Simon heiratete, um Salons halten und dort unter Andern auch die Gelehrten studieren zu können.

Stein drückt dies so aus, p. 149:

»Er verheiratet sich 1801... Ich habe die Ehe benutzt, um die Gelehrten zu studieren.« (Vgl. Saint-Simon, p. 23.)

Jetzt, durch Vergleichung des Originals, wird Herrn Grüns Unsinn verständlich und erklärlich.

Das »psychologische Aussaugen der Menschen« reduziert sich bei Stein und Saint-Simon selbst auf die Beobachtung der Gelehrten im gesellschaftlichen Leben. Saint-Simon wollte, ganz im Zusammenhange mit seiner sozialistischen Grundansicht, den Einfluß der Wissenschaft auf die Persönlichkeit der Gelehrten und auf ihr Verhalten im gewöhnlichen Leben[483] kennenlernen. Bei Herrn Grün verwandelt sich dies in einen sinnlosen, unbestimmten, romanhaften Einfall.

Herr Grün:

»Er wird arm« (wie, wodurch?), »kopiert in einem Lombard für tausend Franken Jahrgehalt – er, der Graf, der Sprößling Karls des Großen; dann« (wann und warum?) »lebt er von der Gnade eines ehemaligen Dieners; später« (wann und warum?) »versucht er sich zu erschießen, wird gerettet und beginnt ein neues Leben des Studiums und der Propaganda. Jetzt erst schreibt er seine beiden Hauptwerke

»Er wird« – »dann« – »später« – »jetzt« sollen bei Herrn Grün die Chronologie und den Zusammenhang der einzelnen Lebensmomente Saint-Simons ersetzen.

Stein, p. 156, 157:

»Dazu kam ein neuer und furchtbarer Feind, die allmählich immer drückender werdende äußere Not... Nach sechs Monaten peinlichen Harrens wird... ihm eine Stelle –« (auch den Gedankenstrich hat Herr Grün von Stein, nur daß er so pfiffig war, ihn hinter den Lombard zu stellen) »als Kopist im Lombard« (nicht, wie Herr Grün pfiffigerweise ändert, »in einem Lombard«, da es bekanntlich in Paris nur den einen, öffentlichen Lombard gibt) »mit tausend Franken Jahrgehalt. Wunderbarer Glückswechsel jener Zeiten! Der Enkel des berühmten Höflings an Ludwigs XIV. Hofe, der Erbe einer Herzogskrone, eines mächtigen Vermögens, ein geborner Pair von Frankreich und Grande von Spanien, Kopist in einem Lombard!«

Hier erklärt sich Herrn Grüns Versehen mit dem Lombard; hier, bei Stein, ist der Ausdruck am Orte. Um sich auch sonst noch von Stein zu unterscheiden, nennt Herr Grün Saint-Simon nur »Graf« und »Sprößling Karls des Großen«. Letzteres hat er von Stein p. 142, Reybaud p. 77, die indes so klug sind, zu sagen, Saint-Simon leite sich selbst von Karl dem Großen her. Statt der positiven Fakta Steins, die allerdings unter der Restauration die Armut Saint-Simons auffallend machen, erfahren wir bei Herrn Grün nur seine Verwunderung darüber, daß ein Graf und angeblicher Sprößling Karls des Großen überhaupt herunterkommen kann.

Stein:

»Zwei Jahre lebte er noch« (nach dem Selbstmordsversuch) »und wirkte in ihnen vielleicht mehr als in ebensoviel Jahrzehnten seines früheren Lebens. Der ›Catéchisme des industriels‹ ward vollendet« (Herr Grün verwandelt dies Vollenden eines längst vorbereiteten Werks in: »Jetzt erst schrieb er« pp.) »und der ›Nouveau christianisme‹ pp.«, p. 164, 165.

p. 169 nennt Stein diese beiden Schriften »die beiden Hauptwerke seines Lebens«.[484]

Herr Grün hat also nicht nur die Irrtümer Steins kopiert, sondern auch aus unbestimmt gehaltenen Stellen Steins neue fabriziert. Um seine Abschreiberei zu verdecken, nimmt er nur die hervorspringendsten Fakta heraus, raubt ihnen aber ihren Charakter als Fakta, indem er sie sowohl aus dem chronologischen Zusammenhange wie aus ihrer ganzen Motivierung reißt und selbst die allernotwendigsten Mittelglieder ausläßt. Was wir nämlich oben gegeben haben. Ist buchstäblich Alles, was Herr Grün von Saint-Simons Leben berichtet. In dieser Darstellung wird das bewegte, tätige Leben Saint-Simons in eine Reihe von Einfällen und Ereignissen verwandelt, die weniger Interesse darbieten als das Leben des ersten besten gleichzeitigen Bauern oder Spekulanten in einer bewegten Provinz Frankreichs. Und dann, nachdem er diese biographische Sudelei hingeworfen hat, ruft er aus: »Dieses ganze, echt zivilisierte Leben!« Ja er scheut sich nicht, p. 85 zu sagen: »Saint-Simons Leben ist der Spiegel des Saint-Simonismus selbst –« als wenn dies Grünsche »Leben« Saint-Simons der Spiegel von irgend etwas wäre, außer von Herrn Grüns Art der Buchmacherei »selbst«.

Wir haben uns bei dieser Biographie länger aufgehalten, weil sie ein klassisches Exempel von der Art und Weise liefert, in der Herr Grün die französischen Sozialisten gründlich behandelt. Wie er hier schon scheinbar nonchalant hinwirft, ausläßt, verfälscht, transponiert, um seine Abschreiberei zu verbergen, so werden wir später sehen, daß Herr Grün auch fernerhin alle Symptome eines innerlich beunruhigten Plagiarius entwickelt: künstliche Unordnung, um die Vergleichung zu erschweren, Auslassung von Sätzen und Worten, die er wegen Unkenntnis der Originale nicht recht versteht, aus den Zitaten seiner Vorgänger, Dichtung und Ausschmückung durch unbestimmte Phrasen, perfide Ausfälle auf die Leute, die er gerade kopiert. Ja Herr Grün ist so übereilt und hastig in seiner Abschreiberei, daß er sich oft auf Sachen beruft, von denen er dem Leser nie gesprochen, die er aber als Leser Steins im Kopfe mit sich herumträgt.

Wir gehn jetzt auf die Grünsche Darstellung der Doktrin Saint-Simons über.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1958, Band 3, S. 480-485.
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