XIII. Spinozismus. – Pantheismus. – Alles ist Eins und Eins ist Alles. – Widerlegung.

[104] Die Spinozisten behaupten: Wir selbst und die sinnliche Welt ausser uns, seyn nichts für sich Bestehendes; sondern bloße Modificationen der unendlichen Substanz. Kein Gedanke des Unendlichen könne ausser ihm und abgesondert von seinem Wesen zur Würklichkeit gelangen; denn es gebe nur eine einzige Substanz von unendlicher Denkungskraft und unendlicher Ausdehnung. Gott, sagt der Spinozist, ist die einzige nothwendige und auch nur die einzige mögliche Substanz, alles Uebrige lebt, webt und ist nicht ausser Gott; sondern Modification des göttlichen Wesens. Eins ist Alles und Alles ist Eins.

So sonderbar diese Meynung auch klingt und so sehr sie von der gemeinen Bahn des gesunden Menschenverstandes abweicht; so hat sie doch von jeher denkende Köpfe zu Anhängern und Freunden gehabt. Ja, Schwärmer und Atheisten haben sich vereinigt, sie anzunehmen; weil sie in der That diese entgegengesetzten Irrthümer zu verbinden scheint. Daß sie an Atheismus streifet, scheinet dem ersten Blicke nach in die Augen zu fallen. Allein Wachter hat in einem besondern Tractat1 angezeigt, daß sie in der kabbalischen Schwärmerey ihren Ursprung habe, und ganz auf dieselbe gebauet sey. Lasset uns indessen nicht auf die Folgesätze sehen, die dieser Schule zur Last geleget werden, sondern auf die Gründe, auf welche sie sich stützet. Wir schweben hier in einer Region von Ideen, die von der unmittelbaren Erkenntniß zu weit entfernt ist; in welcher wir unsere Gedanken blos durch den Schattenriß der Worte zu erkennen geben; ja blos durch Hülfe dieser Schattenrisse selbst wieder zu erkennen im Stande sind. Wie leicht ist hier der Irrthum! Wie groß die Gefahr, den Schatten für die Sache zu halten! Sie wissen, wie sehr ich geneigt bin, alle Streitigkeiten der philosophischen Schulen für bloße Wortstreitigkeiten zu erklären, oder doch wenigstens ursprünglich von Wortstreitigkeiten herzuleiten. Verändert die mindeste Kleinigkeit im Schattenriß: sogleich erhält das ganze Bild ein[104] andres Ansehen, eine andre Physiognomie. So auch mit Worten und Begriff. Die kleinste Abweichung in der Bestimmung eines Grundwortes führt am Ende zu ganz entgegengesetzten Folgen, und wenn man den Punkt aus den Augen verloren, von welchem man gemeinschaftlich ausgegangen ist; so streitet man am Ende nicht mehr um Worte, sondern um die wichtigsten Sachen. Wir müssen also auf den Scheideweg zurück, wo der Spinozist uns verläßt und seinen eignen Weg nimmt, um zu sehen, ob wir den Streit nicht beylegen können, bevor wir uns trennen.

Wovon gehen wir aus? Was können wir unter uns als ausgemacht annehmen und voraussetzen, um nach dessen Maaßgebung den Streitpunkt zu richten? So viel mir von der Lehre der Spinozisten bekannt ist, kommen sie mit uns in folgenden Lehrsätzen überein: Das nothwendige Wesen denkt sich selbst, als schlechterdings nothwendig; denkt die zufälligen Wesen, als auflösbar in unendliche Reihen; als Wesen, die ihrer Natur nach rückwärts eine Reihe ohne Anfang zu ihrem Daseyn voraussetzen und vorwärts eine Reihe ohne Ende zur Würklichkeit befördern.

Bis hieher kann uns der Anhänger Spinozens zur Seite gehen, aber hier scheidet sich der Weg. Diese Reihe von zufälligen Dingen, sagen wir, haben ausser Gott ihre eigene Substantialität; ob sie gleich nur als Würkungen seiner Allmacht vorhanden seyn können. Die endlichen Wesen bestehen für sich zwar abhängig vom Unendlichen, und ohne das Unendliche nicht denkbar; aber doch der Subsistenz nach mit dem Unendlichen nicht vereiniget. Wir leben, weben und sind, als Würkungen Gottes, aber nicht in ihm. Der Spinozist hingegen behauptet: Es gebe nur eine Einzige unendliche Substanz; denn eine Substanz müsse für sich bestehen, keines andern Wesens zu seinem Daseyn bedürfen und also unabhängig seyn. Da aber kein endliches Wesen unabhängig seyn könne; so sey auch kein endliches Wesen eine Substanz. Hingegen sey das Weltall eine wahre Substanz, indem es in seiner Unbegränztheit alles in sich schließet, und also keines andern Wesens zu seinem Daseyn bedarf; mithin unabhängig ist. Dieses Weltall, fährt der Spinozist fort, besteht aus Körpern und Geistern, das heißt nach der Lehre des Cartesius, die der Spinozist annimmt, es giebt Ausdehnung und Gedanken; Wesen, die ausgedehnt sind, und Wesen, welche denken. Er eignet daher seiner einzigen unendlichen Substanz zwey unendliche Eigenschaften[105] zu, unendliche Ausdehnung und unendliche Gedanken, und dieses ist sein: Eins ist Alles; oder vielmehr, er spricht: der gesammte Inbegriff unendlich vieler endlichen Körper, und unendlich vieler Gedanken, mache Ein einziges unendliches All aus, unendlich an Ausdehnung und unendlich an Denken: Alles ist Eins.

Man hat mit Recht den Scharfsinn bewundert, mit welchem Spinoza auf diesen Grundideen sein System aufführt, und bis auf seine kleinste Theile mit geometrischer Festigkeit verbindet. Gebet ihm diese Grundideen zu, so stehet sein Gebäude unerschüttert da, und ihr könnet nicht den kleinsten Stein aus seinem Zusammenhange rücken. Wir haben also bloß diese Grundideen zu untersuchen, und zu sehen, in wie weit die sich von unsern gewöhnlichen Begriffen entweder der Sache nach, oder bloß in den Worten unterscheiden.

Um uns diesem System so viel möglich zu nähern, lasset uns vor der Hand nicht rügen, daß Spinoza das Unendliche der Kraft nach, mit dem Unendlichen der Ausbreitung, der Menge nach, die intensive Größe mit der extensiven, zu verwechseln scheint. Aus unendlich vielen endlichen Gedanken setzet er das an Gedanken Unendliche gleichsam zusammen. Auf diese Weise entstehet bloß das Unendliche der Ausbreitung nach. Wenn aber das Unendliche unabhängig seyn soll; so muß es nicht extensive unendlich, sondern intensive ohne Gränzen und Schranken seyn; nicht der Ausbreitung, sondern der Kraft nach muß es unendlich seyn, wenn es keines andern Wesens zu seinem Daseyn bedürfen soll. Ich werde dieses in der Folge ausführlicher berühren, und lasse es vor der Hand dahin gestellt seyn, um die übrigen Grundideen des spinozischen Systems etwas genauer zu prüfen.

Daß in der Erklärung des Wortes Substanz eine Willkührlichkeit lieget, die den Spinoza von der gemeinen Bahn abgeführt hat, ist schon von vielen, und fast von allen seinen Widersachern gerügt worden. Eine solche Substantialität, die er voraussetzet, ein für sich bestehendes Daseyn, das unabhängig ist, und keines andren Wesens zu seiner Würklichkeit bedarf, legen auch wir keinem endlichen zufälligen Wesen bey. Auch wir gestehen, daß eine solche selbstgenügende Substantialität bloß dem unendlichen und nothwendigen Wesen zukomme, und daß es selbst von diesem keinem endlichen Wesen mitgetheilet werde. Allein wir unterscheiden das Selbständige von dem Fürsichbestehenden. Das Selbständige ist unabhängig und bedarf[106] keines andern Wesens zu seinem Daseyn. Dieses also ist unendlich und nothwendig; das Fürsichbestehende aber kann in seinem Daseyn abhängig, und dennoch, als ein von dem unendlichen abgesondertes Wesen, vorhanden seyn. Das heißt, es lassen sich Wesen denken, die nicht blos als Modificationen eines andern Wesens bestehen, sondern ihre eigene Bestandtheit haben und selbst modificirt sind. Eine Substantialität von dieser zwoten Gattung glauben wir mit Recht auch endlichen zufälligen Wesen zuschreiben zu können. Alles, was Spinoza also mit geometrischer Schärfe aus seiner Erklärung der Substanz herleitet, können wir gar wohl gelten lassen; aber nur von dem selbstständigen Wesen, dem allein Unendlichkeit der Kraft nach und nothwendiges unabhängiges Wesen zukommt, keineswegs aber von allen für sich bestehenden Dingen. Will Spinoza diese, ihrer Abhängigkeit halber, nicht Substanz nennen; so streitet er bloß in Worten. Wird der Unterschied in der Sache zugegeben; so erdenke man für die Bestandtheit abhängiger Wesen einen andern Nahmen, um einen Unterschied, der in der Sache liegt, nicht unbemerkt zu lassen; und der Zwist ist entschieden.

Diese Bemerkung, wenn sie gleich die Lehre des Spinoza nicht über den Haufen wirft; so tritt sie doch seine Beweisthümer und Gründe. Sie zeiget, daß Spinoza das nicht erwiesen, was er erweisen wollte. Sie schwächet daher die Kraft seiner Waffen, oder lenkt sie von dem Ziele ab, dahin er sie gerichtet hatte. An Statt zu beweisen, daß alles Fürsichbestehende nur Eins sey, bringet er am Ende blos heraus, daß alles Selbstständige nur Eins sey. An Statt darzuthun, daß der gesammte Inbegriff alles Endlichen eine einzige selbstständige Substanz ausmache, erhält er am Ende blos, daß dieser Innbegriff von der einzigen unendlichen Substanz abhängen müsse. Dieses aber wird alles zugegeben, ohne daß der Streit deßwegen entschieden sey. Er hat also den Streitpunkt völlig da gelassen, wo er ihn gefunden hat. Seine Beweisthümer sind bündig, aber sie widerlegen uns nicht.

Folgende Bemerkung dringet etwas tiefer in die Sache ein, und greifet nicht nur die Beweisthümer, sondern die Lehre des Spinoza selbst an. Spinoza, sprechen seine Gegner, eignet seiner unendlichen Substanz Ausdehnung und Gedanken zu; weil sich auf diese Grundbegriffe nach der Theorie des Cartesius alles Denkbare zurückbringen läßt. In der Ausdehnung bestehet, nach diesem Weltweisen, das Wesen der Körper, und im Denken das Wesen der Geister. Allein,[107] wenn wir auch zur Ausdehnung den Begriff der Undurchdringlichkeit hinzuthun; so erschöpfet dieses blos das Wesen der Materie. Zum Körper aber gehöret, außer der Materie, auch noch Form, d.i. die Bewegung, sammt allen ihren Modificationen. Spinoza hat also blos die Quelle der Materie angewiesen. Wo sollen wir aber die Quelle der Form suchen? Wodurch erhält der Körper seine Bewegung, der organisirte Körper seine Bildung, d.i. seine planvolle und regelmäßige Bewegung, und jeder andre Körper seine Figur? Wo kann der Ursprung hiervon anzutreffen seyn? Nicht im Ganzen; denn das Ganze hat keine Bewegung. Das Sämmtliche aller Körper, in eine einzige Substanz vereiniget, kann den Ort nicht verändern und hat weder Organisation, noch Figur. Also in den Theilen. Mithin müssen die Theile auch ihr abgetheiltes Daseyn haben, und das Ganze ein bloßes Aggregat aus denselben seyn. Hätten die Theile, wie Spinoza vorgiebt, nicht ihr abgesondertes Daseyn, und wären sie blos Abänderungen oder Vorstellungsarten des Gesammten; so könnten sie keine andre Modificationen haben, als die aus den Eigenschaften des Ganzen fließen. Woher die Form in den Theilen, wenn das Ganze keine Quelle dazu darbietet?

Einen ähnlichen Schlußfehler kann man dem Spinoza auch in Absicht auf die Geisterwelt vorwerfen. Er hat bloß für das Materiale des Denkens gesorgt, und ihm eine Quelle in den Eigenschaften des Unendlichen angewiesen. Wahrheit und Unwahrheit findet bey ihm ihren Ursprung in den Eigenschaften der einfachen Substanz. Woher aber die Güte und Vollkommenheit, Lust und Unlust, Schmerz und Vergnügen, überhaupt alles, was nach unsern Begriffen zum Billigungs- oder Begehrungsvermögen gehört? Wenn das Ganze keines Vorherwissens, keines Vorsatzes, keiner Billigung und keines Verlangens fähig ist; woher alle diese Begriffe in den Theilen, die doch nichts für sich bestehendes haben und, seiner Meinung nach, bloße Modificationen der einzigen Substanz sind? Es ist wahr, Spinoza will auch in den Theilen alle Freyheit aufheben, alle Wahl für bloße Täuschung halten, und den willkührlichen Entschluß, von dem wir glauben, daß er von uns abhänge, der Wahrheit nach, einer unumgänglichen Nothwendigkeit unterwerfen. Er hatte also in seinem System nicht für das zu sorgen, dessen Daseyn er nicht eingestand; mithin wird ihm Freyheit, Wille und Willkühr, und alles, was davon abhängt, weiter keine Schwierigkeit machen können. Allein[108] hiermit ist gleichwohl im Grunde dem Uebel nicht abgeholfen. Alles, was Spinoza wider Freyheit und Willkühr zu erinnern hat, tritt blos das System des vollkommenen Gleichgewichts, das er allein Freyheit nennet. Er erkennet keine andere Zwanglosigkeit, als die Befreyung von allem Einflusse der Bewegungsgründe und Triebfedern, von aller mitwürkenden Erkenntniß des vorhergesehenen Guten und Bösen; eigentlich dasjenige, was die Deterministen das vollkommne unentschiedene Gleichgewicht nennen. Da er nun einsah, daß die vorhergesehenen Bewegungsgründe und Triebfedern der freyesten Wahl ihre Bestimmtheit und Unausbleiblichkeit geben; so umfaßte er allen Erfolg unter dem vielschichtigen Worte Nothwendigkeit, und sagte die Wahl oder Willkühr vernünftiger Wesen sey nothwendig. Hingegen muß Spinoza aller seiner Gründe ungeachtet dasjenige, was die Deterministen Freyheit nennen, gar wohl zugeben, oder er streitet mit ihnen blos in Worten. Er hat keinen Grund, diejenige Freyheit aufzuheben, die der Erkenntniß des Guten und Bösen folgt, und von dem vorhergesehenen Besten bestimmt wird. Da er, wenigstens in Absicht auf das Endliche, den Unterschied zwischen Gutem und Bösem, Begehrlichem und Nichtbegehrlichem, Lust und Unlust u.s.w. nicht läugnen kann; so muß er auch alles zugeben, was aus diesen Ideen folgt; mithin auch ihre Mitwürkung auf die Bestimmung des Endlichen, ihren Einfluß auf die Abänderungen des denkenden Wesens. Wenn wir also dem Worte Nothwendigkeit seine Vieldeutigkeit nehmen; wenn wir den Begriff genauer bestimmen, einen Unterschied machen zwischen der physischen und sittlichen Nothwendigkeit, und wie von uns geschehen, das physisch Notwendige aus der Erkenntnißquelle, das sittlich Nothwendige hingegen aus der Billigungsquelle fließen lassen, und wenn uns dann Spinoza diesen Unterschied, der in der Sache selbst lieget, nicht in Abrede seyn kann; so muß er eingestehen, daß das Formale des Denkens von dem Materialen desselben zu unterscheiden sey, daß die Eigenschaft zu denken nicht nothwendig die Eigenschaft zu billigen in sich schließe, daß Gutes und Böses, so wie die Zuneigung zu jenem und die Abneigung von diesem, eine andre Quelle haben müssen, als Wahrheit und Unwahrheit. Wo ist aber diese Quelle zu finden, wenn in den Eigenschaften der einzigen Substanz keine Spur davon anzutreffen seyn soll?

Wir sehen also, daß das System Spinozens in zweyerlei Rücksicht[109] mangelhaft ist. So wohl in Absicht auf die Körperwelt, als in Absicht auf die denkenden Wesen, hat er blos für das Materiale, aber nicht für das Formale gesorget, und wie sehr wird sich sein System dem unsrigen nähern, wenn er das Formale mit aufnehmen, und von der einen Seite die Quelle der Bewegung, so wie von der andern Seite die Quelle der Billigung, anzugeben suchen wird.

Und nun zu der Bemerkung, die ich oben berührt, und in der Folge weiter auszuführen versprochen. Ich erinnere mich aber, daß keine Weitläuftigkeit von Nöthen sey. Wolf hat in dem zweyten Theil seiner natürlichen Theologie diesen Einwurf wider den Spinozismus mit der ihm eigenen Deutlichkeit und Ausführlichkeit vorgetragen, und noch hat, so viel ich weiß, kein Anhänger oder Vertheidiger dieses Systems den Einwurf zu beantworten gewagt. Ich darf ihn also hier nur kürzlich wiederholen. Jede Beschaffenheit der Dinge hat ihre Ausbreitung und ihre Stärke, ihre Extension und ihre Intension. Durch das Hinzuthun mehrerer gleichartigen Dinge nimmt die Beschaffenheit an Ausbreitung, aber nicht an Stärke zu. Thut laues Wasser zu lauem Wasser, so habt ihr mehr, aber nicht wärmeres Wasser; füget seichte Kenntniß zu seichten Kenntnissen, so erlanget ihr ausgebreitetere, aber nicht gründlichere und tiefere Einsicht. Eine ausgebreitetere Ursache kann zwar eine stärkere Würkung hervorbringen, und mehrere Lichtstrahlen eine stärkere Beleuchtung verursachen; aber es ist in der Würkung nicht mehr bloßes Hinzuthun, sondern innere Verstärkung, die durch die gesammlete Mehrheit der Strahlen bewirkt wird. Sonst giebt eine mittelmäßige Beleuchtung vieler Zimmer kein stärkeres Licht, als dieselbe Beleuchtung eines einzigen kleinen Zimmers. Alles dieses leuchtet in die Augen, und wird zum Ueberfluß in jedem Lehrbuche der Ontologie hinlänglich ausgeführt. Wenn also endliche Wesen auch in ihrer unendlichen Menge zusammen gefaßt werden, so erwächst aus denselben eine totale Unendlichkeit, blos der Menge und Ausbreitung nach. Die Intension oder die Stärke der Beschaffenheit bleibt im Ganzen immer noch endlich. Nun kann nach dem Spinoza selbst nur das Unendliche der Stärke nach unabhängig seyn und keines andern Wesens zu seinem Daseyn bedürfen. Er wird also ausser dem totalen Inbegriff aller endlichen Wesen, welcher nur der Ausbreitung nach unendlich seyn kann, noch ein einziges unendliches Wesen zugeben müssen, welches der Stärke nach ohne Gränzen ist. Ja, da[110] nach seinem Geständnisse nur eine einzige Substanz unabhängig seyn kann; so wird er sein Unendliches der Menge nach von diesem Unendlichen der Stärke nach müssen abhängen lassen.

Daß ein Unendliches der Ausbreitung nach nicht selbstständig seyn könne, sondern von dem Unendlichen der Kraft abhängen müsse, erhellet auch aus folgender Betrachtung. Alle ausgebreiteten Dinge, sie mögen endlich oder unendlich seyn, geben keine wahre Einheiten; sondern Inbegriffe, Aggregate von Vielem; nicht einzelne, sondern sämmtliche, collektive Wesen. Wenn schon einerley Ausdehnung aller Materie wesentlich zukömmt; so ist das Ausgedehnte doch nicht immer dasselbe; keine wirkliche Einheit, sondern eine Wiederholung einer und eben derselben Beschaffenheit in den kleinsten Theilen der Materie. So auch mit der Schwere, wenn sie dem Körper beywohnen soll, und so mit der Zeugungs- oder Organisationskraft, wenn man sie als eine Eigenschaft des gebildeten Körpers ansehen will. Ist schon die Kraft in der Absonderung immer dieselbe, und mit einer und derselben Idee zu umfassen; so kann sie doch dem Körper nicht als Eigenschaft beywohnen, ohne in jedem Atom desselben gleichsam wiederholt zu werden. Es ist freylich dieselbe Federkraft, die in meiner Uhr die Feder spannet, und dort am Firmament die Wolken sammlet und forttreibet; aber diese Einheit ist blos abstrackt; der Sache nach muß die Kraft in den verschiedenen Objecten auch verschiedentlich wiederholt, und also nicht mehr Eins, sondern Vieles bleiben.

Wenn vieles in einem Inbegriffe zusammenkommen, und ein Aggregat ein sämtliches Wesen ausmachen soll; so geschiehet dieses blos durch die Vorstellungen denkender Subjecte, die sie in einem Begriffe umfassen und sammeln. Ausserhalb und von Seiten der Objecte existiren blos Einheiten, und zwar jede für sich, einzeln. Blos in den Vorstellungen denkender Subjecte kommen diese Einheiten zusammen und bilden Inbegriffe, Vieles in Einem, Aggregate. Eine Heerde Schaafe bestehet an und für sich aus einzelnen Thieren dieser Art; ein Sandhügel aus einzelnen Körnlein; aber in dem Begriffe denkender Wesen werden sie gesammlet und verbunden, und dadurch aus jenen Eine Heerde; aus diesen Ein Haufe. Ohne denkende Wesen würde die Körperwelt keine Welt seyn, kein Ganzes ausmachen; sondern höchstens aus lauter isolirten Einheiten bestehen. Dieses habe ich bey einer andern Gelegenheit weitläuftiger[111] ausgeführt, und dadurch bewiesen, daß die Seele nicht materiell seyn könne.

Es hat aber mit der Geisterwelt eine ähnliche Beschaffenheit. Wenn schon dieselbe Kraft zu denken allen zukommt; so ist es doch nicht dieselbe Einheit, die in allen denkt. Vielmehr muß dasjenige, was wir durch Kraft oder Eigenschaft zu denken verstehen, in jedem Gegenstande wiederholt werden und jedem denkenden Wesen für sich zukommen. Dem Begriffe nach ist es zwar einerley Kraft, oder Attribut des Denkens, wie Spinoza sich ausdrückt, vermöge dessen wir alle hier denken; allein der Sache nach und in der Würklichkeit muß diese Kraft jedem von uns besonders zukommen; wenn wir anders selbst denken, und nicht, wie einige scholastische Philosophen geglaubt haben sollen, eine einzige Kraft für uns alle denken soll.

Jedes denkende Wesen, wenn es endlich ist, denkt indessen blos einen Theil der Welt, eine Seite und Aussicht derselben, die nicht das Ganze mit gleicher Deutlichkeit umfasset. Blos in dem Inbegriffe aller denkenden Wesen, in dem Totalen derselben, liegt nach dem Spinoza das Weltall in seiner allumfassenden Deutlichkeit. Aber dieses Totale, dieses Zusammennehmen, Vieles in Einem, dieser Inbegriff setzet, wie wir gesehen, ein denkendes Subject voraus, das in seiner Vorstellung umfasset, sammlet und verbindet. Ohne dieses vereinigende Subject bleiben die Theile isolirt und unverbunden, immer noch Vieles, und nur durch die umfassende Gedanken werden sie vereint.

Wenn also nach dem Spinoza das Weltall, oder die wahre Substanz in dem Inbegriff aller materiellen und denkenden Wesen bestehet; so setzet dieser Inbegriff das Daseyn eines inbegreiffenden Subjects voraus. Dieses Subject wird alle Seiten umfassen, alle Begriffe endlicher Wesen in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit verbinden und sie alle mit der vollkommensten Deutlichkeit denken müssen; denn jede Dunkelheit in der Vorstellung läßt eine Lücke zurück, und der Inbegriff, den wir suchen, ist nicht vollständig. Ohne Geisterwelt machen die körperlichen Dinge kein System aus; aber die eingeschränkten Geister bilden gleichsam nur Bruchstücke des Ganzen, die von einem uneingeschränkten Geiste in ihrem unendlichen Bezirke umfaßt und in Ein System verbunden werden müssen. Daß dieser schrankenlose Geist der Kraft nach unendlich, selbstständig und unabhängig seyn wird, ergiebt sich von selbst; und sonach hätte[112] uns Spinozens Idee von dem unendlichen Weltall auf das nothwendige Daseyn eines der Kraft nach unendlichen, einzelnen Wesens geführt, dessen Gedanken alles Mannigfaltige der Körper- und Geisterwelt auf das allerdeutlichste umfassen und in Ein System verbinden und ohne welches das Unendliche der Ausbreitung nicht subsistiren kann. – Auf solche Weise würde unser Zwist mit diesem Weltweisen ja hier am Scheidewege schon größtentheils beygelegt seyn. Wir hätten dabey diesen redlichen Wahrheitsforscher zu unserm Freunde; denn gewiß der Mann, der sein Leben einzig und allein der Wahrheit gewidmet hatte, würde sich der Wahrheit nicht aus Eigensinn oder Eitelkeit widersetzen. Wir könnten ihn umarmen und noch eine weite Strecke gemeinschaftlich fortgehen. Ja, wenn uns Spinoza alles dieses zugiebt: so wären wir beynahe schon am Ziele.[113]

1

Wachter Spinozismus im Judenthum.

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.2, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 104-114.
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