5. Die Sekte der allgemeinen Liebe

[99] Ein Anhänger des Mo Di32 namens I Dschï wandte sich an Sü Bi, um eine Unterredung mit Mong Dsï zu erlangen.

Mong Dsï sprach: »Ich würde ihn freilich gerne sehen, doch bin ich heute nicht so recht wohl. Wenn mir dann wieder besser ist, so will ich ihn aufsuchen.« Darauf blieb I Dschï weg.

An einem anderen Tag suchte er abermals um eine Unterredung mit Mong Dsï nach.

Mong Dsï sprach: »Heute könnte ich ihn sehen. Wenn ich ihn nicht berichtige, so kommt die Wahrheit nicht ans Licht. Darum will ich ihn berichtigen. Ich höre, daß Herr I ein Anhänger des Mo Di ist. Mo Di hat den Grundsatz der äußersten Dürftigkeit bei der Ordnung des Begräbnisses. Herr I will mit dieser Lehre die Welt umwandeln. So muß er also alles, was damit nicht übereinstimmt, für minderwertig halten. Nun aber hat Herr I seinen Eltern ein stattliches Begräbnis zuteil werden lassen; das heißt also, daß er seinen Eltern auf eine Weise gedient hat, die er selbst für geringwertig hält.«

Sü Dsï berichtete diese Worte dem I Dschï. I Dschï sprach: »Nach der Lehre der Schriftgelehrten haben die Männer des Altertums ihre Leute beschirmt wie Kinder. Was ist denn mit diesem Wort gemeint? Ich halte dafür, es bedeute, daß die Liebe keine Unterschiede33 und Klassen kenne, aber daß man bei ihrer Ausübung beginnen müsse bei den Nächsten.«

Sü Dsï berichtete diese Worte dem Mong Dsï. Mong Dsï sprach: »Glaubt dieser I Dschï wirklich, daß die Liebe eines Menschen zum Kind seines Bruders nur eben gerade wie seine Liebe zum Kindlein seines Nachbars sei? Aber der Himmel hat die Wesen so erzeugt, daß sie nur eine Wurzel haben, doch nach I Dschï müßten sie zwei Wurzeln haben.

Im grauen Altertum kam es wohl vor, daß Leute ihre Nächsten nicht beerdigten, sondern, wenn die Nächsten starben, so hob[99] man sie auf und warf sie in den Straßengraben. Wenn die Hinterbliebenen dann am andern Tag an der Stelle vorbeikamen, hatten Füchse und Wildkatzen sie angefressen, Fliegen, Maden und Maulwurfsgrillen sie benagt. Da trat ihnen der Schweiß auf die Stirn, sie schlugen die Augen nieder und wagten nicht hinzusehen. Daß sie sich schämten, war nicht um der andern willen; ihre eigene innerste Gesinnung zeigte sich in Gesicht und Augen. Sie kehrten heim und holten Körbe und Spaten und deckten sie zu. Wenn sie wirklich recht handelten, als sie die Leichen ihrer Anverwandten also beerdigten, so ist die Art, wie ein kindlicher Sohn und liebevoller Mensch seine Nächsten beerdigt, dem Sinn der Natur entsprechend.«

Sü Dsï sagte das dem I Dschï wieder. Der schwieg lange, dann sprach er: »Er hat mich belehrt.«

Fußnoten

1 Der Herzog Wen von Tong, der hier als Kronprinz auftritt, ist derselbe wie der in I, B, 13-15 erwähnte. Der hier erzählte Vorfall ist wesentlich früher. Er schließt sich an die Abreise Mongs aus Tsi an und fällt ins Jahr 311.


2 Die Beunruhigung könnte darin liegen, daß die Vorbilder eines Yau und Schun zu unerreichbar und hoch seien. Demgegenüber betont Mong, daß der Weg einer ist, daß, was jene von Natur hatten, auch durch Anstrengung errungen werden könne.


3 Tschong Giän war ein Held wie etwa Mong Ben.


4 Yän Yüan, der Lieblingsschüler Kungs, steckt sich seine Ziele höher.


5 Gung Ming I ist ein Schüler des Konfuziusjüngers Dsong Schen. Er nahm den König Wen und den Herzog von Dschou zu Vorbildern.


6 Vgl. Schu Ging IV, 8, I, 8 (Schuo Ming Piän).


7 Der Tod des alten Fürsten von Tong fällt ins Jahr 301, also zehn Jahre nach dem vorigen Abschnitt.


8 Jan Yu ist der Erzieher des Fürsten. Mong Dsï war zu jener Zeit von Sung in seine Heimat zurückgekehrt.


9 Dieses Zitat steht als Ausspruch Kungs in Lun Yü II, 5.


10 Die »Fürsten« sind hier mit Verachtung genannt. Ihre Bräuche sind die schlechten Sitten der Verfallszeit. Ihnen gegenüber appelliert Mong an das Altertum.


11 Wörtlich: »seit den drei Dynastien«.


12 Das Haus von Tong leitet sich von einem Seitenzweig des Hauses Dschou her; die Bräuche von Lu, wo der Herzog von Dschou herrschte, waren maßgebend für alle Staaten, die zur Dschoufamilie gehörten. Es ist natürlich nicht wahr, daß der Herzog von Dschou die dreijährige Trauerzeit nicht eingehalten. Die lockeren Sitten waren erst später aufgekommen.


13 Dieses Zitat findet sich in dieser Gestalt in Lun Yü nicht. Es ist eine erweiterte Kombination von Lun Yü XIV, 18 u. XII, 14. Auch hier ein Beweis, daß der Text der Lun Yü zu Mongs Zeit noch nicht feststand.


14 Vgl. Schï Ging I, XV, 1 v. 7.


15 Yang Hu oder Yang Ho ist der Usurpator in Lu, der Kung in seine Dienste nehmen wollte. Vgl. Lun Yü XVII, 1. Er hat die hier zitierten Worte natürlich in entgegengesetztem Sinne angewandt.


16 Lung Dsï wird von Dschau einfach ein Würdiger der alten Zeit genannt.


17 Vgl. Schï Ging II, VI, 8.


18 Man darf dabei nicht an Schulen moderner Art denken. Die Akademien (»Siang«) waren Orte gemeinsamer Zusammenkunft in den einzelnen Gauen, wo alte, verdiente Gaugenossen bewirtet wurden. Die Gymnasien (»Sü«) waren Orte, wo hauptsächlich das gemeinsame Bogenschießen geübt wurde. Die Lehranstalten (»Hiau«) dienten vornehmlich zur Einübung von Riten und Musik. Doch scheinen die drei genannten Anstalten ziemlich ähnlichen Zwecken gedient zu haben als Orte der Zusammenkunft zu gemeinsamen Mahlzeiten und Feiern. Die Schulen (»Hüo« oder »Da Hüo«) sind im Gegensatz zu den Gauanstalten die höchsten Anstalten in der Hauptstadt, die westlich vom Königspalast gelegen waren. Hier versammelten sich die reifsten Gelehrten der anderen Anstalten als in einer Art von Universitäten.


19 Vgl. Schï Ging II, VI, 8 v. 3.


20 Das sogenannte Brunnensystem bezeichnet die Einteilung der Felder unter Zugrundelegung des Zeichens # = dsing (Brunnen). Je neun Felder werden so angeordnet, daß das mittlere, auf dem sich der Brunnen befand, öffentliches Land war, während die acht umliegenden Felder an die einzelnen Bauern verteilt wurden, die außer ihren eigenen Feldern das öffentliche Feld im Frondienst mit bestellen mußten. Von dem Ertrag der »Brunnenfelder« wurden dann die öffentlichen Ausgaben bestritten.


21 Der göttliche Landmann (Schen Nung), der als Erfinder des Ackerbaues und der Medizin gefeiert wird, ist der zweite der drei Huang (Erhabenen), als deren erster Fu Hi »der brütende Atem« genannt wird. Schen Nung ist auch der Feuerherr. Über den dritten der Huang geht die Überlieferung auseinander. Entweder wird Sui Jen (der Feuerbohrer) oder Dschu Ying (der Schmelzer) oder Huang Di (der Herr der gelben Erde) genannt, oder wird als zweiter nach Fu Hi der oder die Nü Wa – zuweilen als seine Schwester bezeichnet – eingeschoben. Alle diese mythischen Gestalten aus grauer Vorzeit, die zum Teil Lokalsagen, zum Teil fremden Einflüssen ihre Entstehung verdanken, können natürlich keinen Anspruch auf historische Glaubwürdigkeit machen. Die hier verkündigten Lehren des göttlichen Landmanns entstammen tatsächlich der Schule des Schï Giau, eines Philosophen aus dem Staate Lu, der in seiner Betonung der »Natürlichkeit« noch weiter ging als Mo Di. Er gehörte zu den taoistischen Philosophen, und ähnlich wie Mo Di den großen Yü als Vorbild gewählt, so hatte er den Schen Nung genommen. Mong Dsï hatte Yau und Schun als Vorbilder. Die Richtung ist mit den in Dschuang Dsï erwähnten taoistischen Schulen des Sung Giän und des Pong Mong verwandt (vgl. Dschuang Dsï, Einl. S. 19/20).


22 Tschen Liang gehörte zur konfuzianischen Schule zu den »Ju«. Als »Ju« werden bezeichnet die, welche in den sechs klassischen Schriften bewandert sind, Liebe und Pflicht (Jen, J) als ihre Ideale bezeichnen, Yau, Schun, Wen, Wu, Dschou Gung, Kung Dsï als ihre Meister verehren.


23 Diese Unterhaltung zwischen dem Schüler des Naturmenschen und Mong erinnert einigermaßen an das Zusammentreffen des Dong Si und Be Fong Dsï, das in Liä Dsï IV, 11 geschildert ist. Dort war der Anarchist der gewandtere, der den Staatsrechtler abführte; hier ist die größere Zungenfertigkeit auf seiten des Mong. Im ganzen ist die Art der Beweisführung ziemlich billig und unzählige Male wiederholt worden von den Verteidigern der bestehenden Gesellschaftsordnung. Man muß es Mong zugute halten, daß seiner Anschauung moralischer Ernst zugrunde liegt, und die Ausführungen über die Entstehung der chinesischen Kultur in den Zeiten Yaus und Schuns, die eine sehr übersichtliche Darstellung der konfuzianischen Schullehren enthalten, gegenüber den vagen Mythen vom sagenhaften Schen Nung, entbehren nicht einer gewissen Wucht der Überzeugungskraft. Wenn sie natürlich auch ebensowenig geschichtlich sind wie jene phantastischen Mythen, so repräsentieren sie die Stufe der vernünftigen Mythen mit historischem Gesicht. Dieser Passus erinnert an die Ausführungen des Han Yü, mit denen er Taoisten und Buddhisten ad absurdum zu führen suchte. Vom übelsten Einfluß auf das Gebahren der Konfuzianer späterer Zeit ist dagegen der Schluß der Peroration. Die Art, wie Mong hier mit dem Hochmut des zivilisierten Edelmenschen auf die krächzenden Barbaren herabblickt, ist ein scharfer Abfall gegenüber dem Meister Kung, der in Sachen der Bildung über die Rassenunterschiede hinwegsah.


24 Hou Dsï, der Herr der Hirse, ist der sagenhafte Ahn der Dschoudynastie. Auf ihn werden hier die Werke übertragen, die anderwärts dem göttlichen Landmann, Schen Nung, zugeschrieben werden. Wir haben hier offenbar verschiedene Traditionsquellen, die nördliche, die auf Yau und Schun und Yü als Anfang der Kultur zurückgeht, und die südliche, die von Fu Hi, Schen Nung, Huang Di usw. redet. Erst später scheint eine Vereinigung der beiden Traditionen vorgenommen worden zu sein, nur daß man statt zur Identifizierung der verschiedenen Gotthelden zur zeitlichen Anordnung griff.


25 Die fünf Kornarten sind: Reis, Hirse, klebrige Hirse, Weizen, Bohnen.


26 Zu den Beamten des Schun gehörten: Yü, der Regler des Wassers, Hou Dsï, der Regler des Ackerbaues, Siä, der Lehrer des Volkes, Gau Yau, der oberste Minister.


27 Bekanntlich haben Yau und Schun das Weltreich an den geeignetsten Mann abgegeben. Ihr Verdienst liegt nach Mong nicht so sehr in der Großmut des Verzichts, als in der Weisheit der Wahl des rechten Mannes.


28 Die Worte des Kung finden sich so nicht in den Lun Yü. Sie sind kombiniert aus Lun Yü VIII, 18 u. 19.


29 Dieser Abschnitt, ebenso wie der vom »krächzenden Südbarbaren«, sind offenbar von Mong in der Hitze gesprochen. Daß er andererseits über die Nationalitätsunterschiede hinwegsieht, geht aus manchen Stellen hervor.


30 Yu Jo, ein Jünger Kungs aus Lu, der nach Kung Men Schï Di Niän Biau vierzehn Jahre jünger als Kung war, scheint diesem äußerlich ähnlich gewesen zu sein. Er hat offenbar in den Schulkreisen eine große Rolle gespielt, da er selbst im Lun Yü als Meister Yu bezeichnet wird.


31 Vgl. Schï Ging IV, II, 4 v. 6. Jung, Di, Ging, Schu sind Namen verschiedener Barbarenstämme.


32 Mo Di, der Lehrer der allgemeinen Menschenliebe, muß etwa ein Zeitgenosse von Kung gewesen sein. Seine Lehren breiteten sich sehr aus, und ihre Anhänger gehörten zu den gefährlichsten Gegnern des Mong, gegen die er seine schärfsten Pfeile sendet. Seine Gesinnung zeigt sich in der Ablehnung des Besuchs des Mo-Schülers I Dschï. Der ganze Verkehr wird indirekt geführt.


33 Die Theorie des Mo Di war, daß die Liebe zu allen Menschen gleichartig sein müsse. Ein Unterschied finde nur insofern statt, als innerhalb der Familie natürlich die meiste Gelegenheit zu ihrer Ausübung sei. Das war der Theorie der Schriftgelehrten strikt entgegengesetzt, nach der die Klassifikation der menschlichen Beziehungen in die bekannten fünf Verhältnisse (Vater – Sohn, Fürst – Untertan, Mann – Frau, älterer – jüngerer Bruder, Freund – Freund) die Grundlage der Moral war. Die Liebe zu anderen Menschen als zu den Verwandten ist daher nach Mong nur abgeleiteter Art, indem aus der Wurzel der Kindesliebe die Liebe zu anderen Eltern hervorwächst usw. Wenn daher die Liebe zum Kinde des Nachbars gegenüber der Liebe zum Kinde des Bruders eine selbständige, direkte Größe wäre, so hätte sie eine besondere Wurzel. Die Einheitlichkeit der Grundlage der Moral wäre damit gefährdet. Man wird zugeben müssen, daß diese Argumentation bedenkliche Schwächen hat.

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 99-100.
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