2. Aporieen inbetreff des Seins.

[286] Der Begriff des Nichtseins erwies sich schwierig. Aber schließt der des Seins irgend geringere Schwierigkeiten ein?[286]

A) »Die Alten« (die Vorsokratiker) haben drauflos definiert, wie viel und wie beschaffen das Sein sei. Versteht man dabei etwas, versteht man, was unter dem Sein selbst, von dem dies alles ausgesagt wird, eigentlich gedacht wird? Davon hätte methodischerweise (243 D) zu allererst Rechenschaft gegeben werden müssen.

Zum Beispiel, man sagt, das Sein ist Zweierlei, etwa Warmes und Kaltes. Was besagt hier das Subjekt: das Sein, von dem diese zweifache Beschaffenheit ausgesagt wird? Besagt es ein Drittes, so daß in Wahrheit nicht Zwei wären, sondern Drei? Jedenfalls kann es nicht Eins von jenen Beiden besagen wollen, da dann nur Eins und nicht Zwei wären. – Oder man sagt, es sei Eines. Besagt dann »Sein« dasselbe wie »Eines«? Sind »Eins« und »seiend« nur zwei Namen einer Sache? Aber wieso zwei Namen, wieso auch nur ein Name einer Sache, wenn überhaupt nur Eines ist? Name und Sache wären ja auch schon Zwei, da doch der Name nicht Name von Nichts oder Name des Namens sein soll, sondern der Sache, als eines Andern denn der Name selbst.

Ferner, wenn das eine Seiende nach PARMENIDES ein Ganzes sein soll, wenn er es schildert als »von der Mitte nach allen Seiten gleich«, so scheint es Mitte und Enden, also Teile zu haben. Nun ist zwar ein Geteiltes, sofern man die Allheit der Teile im Sinn hat, eben ein Ganzes, aber es ist schon nicht mehr das Eine selbst; das Eine, nach seinem bloßen Begriff (alêthôs hen, wie Parm. 159 C), müßte ohne alle Vielheit, also ohne Teile sein. Wollte man aber darum etwa auf das Prädikat der Ganzheit verzichten, so würde das Sein »an sich selber Mangel haben« (245 C, hindeutend auf den Vers des PARMENIDES, 8, 33, DIELS); als seiner selbst beraubt wäre es aber (insofern) nichtseiend. Andernfalls wird es ein Mehreres schon insofern, als die Begriffe des Seienden und des Ganzen verschieden sind. Sollte aber der Begriff des Ganzen überhaupt ausfallen, so ließe sich weder Sein noch Werden noch Quantität u.s.f. aussagen, denn was ist oder wird, ist oder wird ganz, was so und so viel ist, ist ganz so viel, und so fort; womit, wie man leicht ersieht, auf einen unaufheblichen logischen Zusammenhang des Begriffs des Ganzen (wie oben des Begriffs des Einen) mit dem ganzen System der Grundbegriffe hingedeutet wird.

Und solcher Schwierigkeiten gibt es unzählige, die einer besonderen Ausführung nicht bedürfen. Leicht hätte sich in[287] der Tat dieselbe Betrachtung durch die ganze Reihe der im Parmenides behandelten Begriffe durchführen lassen. Es genügt aber die Aufdeckung des Grundfehlers der Methode: Man hat getrost über das, was sei, allerhand Aussagen getan, ohne allererst über den Begriff des Seins selbst Rechenschaft gegeben zu haben. Der naive Dogmatismus der älteren Philosophie ist damit scharf und zutreffend gekennzeichnet. –

Diese Deduktion führt über das in den Aporieen des Nichtseins Gewonnene, doch in gleicher Richtung, einen Schritt weiter. Schon aus jenen ergab sich der allgemeine Sinn des »Seins«, der allen Aussageinhalt umfaßt. »Das« Sein selbst ist etwas Andres als wovon es ausgesagt wird, es sei Eines oder Mehreres oder was auch immer. Im ersten Fall ist es selbst, das Sein, nicht das Eine, im zweiten nicht das Mehrere, und so durchweg. Es selbst ist nicht Eines oder Mehreres u.s.f., oder nicht in dem Sinne, wie dies von dem, was ist, gilt. Wohl aber legt jede einzelne dieser Bestimmungen des Was die des Seins »selbst« schon zu Grunde. Um so weniger kann sie dienen diese zu definieren. Dagegen werden umgekehrt aus dem reinen übergeordneten Begriff des Seins alle solche Bestimmungen fließen, durch die man das reine Sein zu definieren versucht, z.B. Ganzheit: Was immer ist oder wird, ist oder wird ganz, indem im Begriff des Seins (und damit auch des Werdens, als Werdens zum Sein), infolge seines an sich unbeschränkten Bejahungssinnes, die Forderung der Ganzheit liegt. So hängen alle Urbegriffe des Denkens an diesem letzten des reinen Seins, und muß dieser auf alle führen, sie müssen in ihm in der strengen Geschlossenheit eines Systems zusammenhängen, wie es, der Sache nach, im Parmenides gezeigt worden ist, im Sophisten weiterhin deutlicher zutage kommen wird.

B) Von all den Naiven, die in solchem Sinne mit der Sache »fertig« zu sein und darüber »ganz genau Auskunft gegeben« zu haben meinten, wird, leider ohne deutlichere Charakteristik, eine andre Gruppe von Philosophen unterschieden, die sich »anders« über die Frage erklärten (245 E). Aus dem weiter Folgenden geht aber soviel hervor, daß es sich um Zeitgenossen, also um nachsokratische Philosophen handeln muß, vermutlich eben um solche, die durch die Schule des SOKRATES gegangen waren und so doch eine Ahnung von Kritik zu dieser Frage mitbrachten, die nach dem Begriff zu fragen doch nicht ganz unterließen. Es ist der »Gigantenkampf« zwischen dem[288] sensualistischen Materialismus, wie wir annehmen, der Kyniker, einerseits, dem Idealismus der eignen Schule PLATOS andrerseits, den er mit der gewohnten Überlegenheit der Ironie uns vorführt.

Die Ersteren möchten als seiend nur den Körper zugeben. Sie sehen sich aber doch genötigt, einiges Nichtkörperliche hinterher gelten zu lassen. Also fragt es sich nach der auf Beides gemeinsam zutreffenden Definition des Seienden. Als solche wird versuchsweise aufgestellt: Seiend ist, was irgend eine Kraft oder Vermögen (dynamis) des Wirkens oder Erleidens besitzt; kurz: Sein ist Vermögen. – Dies ist offenbar nicht eine Definition, welche jene Philosophen selbst gebraucht hatten, sondern PLATO leiht sie ihnen oder bietet sie ihnen an (schießt sie ihnen vor, proteinomenôn hêmôn, 247 D) als etwas, das sie nach ihren Begriffen am ehesten gelten lassen würden. Man muß in ihr darum aber nicht sogleich Platos Definition des Seins suchen. Zwar hat, er den Begriff des Vermögens in seiner Wichtigkeit erkannt und mehrfach erörtert, aber überhaupt das Sein dadurch zu definieren, war für ihn, aus den sogleich anzugebenden, aus dem Zusammenhang, in dem diese ganze Darlegung steht, ersichtlichen Gründen, untunlich. Erstens müßte der Begriff des Vermögens, desgleichen der des Wirkens und des Leidens, voraus selbst definiert sein; deren Definition aber würde den Begriff des Seins offenbar schon voraussetzen, was eben überhaupt von jedem Versuch gilt, das Sein durch irgend etwas Andres (als sein vermeintliches logisches Prius) zu definieren. Überdies unterläge die Definition derselben Kritik wie die später folgende durch Ruhe und Bewegung: Vermögen des Wirkens und Leidens, aktive und passive Potenz wäre wiederum ein Zweifaches, es würde sich also, wie oben beim Warmen und Kalten, erst nach dem Dritten fragen, das Beiden gemeinsam sei, da doch das Sein selbst in Bezug auf Beide Eins und dasselbe sein muß. Also wird man die Andeutung (247 E) ganz ernst zu nehmen haben: daß es sich hernach wohl wieder anders herausstellen wird, sowohl uns als jenen selbst. Eine nachträgliche Berichtigung folgt zwar wirklich nicht, aber sie ist indirekt aus den später folgenden Bestimmungen leicht zu entnehmen.

Nun will die andre Partei, die der »Ideenfreunde«, das Wirken und Leiden den Sinnendingen oder der Welt des Werdens, die sie von der des wahrhaften Seins scheidet und ihr schroff gegenüberstellt, zwar zugestehen, leugnet es aber von diesem[289] wahrhaften, unwandelbaren, unbeweglichen Sein, den unkörperlichen Begriffen (eidê). Allein man muß doch wenigstens zugeben, daß das Sein erkannt wird; das ist aber schon ein Erleiden, ja ein Bewegtwerden, wie das Erkennen ein Tun (248 E). Überhaupt wird man Bewegung und Wirken dem, was ist, nicht absprechen dürfen, wenn wenigstens nicht Leben, Seele, Bewußtsein, Vernunft ihm mangeln soll, damit es nur recht hehr und heilig, unbeweglich dastehe. (Man erinnert sich an die in der Natur dastehenden Musterbilder, Parm. 132 D, Theaet. 176 E u. ö.) Damit aber würde man auf Erkenntnis, Bewußtsein, Vernunft überhaupt verzichten, womit alle Philosophie aufgehoben wäre (249 CD). Also darf man ebenso wenig behaupten, daß alles stillstehe, wie andrerseits, daß alles in Bewegung sei; (daß auch damit alle Erkenntnis aufgehoben wäre, durfte aus dem Theaetet und Kratylus vorausgesetzt werden;) sondern man muß Beides, Ruhendes und Bewegtes, miteinander als seiend anerkennen. Aber damit fällt man nun wieder in dieselbe Schwierigkeit, an der jede dualistische Erklärung des Seins scheitert: Nicht Stillstand noch Bewegung wird dann das Sein definieren, sondern man müßte ein Drittes nennen, welches Beide umfaßt, an welchem Beide teilhaben; dies erst wird dann das Sein selbst sein, und es wird, seiner Natur nach, weder ruhend noch bewegt sein. Damit hat die aporetische Erörterung ihr Ende erreicht (205 E). –

Um aus den nicht geringen Schwierigkeiten dieser Argumentation gegen die »Ideenfreunde« sich herauszuwinden, hat man vor allem festzuhalten: Es soll an dieser wie an den übrigen Aufstellungen über das Sein vor allem der Fehler des Dogmatismus nachgewiesen werden, daß man von Dingen (Seienden, onta) allerlei Aussagen zu tun wagt, ohne sich von dem Begriff des Seins selbst zuvor Rechenschaft gegeben zu haben. Man glaubt die Frage nach dem Begriff des Seins zu beantworten, indem man irgend etwas dinglich Vorgestelltes als das Seiende angibt, ohne zu merken, daß man, um etwas als Ding d.i. Seiendes zu setzen, das Sein schon definiert haben müßte. Es entspricht nur dieser schließlichen Absicht der Beweisführung, daß die Begriffe (eidê), die nach der bestrittenen Theorie das Sein darstellen sollen, hierbei ganz wie Dinge vorgestellt, daß Ideen und Sinnendinge, ganz wie schon im ersten Teil des Parmenides, als zwei Klassen von Dingen nebeneinandergestellt, und für die Ersteren, da doch sie besonders das Seiende vertreten[290] sollen, Leben, Beseelung, Vernunft, mithin auch Bewegung verlangt wird, damit doch dem Seienden nicht diese so wesentlich zu ihm gehörenden Prädikate abgehen. Damit wird aber zuletzt nur bewiesen, daß auch diese Theorie über das Seiende ein Doppeltes und zwar Entgegengesetztes, Ruhe und Bewegung, als gleich ursprünglich seiend vorauszusetzen genötigt ist, also demselben formalen Fehler unterliegt wie die entgegengesetzte, materialistische Theorie, nämlich daß sie das Sein selbst, wenn überhaupt, nur durch solche, und zwar jetzt zwei einander entgegengesetzte Begriffe zu definieren vermöchte, die selbst den Begriff des Seins schon voraussetzen.

Also hat PLATO nicht etwa seinerseits Begriffe als beseelte, vernunftbegabte Dinge, als eine Art Geister behaupten wollen, wie einige Forscher höchst wunderlicher Weise aus dieser Stelle geschlossen haben. Das ist schon deshalb unmöglich, weil doch diese ganze Lehre völlig als eine fremde eingeführt und auf gleicher Linie mit den sonstigen dogmatischen Thesen über das Sein widerlegt wird. Das alles ist vielmehr mit voller Absicht vom Standpunkt jener dogmatischen Weise der Beantwortung der Frage nach dem Sein durch Angabe von Dingen oder Wirklichkeiten gesagt, die sich gleich darauf als methodisch grundverkehrt und unmöglich erweist.

Ernsthaft würde PLATO von allem nur das festhalten, daß die, nicht als Dinge, sondern als Erkenntnisfunktionen zu verstehenden Ideen nicht der wechselseitigen und wechselnden Bezüglichkeit entbehren dürfen, wenn Erkenntnis möglich sein soll. Darauf weist besonders die Erklärung, die so bedeutsam am Schluß dieser ganzen Kritik steht: Gegen den sei mit allem Grund zu streiten, der Erkenntnis, Besinnung, Vernunft aufhebe und dann noch, worüber es auch sei, was auch immer für eine Behauptung aufstellen wolle (249 C). Allerdings folgt daraus, daß also Beides mit einander, Ruhe und Bewegung, zu behaupten sei. Auch soll es in der Tat bestehen bleiben, daß Beide und zwar sehr fundamentaler Weise vom Sein auszusagen sind; nur nicht in dem Sinne, daß durch sie das Sein definiert würde. Sondern es bleibt der Urbegriff, den alle andern (so auch diese) und der selbst keinen (auch nicht diese) voraussetzt.

Dieser Urbegriff – um die Lösung voraus anzudeuten – besagt die Verknüpfung überhaupt. Er begründet erst alle besondern Verknüpfungsarten, damit aber, wie sich zeigen[291] wird, eben eine Unendlichkeit wechselseitiger und wechselnder Beziehungen; worunter mit andern auch diese: Ruhe und Bewegung. Es fehlt also Leben, Seele und Bewegung dem Sein in der Tat nicht. Nur in sich, seinem eignen Begriff nach, ist es etwas Radikaleres auch als diese so fundamentalen, so unabweislichen Begriffe, ebenso wie es etwas Radikaleres ist als die Begriffe des aktiven und passiven Vermögens, des Einen und Vielen, des Ganzen und Teils, und was sonst noch alles im Laufe dieser kritischen Erörterung gelegentlich zum Vorschein gekommen, aber nicht in irgendwie befriedigender Ableitung festgestellt war. Denn Sein ist der letzte Ausdruck der Denksetzung überhaupt, mithin des Urteils, der Aussage, des Logos selbst, daher in allem besonders Ausgesagten notwendiger Weise schon eingeschlossen, also durch nichts im Besondern Ausgesagtes zu erklären, sondern schlechthin an die Spitze zu stellen. Aussage aber ist allgemein Verknüpfung, also ist das Sein Allgemeinausdruck der Verknüpfung, und alsdann erst zu entwickeln in die Grundarten der Verknüpfung, also der Prädikation (die Kategorieen), die wiederum allen besonderen Prädikationen zu Grunde liegen und sie erst möglich machen. Und das sind die Ideen im echten, platonischen Sinn: die reinen Methodenbegriffe der Erkenntnis; während die Meinung von jenen dinghaften Begriffen oder »Gestalten«, sehr bezeichnend, geradezu als eine fremde Lehre objektiv historisch erwähnt, gleich den übrigen historischen Dogmatismen über das Sein ironisiert, und desselben methodischen Grundfehlers überwiesen wird, der überhaupt der Fehler des Dogmatismus ist: daß man drauflos definiert, was »die Seienden« sind, bevor man auch nur gefragt hat, was der Fundamentalbegriff des Seins selber ist.

Aber wer sind die »Ideenfreunde«? Wen soll man sich als Vertreter dieser von PLATO abgelehnten und doch genau in der Terminologie der früheren Dialoge PLATOS ausgedrückten Lehre denken? – Nachdem wir im PARMENIDES bereits PLATO selbst die von seinen Schülern mißverstandene Ideenlehre bestreiten, ja erbarmungslos zerpflücken sahen, kann die Annahme nicht dem geringsten Bedenken mehr unterliegen, daß wir es auch hier mit der Ideenlehre in der Gestalt zu tun haben, in der sie von Schülern PLATOS unter starken Mißverständnissen und in mehr und mehr offenbar werdendem Widerspruch gegen dessen eigne, gleichzeitig mehr und mehr vertiefte[292] Auffassung vertreten wurde. Man weiß allgemein, daß es in PLATOS Schule kein Schwören auf die Worte des Lehrers gab. ARISTOTELES hatte aller Wahrscheinlichkeit nach diese Schule noch nicht verlassen, als er bereits gegen den Meister selbst mit der gänzlich ablehnenden, von schweren Mißverständnissen keineswegs freizusprechenden, auch im Ton nicht immer ehrerbietigen Kritik auftrat, deren konzentriertester Extrakt nur in der Metaphysik erhalten ist. Also hat man hinter den »Ideenfreunden« des Sophisten niemand anders zu suchen als solche Platoniker, die nicht mit dem Meister fortgeschritten, sondern bei der oberflächlichen, dinghaften Auffassung der Ideen stehen geblieben waren, die PLATOS eigne frühere Schriften in zahlreichen metaphorischen Wendungen zwar nicht meinten, aber nahelegten, gegen die er dann aber, je mehr sie ihm bei Andern, Freunden wie Gegnern, regelmäßig unter Anwendung seiner eignen Terminologie, gegenübertrat, umso nachdrücklicher Stellung zu nehmen nötig fand. Da ist es denn sehr beachtenswert, daß als charakteristisch für die fragliche Meinung (248 A) gerade die Sonderstellung der »Gestalten« oder Begriffe, als »getrennt« (chôris) von der Körperwelt und dem Werden, betont wird, das heißt, genau jene verkehrte Auffassung der Ideen, die wir im PARMENIDES kennen lernten, und die – ARISTOTELES seiner zwischen PLATO und den Platonikern meist nicht unterscheidenden Kritik der Ideenlehre hartnäckig zu Grunde legt. Auch hier, wie beim Parmenides, muß, wer selber von PLATOS Ideen keinen andern Begriff hat, sich unbedingt für die Athetese entscheiden. Und doch könnte er sich diesmal auch nicht mit irgendwelchem Schein auf das Schweigen des ARISTOTELES berufen, denn es kann nicht gut bezweifelt werden, daß dieser sich in zwei Stellen der Metaphysik auf unseren Dialog bezieht.22

Mit den letzten Festsetzungen ist wieder ein großer Schritt vorwärts getan. So wenig es PLATOS Meinung sein kann, daß das reine Sein durch das Vermögen des Wirkens und Erleidens[293] oder durch Stillstand und Bewegung zu definieren sei, so ernst will die Aufstellung genommen sein, daß Beides, Stillstand und Bewegung, und damit auch Wirken und Erleiden, also Vermögen, den Ideen, und durch sie allem, was ist, zukommen muß, weil es sonst mit Leben, Seele, Bewußtsein, Erkenntnis, also auch Philosophie, überhaupt vorbei wäre. Die Ideen, und damit das Sein, stehen fortan nicht mehr, wie noch im Theaetet, unbeweglich, »hehr und heilig« da, sondern Bewegung, Leben, Seele sind in sie selbst voll aufgenommen, sie sind durch sie nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern von Haus aus in ihnen angelegt und gegründet. Doch werden damit nicht sie selbst zu etwas Bewegten, Lebendigen, Beseelten, zu Dingen, denen Bewegung, Leben, Seele bloß zukäme, sondern sie sind das, was Bewegung, Leben, Seele den Dingen erst mitteilt, also den Grund zu ihnen in sich trägt So aber sind beide, Bewegung wie Ruhe, nicht nur überhaupt im Sein, sondern schon im Bereiche des reinen Seins, nämlich der Ideen, anzuerkennen. Es steht nicht länger auf der einen Seite, der der an den Ideen bloß teilhabenden Dinge, die Bewegung, auf der andern, der des reinen Seins der Ideen, bewegungslose Ruhe, sondern beide miteinander (xynamphotera 249 D) gelten von beiden: von den Ideen und darum von allem, was an diesen teilhat, d.h. von allem, was, ihnen gemäß, im Besondern »ist«. So war es nach den früheren Entscheidungen über die Lehren des Heraklit und der Eleaten zu erwarten; die nachfolgenden Ausführungen über die Korrelativität aller reinen Seinsbestimmungen, unter denen obenan diese zwei, Ruhe und Bewegung, stehen, werden es bestätigen. Schon nach dem Parmenides war es nicht anders möglich; doch wird, was dort in schwierigster Verhüllung sich mehr andeutete als aussprach, jetzt offen und gradezu aufgestellt, es wird die Hülle gleichsam weggezogen, die dem nicht ganz zur Tiefe Dringenden das Geheimnis dort noch verbarg.

Die Bedeutung dieser man darf schon sagen umwälzenden Entdeckung wird besonders fühlbar, wenn man gerade an die weitestgehenden bisherigen Zugeständnisse an das Werden zurückdenkt und dann das jetzt Gewonnene damit vergleicht. Gegenüber der sonstigen einseitigen Betonung der Unwandelbarkeit der Eide bedeutete es schon einen mächtigen Fortschritt, wenn im Phaedo ein Eidos des Lebens selbst aufgestellt, allgemein aber der »Grund« des Werdens und Vergehens nicht nur in den Eide, sondern im ganzen Sinn, nämlich der Hypothesisgeltung [294] des Eidos selbst aufgezeigt wurde. Aber das Eidos »selbst« und auch die Eide blieben dabei immer in sich bewegungslos, Bewegung, Wirken und Erleiden, Werden und Vergehen verblieben rein und ausschließlich auf der Seite der an den Ideen bloß teilhabenden Dinge. Ebenso, wenn im Theaetet (155 E) ausgesprochen wurde, daß auch Handlung und Werden, Geschehen, damit auch Wirken und Leiden und das Vermögen zu beiden, zum Sein (en ousias merei) zu rechnen sind, hat das etwa den gleichen Sinn, wie wenn, nach Phaedo 78 f., Unwandelbares und Wandelbares als die »Arten« des Seins unterschieden werden, die zusammen dessen Umfang ausmessen. Die Wesenheit auch der Handlung, des Werdens selbst bleibt dabei, eben als Wesenheit, so unwandelbar ruhend, wie überhaupt, gerade nach dem Theaetet (176 E), die Eide als Musterbilder »im Sein dastehen«, unberührt von aller Wandelbarkeit und bloßen Bezüglichkeit der Erscheinung. Nicht auf sie selbst erstreckt sich in irgendeinem Sinne Werden und Wirken, wohl aber umgekehrt sie auf diese. Weit darüber hinaus geht die nun erreichte Einsicht, wonach das Vermögen zu Wirken und Leiden und damit Bewegung, Leben, Seele geradezu zum Begriff dessen, was ist, gehört, was voraussetzt, daß dies alles auch schon im Urbegriff des Seins selbst angelegt sein und aus ihm fließen muß. Es fordert in dieser Hinsicht noch besondere Aufmerksamkeit, daß mit den genannten Bestimmungen auch Vernunft, Besinnung, Erkenntnis in unmittelbarer Verbindung auftreten. Auch sie, und damit alle Philosophie, würden zunichte, wenn nicht Bewegung, Leben, Seele dem reinen Sein, und zwar schon seinem Begriff zufolge, zukämen. Man könnte erwarten, daß dies von der Korrelativität des Seins und Denkens aus begründet würde. Aber auch so, wie es dasteht, setzt es voraus, daß Denken und Erkenntnis nicht länger, wie besonders im Phaedo, bloß die Ruheansicht der Dinge vertreten, sondern die Bewegung voll in sich selbst aufgenommen haben. Die Kluft, die durch die Verteilung von Ruhe und Bewegung auf zwei schroff geschiedene Seinsbereiche, im Ganzen des Seins wie der Erkenntnis aufgerissen war, kann sich nur dadurch wieder schließen, daß zugleich in beiden, Sein wie Erkenntnis, beides, Bewegung und Ruhe, sich gleichermaßen und gleich ursprünglich, auf die Grundgestaltungsweisen (die Eide) wie auf alles durch sie sich Gestaltende (die Erscheinungen) erstreckt. Beides muß also wohl seiner ganzen Begründung nach, im[295] Sein wie in der Erkenntnis, wie an Sein und Nichtsein, so an Ruhe und Bewegung Teil und zwar gleichen Teil haben, und es werden auch diese beiden Begriffspaare (Sein – Nichtsein, Ruhe – Bewegung) unter sich in zwingender Korrelation stehen. Das alles ist für den Mitdenkenden hier schon abzusehen, wie es ebenfalls vom Parmenides aus sich nahelegt. Die weiteren Darlegungen unseres Dialogs werden es bestätigen.

22

Metaph. VI 2, 1026 b 14, vgl. XI 8, 1064 b 29 bezieht sich zweifellos auf Pl. Soph. 254 A. Der von mir selbst erhobene Zweifel gegen die Echtheit des ganzen Buches XI macht die Beziehung nicht etwa unsicher, wie ZELLER, Philos. d. Gr, II a S. 447, Anm. 2 meint, da der Sache nach Dasselbe auch VI 2 steht. Jedenfalls beweist die Stelle in XI, daß man die in VI nur auf den Sophisten zu beziehen gewußt hat. Ebenfalls schwerlich zu bestreiten ist die Beziehung von Metaph. XIV 2, 1089 a 1-5 auf Pl. Soph. 237 A und 242 A.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 286-296.
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