[31]

[919] Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls.

[534]


Die beiden extremsten Denkweisen – die mechanistische und die platonische – kommen überein in der ewigen Wiederkunft: beide als Ideale.

[1061]


– »Die Krankheit macht den Menschen besser«: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, gibt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: gibt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die »Verbesserung des Menschen«, im großen betrachtet, z. B. die unleugbare Milderung, Vermenschlichung, Vergutmütigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends – ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißratens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat »die Krankheit« den Europäer »besser gemacht«? Oder anders gefragt: ist unsre Moralität – unsre moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge, – der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs?... Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo »der Mensch« sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Mut oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: »je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so ›unmoralischer‹ wird er[919] auch«. Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden teurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern – die Vermenschlichung, die »Verbesserung«, die wachsende »Zivilisierung« des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und »jeder jedermanns Krankenpfleger« wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten »Frieden auf Erden«! Aber auch so wenig »Wohlgefallen aneinander«! So wenig Schönheit, Übermut, Wagnis, Gefahr! So wenig »Werke«, um derentwillen es sich lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine »Taten« mehr! Alle großen Werke und Taten, welche stehngeblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden, – waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten?...

[395]
[920]

Kritik des bisherigen Pessimismus. – Abwehr der eudämonologischen Gesichtspunkte als letzte Reduktion auf die Frage; welchen Sinn hat es? Reduktion der Verdüsterung. –

Unser Pessimismus: die Welt ist nicht das wert, was wir glaubten, – unser Glaube selber hat unsre Triebe nach Erkenntnis so gesteigert, daß wir dies heute sagen müssen. Zunächst gilt sie damit als weniger wert: sie wird so zunächst empfunden, – nur in diesem Sinne sind wir Pessimisten, nämlich mit dem Willen, uns rückhaltlos diese Umwertung einzugestehen und uns nichts nach alter Weise vorzuleiern, vorzulügen.

Gerade damit finden wir das Pathos, welches uns treibt, neue Werte zu suchen. In summa: die Welt könnte viel mehr wert sein, als wir glaubten, – wir müssen hinter die Naivität unsrer Ideale kommen, und daß wir vielleicht im Bewußtsein, ihr die höchste Interpretation zu geben, unserm menschlichen Dasein nicht einmal einen mäßig-billigen Wert gegeben haben.

Was ist vergöttert worden? – Die Wertinstinkte innerhalb der Gemeinde (das, was deren Fortdauer ermöglichte).

Was ist verleumdet worden? – Das, was die höheren Menschen abtrennte von den niederen, die Klüfte-schaffenden Triebe.

[32]


Aus der Kriegsschule der Seele. (Den Tapfern, den Frohgemuten, den Enthaltsamen geweiht.)

Ich möchte die liebenswürdigen Tugenden nicht unterschätzen; aber die Größe der Seele verträgt sich nicht mit ihnen. Auch in den Künsten schließt der große Stil das Gefällige aus.

In Zeiten schmerzhafter Spannung und Verwundbarkeit wähle den Krieg: er härtet ab, er macht Muskel.[921]

Die tief Verwundeten haben das olympische Lachen; man hat nur, was man nötig hat.

Es dauert zehn Jahre schon: kein Laut mehr erreicht mich – ein Land ohne Regen. Man muß viel Menschlichkeit übrig haben, um in der Dürre nicht zu verschmachten.

[1040]


Bei den Ehen im bürgerlichen Sinne des Wortes, wohlverstanden im achtbarsten Sinne des Wortes »Ehe«, handelt es sich ganz und gar nicht um Liebe, ebenso wenig als es sich dabei um Geld handelt – aus der Liebe läßt sich keine Institution machen –: sondern um die gesellschaftliche Erlaubnis, die zwei Personen zur Geschlechtsbefriedigung aneinander erteilt wird, unter Bedingungen, wie sich von selbst versteht, aber solchen, welche das Interesse der Gesellschaft im Auge haben. Daß einiges Wohlgefallen der Beteiligten und sehr viel guter Wille – Wille zur Geduld, Verträglichkeit, Fürsorge füreinander – zu den Voraussetzungen eines solchen Vertrags gehören wird, liegt auf der Hand; aber das Wort Liebe sollte man dafür nicht mißbrauchen! Für zwei Liebende im ganzen und starken Sinn des Wortes ist eben die Geschlechtsbefriedigung nichts Wesentliches und eigentlich nur ein Symbol: für den einen Teil, wie gesagt, Symbol der unbedingten Unterwerfung, für den andern Symbol der Zustimmung zu ihr, Zeichen der Besitzergreifung. – Bei der Ehe im adeligen, altadeligen Sinne des Wortes handelte es sich um Züchtung einer Rasse (gibt es heute noch Adel? Quaeritur) – also um Aufrechterhaltung eines festen, bestimmten Typus herrschender Menschen: diesem Gesichtspunkt wurde Mann und Weib geopfert. Es versteht sich, daß hier bei nicht Liebe das erste Erfordernis war, im Gegenteil! und noch nicht einmal jenes Maß von gutem Willen füreinander, welches die gute bürgerliche Ehe bedingt. Das Interesse eines Geschlechts zunächst entschied, und über ihm – der Stand. Wir würden vor der Kälte, Strenge und rechnenden Klarheit eines solchen vornehmen Ehe-Begriffs, wie er bei jeder gesunden Aristokratie geherrscht hat, im alten Athen wie noch im Europa des 18. Jahrhunderts, ein wenig frösteln, wir warmblütigen Tiere mit kitzlichem Herzen, wir »Modernen«! Eben deshalb ist die Liebe als Passion – nach dem großen Verstande des Wortes[922] – für die aristokratische Welt erfunden worden und in ihr: da, wo der Zwang, die Entbehrung eben am größten waren...

[732]


Auch ein Gebot der Menschenliebe. – Es gibt Fälle, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde: bei chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Grades. Was hat man da zu tun? – Solche zur Keuschheit ermutigen, etwa mit Hilfe von Parsifal-Musik, mag immerhin versucht werden: Parsifal selbst, dieser typische Idiot, hatte nur zu viel Gründe, sich nicht fortzupflanzen. Der Übelstand ist, daß eine gewisse Unfähigkeit, sich zu »beherrschen« (– auf Reize, auf noch so kleine Geschlechtsreize nicht zu reagieren), gerade zu den regelmäßigsten Folgen der Gesamt-Erschöpfung gehört. Man würde sich verrechnen, wenn man sich zum Beispiel einen Leopardi als keusch vorstellte. Der Priester, der Moralist spielen da ein verlorenes Spiel; besser tut man noch, in die Apotheke zu schicken. Zuletzt hat hier die Gesellschaft eine Pflicht zu erfüllen: es gibt wenige dergestalt dringliche und grundsätzliche Forderungen an sie. Die Gesellschaft, als Großmandatar des Lebens, hat jedes verfehlte Leben vor dem Leben selber zu verantworten – sie hat es auch zu büßen: folglich soll sie es verhindern. Die Gesellschaft soll in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen: sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Kastrationen in Bereitschaft halten. – Das Bibel-Verbot »du sollst nicht töten!« ist eine Naivität im Vergleich zum Ernst des Lebens-Verbots an die décadents: »ihr sollt nicht zeugen!«... Das Leben selbst erkennt keine Solidarität, kein »gleiches Recht« zwischen gesunden und entartenden Teilen eines Organismus an: letztere muß man ausschneiden – oder das Ganze geht zugrunde. – Mitleiden mit den décadents, gleiche Rechte auch für die Mißratenen – das wäre die tiefste Unmoralität, das wäre die Widernatur selbst als Moral!

[734]


Zur Vernunft des Lebens. – Eine relative Keuschheit, eine grundsätzliche und kluge Vorsicht vor Eroticis selbst in Gedanken, kann zur großen Vernunft des Lebens auch bei reich ausgestatteten und ganzen Naturen gehören. Der Satz gilt insonderheit von den Künstlern, er gehört zu deren bester Lebens-Weisheit. Völlig unverdächtige Stimmen[923] sind schon in diesem Sinne laut geworden: ich nenne Stendhal, Th. Gautier, auch Flaubert. Der Künstler ist vielleicht seiner Art nach mit Notwendigkeit ein sinnlicher Mensch, erregbar überhaupt, zugänglich in jedem Sinne, dem Reize, der Suggestion des Reizes schon von fern her entgegenkommend. Trotzdem ist er im Durchschnitt, unter der Gewalt seiner Aufgabe, seines Willens zur Meisterschaft, tatsächlich ein mäßiger, oft sogar ein keuscher Mensch. Sein dominierender Instinkt will es so von ihm: er erlaubt ihm nicht, sich auf diese oder jene Weise auszugeben. Es ist ein und dieselbe Kraft, die man in der Kunst-Konzeption und die man im geschlechtlichen Aktus ausgibt: es gibt nur eine Art Kraft. Hier zu unterliegen, hier sich zu verschwenden ist für einen Künstler verräterisch: es verrät den Mangel an Instinkt, an Wille überhaupt, es kann ein Zeichen von décadence sein – es entwertet jedenfalls bis zu einem unausrechenbaren Grade seine Kunst.

[815] [924]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 919-925.
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