12.
An Franziska Nietzsche und Elisabeth Nietzsche

[947] [Bonn, Ende Dezember 1864]


Liebe Mama und Lisbeth, gar zu gern möchte ich Euch einen Neujahrswunsch in Versen zuschicken, da ich Eure Vorliebe dafür kenne, aber es geht halt nimmer! Sei es nun, daß meine Ansprüche an ein Gedicht sehr gestiegen sind, sei es daß ich um einige Prozent nüchterner und – praktischer geworden bin, was gar nicht schaden könnte, – sei es endlich, daß die diabolischen Zahnschmerzen, die mich quälen, mir jede Begeisterung verjagen, fest steht, daß Verse mir heute nicht glücken. Darum wird notgedrungen Prosa antreten müssen. Dies zur Erklärung der Form meines Briefs.

Ich liebe die Silvesternächte und die Geburtstage. Denn sie geben uns Stunden, wie man sie sich freilich oft machen kann, aber nur zu selten sich macht, wo die Seele stillesteht und einen Abschnitt der eignen Entwicklung übersehen kann. In solchen Stunden werden entscheidende Vorsätze geboren. Ich pflege dann immer die Manuskripte und Briefe des verflossenen Jahres vorzunehmen und mir einige Notizen zu machen. Man ist für ein paar Stunden erhaben über die Zeit und tritt fast aus der eignen Entwicklung heraus. Man sichert und verbrieft sich die Vergangenheit und bekommt Mut und Entschlossenheit,[947] wieder weiter seine Bahnen zu gehen. Es ist schön, wenn auf die Entschlüsse und Vorsätze der Seele – gleichsam die erste junge Saat der Zukunft – die Wünsche und Segnungen der Verwandten wie ein milder Regen fallen. Man sollte daraus nur keine Zeremonie machen, keine offizielle Nötigung. Denn wenn schon ein pflichtmäßiger Dank mich unmutig machen kann, wie viel mehr ein pflichtmäßiger Wunsch! Wo man überzeugt sein kann, daß die Seelen gegenseitig innigst zusammenstimmen, da wird der in Worte gefaßte Wunsch zu einer Höflichkeit. Und Höflichkeit geziemt sich für die Gesellschaft, aber nicht für verschlungene Seelen.

Erspart es mir deshalb, die gewöhnliche Formel von Gesundheit, Glück usw. in einer mehr oder weniger neuen Weise auszusprechen. Daß wir uns lieb haben, sehr lieb haben, meine liebe Mama und Lisbeth, das muß uns genügen. Sagt das auch den lieben Tanten. Es ist mir unmöglich zu schreiben.

Nun erzähle ich Euch, was ich erlebt habe. Eigentlich wenig. Ich bin sehr viel zu Hause gewesen und habe mich am Manfred erfreut. Am dritten Feiertag war ich in der Oper und hörte den Freischütz, der mir im ganzen, ebenso wie der Oberen, mißfiel. Die Höllenschluchtszene machte auf mich einen lächerlichen Eindruck. Gestern besuchte ich Doktor Deiters, der mir viel Schumann vorspielte. Zum Neujahr werde ich, Gott sei Dank, nur eine Visite zu machen haben, zu Prof. Schaarschmidts. Die Silvesternacht werde ich zu Hause verleben, wenn anders mich meine Zahnschmerzen nicht verlassen. Diese sind aber gegenwärtig so stark, daß ich während des Schreibens alle Augenblicke haltmachen muß und nur mit der größten Mühe Euch nicht meine Verstimmtheit zeige. Das Zahnfleisch rechts an den letzten Zähnen ist entzündet, und irgendein Zahn hohl, so daß der Nerv inkommodiert wird. Oder ich bekomme dahinten einen Weisheitszahn. Es wird auch nachgerade Zeit.

Abends ist jetzt gewöhnlich einer meiner Bekannten bei mir zum Besuch. Die schöne Stolle ist leider schon aufgegessen. Wie habt Ihr denn Euer Weihnachten verlebt? Ich erwarte sehnlichst den ersten Brief, mit dem, wie ich hoffe, zugleich das Geld für das nächste Quartal ankommt. Das erste Quartal hat mir in summa 130 Tl. gekostet. Davon fällt nun freilich eine stattliche Portion für die nächsten Vierteljähre[948] fort, da die Gelder für Immatrikulation, Kollegien usw. bedeutend sind. Aber Du siehst, liebe Mama, daß ich mich in Bonn noch mehr einschränken muß. Länger als ein Jahr kann ich es des Geldpunktes halber hier nicht aushalten. Ich bin entschlossen, nachher nach Halle zu gehen und dort zu dienen. Mach Dir nur ja keine Sorgen, ich muß durchkommen. Über Geldsachen schreibe ich nur an den Onkel Bernhard. Aber ich wollte Dir nach dem ersten Quartale doch Nachricht geben. Ich führe übrigens genaue Rechnungen. Der durchschnittliche Wechsel in Bonn ist 500-600. Das ist nun alles nicht sehr schön, nicht wahr? Aber ich hätte schon einen besseren Schluß des Briefes machen können, wenn nur die Zahnschmerzen nicht wären. Das schöne Tuch behagt meinem Halse wohl, ebenso die Hosenträger meinem Buckel!

Euer Fritz

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 947-949.
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Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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