100.
An Richard Wagner (Entwurf)

[1122] [Basel, Juli 1876]


Hier, geliebtester Meister, ist eine Art von Bayreuther Festpredigt. Ich habe den Mund nicht halten können und mehreres heraussagen müssen. Denen, welche sich jetzt freuen, werde ich die Freude gewiß vermehrt haben – das ist heute mein Stolz und mein Vertrauen. Wie Sie selber diese Bekenntnisse aufnehmen werden, kann ich diesmal gar nicht erraten.

Meine Schriftstellerei bringt für mich die unangenehme Folge mit sich, daß jedesmal, wenn ich eine Schrift veröffentlicht habe, irgend etwas in meinen persönlichen Verhältnissen in Frage gestellt wird und erst wieder, mit einem Aufwand von Humanität, eingerenkt werden muß. Inwiefern ich dies heute ganz besonders empfinde, mag ich gar nicht deutlicher aussprechen. Überlege ich, was ich diesmal gewagt habe, so wird mir hinterdrein schwindlig und befangen zumute und es will mir wie dem Reiter auf dem Bodensee ergehen.

Wenn ich nur um ein weniges anders über Sie dächte, so würde ich diese Schrift nicht veröffentlicht haben. Aber Sie haben mir einmal, in Ihrem allerersten Briefe an mich, etwas vom Glauben an die deutsche Freiheit gesagt: an diesen Glauben wende ich mich heute: wie ich auch nur aus ihm den Mut finden konnte, das zu tun, was ich getan habe.

Mit ganzem, vollen Herzen Ihnen zugehörig

Fr. N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1122.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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