114.
An Paul Deussen

[1138] [Rosenlauibad, Anfang August 1877]


Lieber Freund, wie spät bekommst Du den Dank für das Geschenk Deines Buches! Aber meine Reisen und indirekt also das, was diese Unbeständigkeit des Aufenthaltes nötig machte, meine Gesundheit – denn ich bin seit Oktober vorigen Jahres nicht mehr in Basel, sondern überall (namentlich in Süditalien und Hochalpen) gewesen: diese angegebenen Umstände ließen Dein Werk erst spät in meine Hände gelangen. Im Herbst will ich das Experiment machen, meine Baseler Stellung wieder wie früher einzunehmen; viel Vertrauen hab ich nicht. Viel Schmerzen (infolge einer chronisch gewordenen Kopfneuralgie) waren inzwischen mein Los, ihr Ertragen meine Haupttätigkeit.[1138]

Du hast Deine Jahre sehr gut angewendet: strenger Wille des Lernens, erworbene Deutlichkeit und entschiedene Befähigung zur Mitteilung – welche vielleicht im mündlichen Vortrag noch auf einer höhern Stufe stehen mag –: davon redet jede Seite Deines Buches. Allen denen, welchen es nütze ist Schopenhauer kennenzulernen, namentlich aber denen, welche sich selber über ihre Kenntnis desselben kontrollieren wollen, hast Du einen ausgezeichneten Leitfaden in die Hand gegeben; jeder Leser findet außerdem von Dir so manches darin, für das er dankbar sein muß (namentlich aus dem schwer zugänglichen Gebiete der indischen Studien).

Ich, ganz persönlich, beklage eins sehr: daß ich nicht eine Reihe Jahre früher ein solches Buch, wie das Deine, empfangen habe! Um wie viel dankbarer wäre ich Dir da gewesen! So aber, wie nun die menschlichen Gedanken ihren Gang gehen, dient mir seltsamerweise Dein Buch als eine glückliche Ansammlung alles dessen, was ich nicht mehr für wahr halte. Das ist traurig! Und ich will nicht mehr davon sagen, um Dir nicht mit der Differenz unserer Urteile Schmerz zu machen. Schon als ich meine kleine Schrift über Schopenhauer schrieb, hielt ich von allen dogmatischen Punkten fast nichts mehr fest; glaube aber jetzt noch wie damals, daß es einstweilen höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer hindurchzugehen und ihn als Erzieher zu benutzen. Nur glaube ich nicht mehr, daß er zur Schopenhauerschen Philosophie erziehen soll. –

Lebe wohl, lieber Freund, und verzeih meinen Augen, welche mehr zu schreiben verbieten.

Dein F.

Sende ein Exemplar an Dr. Romundt, Gymnasiallehrer in Osnabrück.

An Prof. Dr. Heinze in Leipzig.

Ich bin bis Ende August in Rosenlauibad bei Meiringen, Berner Oberland; von da an: in Basel.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1138-1139.
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