115.
An Malwida von Meysenbug

[1139] Rosenlaui, Sonnabend, 4. August 1877


Liebste muttergleiche Freundin, es geht nicht! Ich habe mich bei meiner Rückkehr nach Rosenlaui sofort für den ganzen August gebunden,[1139] in der Annahme, Sie seien wirklich, wie es Ihr Seelisberger Brief verhieß, wegen des elenden Wetters sofort wieder über die Alpen zurückgegangen. So habe ich denn hier einen Ausnahme-Pensionspreis, viel geringer als alle anderen (denn ich brauche viel weniger, esse immer für mich, nicht table d'hôte: denken Sie, ich habe in meinem Leben nie so opulent gelebt wie in Sorrent). Dann bekommt es mir hier immer besser; wo kann ich aber auch, wie hier, vor dem Frühstück zwei Stunden und vor dem Abendessen zwei Stunden wie hier im Schatten der Berge spazieren gehen! –

Am ersten September beziehe ich meine neue Wohnung in Basel.

Ich entbehre Sie und hätte Ihnen so manches zu sagen.

Dr. Eiser machte mir die Freude, vier Tage mit seiner Frau mich hier zu besuchen; wir sind uns sehr nahe gekommen und überdies: ich habe den besorgtesten Arzt für mich gewonnen, den ich mir nur wünschen kann. Ich stehe jetzt also unter seinem Regime: ziemlich gute Hoffnung! Er ist erfahren, Sohn eines Arztes, selber in den vierziger Jahren, ich gebe viel auf die geborenen Ärzte.

Dann habe ich mit einem Engländer und dessen Familie, Mr. G. Croom Robertson, Neigung um Neigung eingetauscht; es tat mir weh, ihn heute scheiden zu sehen. Er ist Professor im University College London und Herausgeber der besten philosophischen Zeitschrift (nicht nur für England, sondern überhaupt; höchstens Th. Ribots Revue philosophique steht ihr gleich).

Ihm ist gelungen, was Monod in betreff aller französischen Autoritäten der Historie mit seiner Revue gelungen ist: an seiner Zeitschrift »Mind« arbeiten alle philosophischen Größen (Spencer, Tylor, Maine, Darwin usw., usw.). – Er war sehr eingenommen für Rées Buch, will darauf sehr aufmerksam machen und versprach, wenn Rée oder ich nach London käme, eine persönliche Beziehung zu allen den genannten Autoritäten zu vermitteln. Er sprach sehr gut über Wagner und Londoner Konzerte. Beim Abschied habe ich seiner Frau noch Ihre »Memoiren« in einer Weise empfohlen und ans Herz gelegt, daß – usw. Dasselbe habe ich neulich mit zwei polnischen Damen getan, mit denen ich mich innerhalb zweier Wochen förmlich befreundet habe, Mutter und Tochter de Hattowski, der Vater ist russischer General in Tiflis. – In summa: die Menschen sind recht gut mit mir gewesen.[1140]

Prof. Heinze (ord. Prof. der Philosophie) in Leipzig bedauert sehr, daß Rée nicht dort sich habilitiere: er verlange längst nach einer Vertretung dieser Richtung. – Deussens »Elemente der Metaphysik«, ein Leitfaden für Schopenhauer, ist erschienen. Viel Indisches darin.

Über Brenner schreibt P. Gast; ich lege den Brief bei, bitte ihn mir gelegentlich wieder aus.

So! Die Augen tun wieder weh. Ihrer Gesundheit gute Kräftigung von Herzen ersehnend und mit herzlichen Empfehlungen an die Ihrigen

Ihr treuer Friedrich Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1139-1141.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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